Schweitzer Fachinformationen
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Ich hatte immer Angst vor meinem Großvater, nichts als Angst. Ich kannte ihn nur als Papa Schneider. Wie er sonst hieß oder ob er auch einen Vornamen hatte, wußte ich nicht, und eigentlich war es auch egal, denn mir wäre es nie in den Sinn gekommen, ihn mit seinem Vornamen anzusprechen. Er war kein Mann, den man mit dem Vornamen ansprach.
Papa Schneider hatte kilometerlange Narben im Gesicht, alle auf der linken Wange. Es waren Mensurschmisse aus dem vorigen Jahrhundert, er war in einer schlagenden Verbindung gewesen, einem »Schlägerverein«, wie meine Mutter es nannte. Die stellten sich auf und verteidigten ihre Ehre, indem sie mit Säbeln auf ihre Gesichter einschlugen - ohne eine Miene zu verziehen, den linken Arm auf dem Rücken.
Er hatte schwarzgraues, zurückgekämmtes Haar und hohe Schläfen, und es genügte, ihm in die Augen zu schauen, um ihn herauszufordern: »Sie haben mich fixiert, mein Herr.« Sein Blick ging nur in eine Richtung, stur geradeaus, und ich weiß nicht, ob es überhaupt jemanden gab, der ungeschoren davonkam, wenn er diesem Blick begegnete. Mit Ausnahme von Großmutter. Es war das Großartige an ihr, daß sie Papa Schneider als einzige in die Augen sehen konnte - meine Mutter tat es nicht -, meine Großmutter war seine schwache Stelle, die er vor allen verbarg, der Rest von ihm war hart und undurchdringlich.
Zu Hause bei Mutter und Vater regierte er souverän am Ende des Eßzimmertisches, dort hing sein Bild an der Wand. Es hatte einen Goldrahmen und zeigte eine Lichtung in einer Waldlandschaft. Papa Schneider sitzt mit einem Buch im Gras und schaut vor sich hin, daneben Großmutter mit einem Säugling im Arm, und meine Mutter ist noch jung und hält ihren Jagdhund Bello an der Leine. Das Buch, das Kind und der Hund, so waren die Rollen verteilt - Papa Schneider vertrat Geist und Kultur, die Frau war fürs Gebären zuständig, und Kinder waren eher die Natur und mußten wie Hunde abgerichtet werden.
Wenn wir aßen, saß ich kerzengerade auf meinem Stuhl, beide Hände auf dem Tisch und die Serviette unter dem Kinn, als würde Papa Schneider mit am Tisch sitzen und mich im Auge behalten. Wenn ich etwas falsch machte und eine Kartoffel mit dem Messer zerteilte oder redete, ohne gefragt zu sein, würde er mir mit einer Gabel in die Hand stechen, da war ich sicher.
Papa Schneider war der strengste Mensch, den ich kannte, der Inbegriff von allem, was unnachsichtig und hart war oder weh tat. Er war der oberste Knopf des Hemdes. Er war der Zinken des Kammes, wenn man mit Wasser gekämmt wurde. Er war das aufgeschlagene Knie und die Angst, zu spät zu kommen. Ich nannte ihn nicht beim Vornamen, und es gab auch sonst niemanden, der es tat.
Ich glaube nicht, daß überhaupt irgend jemand wußte oder auch nur darüber nachdachte, wie er hieß. Mein Großvater blieb allein damit, wie mit einem fürchterlichen Geheimnis - und mit dem höchsten Einsatz. Denn würde er eines Tages hören, daß ihn jemand beim Vornamen riefe, wüßte er, wer es wäre. Denn abgesehen von ihm kannte nur einer seinen Vornamen, und das war Gott. Meine Großmutter explodierte während des Krieges in einem Keller voller Waschbenzin. Sie hieß Damaris Dora Renata Matthes und war eine der schönsten Frauen Deutschlands. Schön wie eine griechische Statue, sagte Mutter immer, und die Photographien, die wir uns von ihr anschauten, sahen aus wie Postkarten aus dem Museum. Ihr erster Mann und ihre große Liebe, Heinrich Voll, starb während einer Blinddarmoperation und ließ sie allein mit ihrer Tochter zurück. 1924 war keine günstige Zeit für eine alleinstehende Mutter, und sie hatte es ihrem Aussehen zu verdanken, daß Papa Schneider sie heiratete.
Nun war seine schöne Frau zerfetzt und verbrannt, und was noch von ihr vorhanden war, lebte weiter in der Hölle der Kriegschirurgie. Aus Hautfetzen wurde sie zusammengeflickt und mit Lebertran eingerieben, da der Arzt die wahnwitzige Idee hatte, daß Lebertran die Wundheilung fördere und gut gegen das Austrocknen der Haut sei. Meine Großmutter durchlitt Folterqualen, sie ging ans Elbufer, um sich vor Schmerz zu ertränken, und immer wieder schrie sie: »Mein Gott, warum läßt du mich nicht sterben?« Zweimal versuchte sie, Selbstmord zu begehen und diesen Rest, der noch von ihr übrig war, umzubringen, doch es war ihm nicht beizukommen, und schließlich hängte sie sich einen Schleier vors Gesicht, nahm Schmerzen und Scham auf sich und setzte ihr Leben als ein zerstörtes Ding fort.
Ich habe mich nie darüber gewundert, wie Großmutter aussah, weil ich sie nie mit anderen Großmüttern verglich. Im Gegenteil, ich verglich die anderen mit ihr - und fand, daß sie mit ihren großen Ohren und großen Nasen merkwürdig aussahen. Wenn Mutter und Vater mich ins Museum mitnahmen oder wir mit der Klasse einen Ausflug in die Glyptothek machten, sah ich meine Großmutter auf den Podesten stehen, ohne Nase, ohne Ohren, ohne Hände, ohne Beine. Für mich war sie die klassische Schönheit, und genau wie bei den Statuen war ihr Gesicht erstarrt in einem lippenlosen Lächeln.
Großmutter kamen schnell die Tränen, sie weinte, wenn wir sie besuchten, und sie weinte und winkte mit ihrem Taschentuch, wenn wir mit dem Auto wieder davonfuhren; und jedesmal, wenn sie von etwas ergriffen wurde, von Feiertagen oder sentimentalen Filmen, liefen ihr die Tränen, und sie sagte: »Ich bin so gerührt.« Im Sommer saßen wir in unserem Garten, und ich las ihr Eichendorff und Keyserling vor oder Robert Walser, romantische Bücher. »Ach, wie schön«, sagte sie, wenn die Geschichte zu Ende war und ihr die Tränen über die Wangen liefen. Ich habe meine Großmutter geliebt und empfand eine grenzenlose Zärtlichkeit für sie, ich hätte ihr die Sterne vom Himmel geholt, wenn ich gekonnt hätte, und eines Tages tat ich es auch.
Ich bin fünfzehn Kilometer bis zum Moor im Wald von Hannenov mit dem Fahrrad gefahren, zwischen den Bäumen begann es bereits dunkel zu werden. Das Wasser war schwarz und unheimlich, und dann, ganz plötzlich, konnte ich sie im Gebüsch sehen: Glühwürmchen! Ich nahm sie mit nach Hause, und als alles vorbereitet war, sagte ich zu Großmutter, sie solle ans Fenster kommen und in den Garten schauen. Die Glühwürmchen leuchteten in der Dunkelheit, wie Sterne funkelten sie auf dem Rasen und bildeten ein Sternbild, Orion. Lange standen wir da und sahen es uns an, die Glühwürmchen krochen weiter, und das Sternbild löste sich langsam auf, es wurde schwächer und verschwand. Ich schaute Großmutter an und wartete gespannt, denn das Schönste, was ich kannte, war sie sagen zu hören: »Ich bin so gerührt.« Es war typisch für den Optimismus meines dänischen Großvaters, daß er eine Buslinie in einer Stadt eröffnete, die dafür zu klein war, noch dazu in einer Zeit, in der die Leute kein Geld hatten. Und so dauerte es nicht lange, bis das Interesse an dieser neuen Errungenschaft verschwand und der Bus leer blieb. Er verlegte die Haltestellen, stellte zusätzliche Schilder auf, änderte die Fahrzeiten und senkte den Fahrpreis, doch es half alles nichts. Es ging stetig bergab, und jeden Morgen stand mein Großvater auf und erlebte die Demütigung, sich mit der Mütze auf dem Kopf hinters Steuer setzen zu müssen und ohne einen einzigen Passagier in der Stadt umherzufahren.
Mein Großvater war nur schwer unterzukriegen, doch statt aus seinen Fehlern zu lernen, wollte er seinen Einsatz retten, indem er ihn verdoppelte. Es konnte überhaupt keine Rede davon sein, das Geschäft zu schließen, im Gegenteil, jetzt mußte gehandelt werden. Er erweiterte den Fuhrpark und den Fahrplan - die Fahrstrecke war nun nicht mehr viel zu kurz, sie war ganz einfach zu lang, und vor allem lag die letzte Haltestelle in einem Ort, in den niemand wollte: Marielyst.
Es war das Las Vegas meines Großvaters, nur war er der einzige, der daran glaubte, daß Marielyst zu einem neuen Skagen, zu einem Kur- und Urlaubsort werden würde - die Gäste würden herbeiströmen, aus Kopenhagen, aus Deutschland, und alle müßten doch transportiert werden, wartet's nur ab! Doch dort gab es nichts als bankrotte Höfe mit sandigen Feldern, zugige Deiche und einen einsamen Badesteg an einer Pension, die den größten Teil des Jahres leerstand - mein Großvater eröffnete seine große Buslinie ins Nichts.
»Heute kommen sie«, sagte er, legte den Gang ein und fuhr nach Marielyst; und wenn er abends nach Hause kam, ohne einen einzigen Fahrschein verkauft zu haben, sagte er: »Morgen.« Beim Abendessen redete er sich den Kopf heiß und schwadronierte über die Schönheit der Natur, versprach das Blaue vom Himmel und Badegäste, die im Ausland nur darauf warteten, doch aus dem »Heute« wurde ein »in diesem Jahr«, und aus dem »Morgen« »nächstes oder übernächstes Jahr«, und je weniger auf den Tisch kam, desto mehr redete er.
Hin und wieder gab es Lichtblicke, und Großvater sah an einer Haltestelle auf der Landstraße Leute stehen, dann trat er aufs Gaspedal, doch sobald er ankam, hatte es sich erledigt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er zum ersten Mal die Türen öffnete und seine Mütze bei der Frage »Einzel- oder Rückfahrschein?« zog - und sie feixten und reichten ihm ein paar Kisten mit Hühnern und sagten »Einzel«. In den Dörfern und auf den Höfen an der Strecke wurde es - vor allem für die Kinder - zu einem kostenlosen Vergnügen, sich an den Haltestellen aufzustellen und den Bus anzuhalten. Sie wollten nie irgendwohin.
Schließlich hielt Großvater nicht mehr an und fuhr nur noch aus Gewohnheit hin und zurück, nur um sich irgendwie zu beschäftigen; und abends setzte er sich dann an den...
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