Schweitzer Fachinformationen
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Die Nacht war rabenschwarz. Wegen der Ausgangssperre waren die Häuser verdunkelt und die Straßenlaternen erloschen, und das Licht des abnehmenden Mondes vermochte es kaum, die Gehwege der Stadt zu erhellen. Zudem hatte ein leichter Nieselregen eingesetzt, in dessen Tropfen sich hie und da Schneegraupel mischte. Sabine Ozaneaux klappte den Kragen ihres Wollmantels hoch und steckte ihre Hände noch tiefer in die Taschen. Die Turmuhr von Saint-Guillaume schlug acht, und Sabine beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Schwester Martine würde ihr gleich die Leviten lesen, wenn sie zum dritten Mal in dieser Woche zu spät zu ihrer Nachtschicht käme.
Dabei war es dieses Mal nicht einmal ihre Schuld. Ihre Schwester Agathe hatte einen furchtbaren Anfall, kurz bevor Sabine aufbrechen wollte. Maman konnte sie kaum beruhigen. Erst als Sabine sich der Länge nach auf ihre jüngere Schwester legte und dieser besänftigende Worte ins Ohr flüsterte, konnte sie spüren, wie Agathe sich langsam entspannte und kurz darauf einschlief. Agathe war auch der Grund, warum Sabine und ihre Eltern überhaupt in die besetzte Stadt zurückgekehrt waren, denn Agathe war mit der neuen Umgebung nicht klargekommen, und ihre Anfälle hatten sich verschlimmert. Hier, in ihrem Elternhaus, war sie zumindest ruhiger und neigte auch nicht so oft dazu, sich selbst zu verletzen.
Sabine dachte an Albert, und ein warmes Kribbeln breitete sich in ihr aus. Damals, als Straßburg wegen der Boches evakuiert worden war, hatte Albert vorgeschlagen, sie mit nach Paris zu nehmen, wo er sich Arbeit als Koch suchen wollte. Doch Sabine brachte es nicht über sich, Maman und Papa mit der Last von Agathes Betreuung allein zu lassen. Erst recht nicht, seitdem ihre älteste Schwester Gerte ihrem Mann auf sein Weingut in die Provence gefolgt war. Albert hatte das verstanden, hatte sie geheiratet und war trotz seines tief sitzenden Hasses auf die Deutschen wieder mit ihr und der Familie zurückgekehrt. Er arbeitete nun tagsüber in einem Gasthof in der Küche, nachts aber traf er sich von Zeit zu Zeit mit ein paar Männern, die der Résistance angehörten, sodass Sabine nicht wusste, ob sie stolz oder wütend auf ihn sein sollte. Immerhin war Philippe gerade einmal vier Jahre alt, und Albert brachte sie alle mit seinem Engagement gegen die Deutschen in große Gefahr. Trotzdem, sie hatte ihm schon so viele Opfer abverlangt, sie konnte ihn einfach nicht darum bitten, den Treffen in Marcels Keller fernzubleiben.
Sie hatte den Platz vor Saint-Guillaume nun überquert und warf einen schnellen Blick zur schiefen Turmspitze empor, die ihr jedes Mal ein Lächeln entlockte. Der Anker, der den Kirchturm schmückte, verriet, dass Saint-Guillaume die Kirche der Seeleute war, die, wie Sabines Familie, nahe dem Quai des Bateliers im Viertel Petite France lebten und arbeiteten. Auch ihr Vater Robert war einst zur See gefahren, bis er bei einem Schiffsunglück beide Beine verlor. Die ganze Familie war darum auf Sabines und Alberts Geld angewiesen, weshalb Sabine ihre Arbeit als Nachtschwester am Universitätskrankenhaus kurz nach Philippes Geburt wieder aufgenommen hatte, wenngleich es sie jedes Mal zerriss, ihren Kleinen in den Armen ihrer Mutter zurückzulassen, statt ihn selbst in den Schlaf zu wiegen oder ihm schlechte Träume in der Nacht zu verscheuchen.
»He da, wohin um diese Zeit? Wissen Sie nicht, dass Ausgangssperre ist ab acht?«, bellte eine unwirsche Stimme sie an. Sabine schrak zusammen und griff sich automatisch an ihr Herz, das nun im wilden Rhythmus schlug.
»Ich bin Nachtschwester drüben an der Universitätsklinik«, sagte sie mit zittriger Stimme und hasste die harten deutschen Worte, die sie dabei gezwungen war zu sprechen. Dieser Wagner, der Chef der Zivilverwaltung war, hatte nach der Annexion von Elsass-Lothringen allen Bürgern auferlegt, die Sprache ihrer neuen Heimat zu gebrauchen. Was die meisten daheim, in den eigenen vier Wänden, missachteten, egal, ob sie den elsässischen Singsang oder das Französische mit der Muttermilch aufgesogen hatten. Aber draußen mussten sie alle so tun, als seien sie Deutsche, als stünden sie hinter den neuen Machthabern, als verehrten sie diesen Hitler ebenso wie die beiden Boches, die nun mit finsterer Miene aus dem Schatten vor ihr aufgetaucht waren. Sabine angelte nach ihrer Handtasche und sah, wie der eine Soldat kaum merklich nach seinem Gewehr fasste, das er über der Schulter trug. Der andere starrte sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Ich zeige meinen Passierschein«, sagte sie und griff mit schweißfeuchten Fingern nach dem Dokument, das ihr erlaubte, auch nach der Sperrstunde das Haus zu verlassen.
Der Soldat mit dem grimmigen Gesicht riss es ihr aus der Hand und überflog es, bevor er Sabine das Papier wiedergab.
»Beeilen Sie sich, Frau Ozaneaux«, sagte er, ehe er Sabine mit einem Hitlergruß verabschiedete.
Sie grüßte zurück, auch wenn sie jedes Mal das Gefühl hatte, ihr Vaterland zu verraten, wenn sie diese alberne Geste vollführen musste. Sicher, es gab genug Elsässer, die sich eher als Deutsche sahen und die nur allzu gerne den Besatzern Tür und Tor öffneten. Doch Sabine und ihre Familie gehörten nicht dazu. Ihr Vater war in Paris geboren und stolzer Franzose. Nur ihrer Mutter wegen war er ins Elsass gekommen. Sabine sprach zwar ein paar Brocken Deutsch und war des Elsässischen mächtig, aber zu Hause wurde Französisch gesprochen. Um kurz vor halb neun erreichte sie die Klinik.
»Ah, Sabine, ça va?«, begrüßte sie Michel, der an der Pforte des Krankenhauses saß und wie sie französische Wurzeln hatte.
Sabine legte ihren Zeigefinger an die Lippen und sah sich verstohlen um, ob wohl irgendwer gehört hatte, wie ihr Kollege sie empfing, doch außer ihr war niemand unterwegs um diese Zeit.
»Du musst deutsch sprechen, Michel«, sagte sie, milderte ihre kleine Zurechtweisung aber mit einem herzlichen Lächeln ab.
»Isch scheiß auf die Deutsch«, gab Michel zurück und verschränkte die Arme vor seiner breiten Brust.
Sabine schüttelte den Kopf, vermied es aber, ihn noch einmal darauf hinzuweisen, dass ihn eine solche Äußerung teuer zu stehen kommen könnte. Noch im Laufen zog sie den Wollmantel aus und eilte zu den Fahrstühlen, die sie hinauf zur Gynäkologischen Abteilung brachten, wo Martine Baillot sie bereits mit ungeduldigem Blick erwartete.
»Das wurde auch Zeit, hast du auf die Uhr geschaut?«, fragte sie gereizt und klopfte dabei auf die goldene Armbanduhr, die ihr ihr erster Mann Pierre geschenkt hatte, bevor er im Ersten Weltkrieg gefallen war.
»Tut mir leid, Agathe hatte einen Anfall«, sagte Sabine und eilte an Martine vorbei ins Schwesternzimmer, wo sie den Mantel in einen Spind aufhängte und sich ihre Schwesternkluft überzog.
»Dr. Keller sieht Zuspätkommen gar nicht gerne«, tadelte Martine, beließ es dann aber dabei und zog einen Stapel Akten vom Tisch, den sie Sabine übergab.
»Bei Frau Maillard gab es Komplikationen, es haben heute Mittag Blutungen und starke Schmerzen eingesetzt, das Kind wurde per Kaiserschnitt geholt. Ein Junge, doch er ist sehr schwach. Dr. Keller ist sich nicht sicher, ob das Kind die Nacht übersteht. Frau Gruber erholt sich gut, sie kann morgen mit den Zwillingen entlassen werden, und die junge Frau, die gestern Abend mit Wehen kam, hat am Morgen ein hübsches Mädchen entbunden.«
Martine drückte ihr die Akten in den Arm und verschwand dann, um ihre Sachen aus ihrem eigenen Spind zu holen. Sabine ging alle Unterlagen durch und belud anschließend einen der Rolltische mit Medikamenten, Blutdruckmessgerät, Fieberthermometer und Nierenschale. Dann begann sie ihre abendliche Runde.
In Zimmer 212 lag die junge Frau, die gestern bei der Einlieferung ihren richtigen Namen nicht hatte nennen wollen. Sabine schob ihren Wagen an das Bett und betrachtete die frischgebackene Mutter einige Augenblicke lang. Sie war hübsch, wenngleich auf eine aufdringliche Art. Alles an ihr schien etwas zu groß - ihr Mund, ihre Nase, ihre Brüste, die nun auch noch mit Milch gefüllt waren. Trotzdem waren die Augen von einem unglaublichen Grün und standen damit in einem schönen Kontrast zu ihren dunkelbraunen Haaren. Genau diese Augen waren nun auf Sabine gerichtet, als diese leise die Tür zum Krankenzimmer schloss.
»Wie geht es Ihnen heute, Frau Müller?«, fragte sie und stolperte etwas über den Namen, so wie die Frau es gestern getan hatte, als sie unter Wehen von einem jungen deutschen Soldaten in die Klinik gebracht worden war.
»Hure«, hatte ihre Kollegin Sarah geflüstert, für die alle Frauen Huren und Verräterinnen waren, die sich mit den Boches einließen. Da der junge Soldat bar gezahlt und sich dem Personal gegenüber sehr großzügig gezeigt hatte, war niemand auch nur auf die Idee gekommen, die Identität der Frau zu hinterfragen.
»Sie wissen, dass ich nicht so heiße, Schwester«, sagte die Wöchnerin auf Französisch, und Sabine zögerte einen Augenblick, bevor sie mit einem knappen Nicken bejahte.
»Sehen Sie, ich mag ihn wirklich, obwohl er mich niemals heiraten wird. Er ist einer anderen versprochen in Deutschland. Er wird sie heiraten, sobald der Krieg zu Ende ist. Aber er hat mir geschworen, für mich und das Kind zu sorgen. Das ist mehr, als die meisten Männer tun würden.«
Sie schwieg und ließ es zu, dass Sabine ihren Blutdruck und ihre Temperatur maß.
»Ich habe es zu spät bemerkt, sonst hätte ich es nie so weit kommen lassen. Ich war bei der alten Agnes, sie hat mir viel Geld abgeknöpft für einen Kräutertrank, doch der hat nur schlimme Schmerzen gemacht, das...
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