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Tramonti, Januar 1960
Raffaele saß in einer eiskalten Januarnacht vor seinem Haus. Er fror erbärmlich, die Nacht war so klar wie ein Diamant. Die Sterne funkelten am pechschwarzen Himmel und wirkten bei der Kälte irgendwie fehl am Platz und zu warm, zu hell, hier weit außerhalb der Ortschaft Tramonti.
Der Holzstuhl mit der geflochtenen Sitzfläche war viel zu klein für ihn. Bilder von seiner Tochter Ida, die als winziges Mädchen immer darauf gesessen hatte, kamen ihm ungebeten in den Sinn. Er wischte sie weg, alle. Dann stand er auf, packte den Stuhl und trat so lange dagegen, bis das alte Holz nachgab, zersplitterte, sich löste und der Stuhl in seine Bestandteile zerfiel. Raffaele hoffte auf eine Form der Erleichterung. Doch er fühlte sich weder zufrieden noch besonders berührt. Nur seine Wut schwoll weiter an.
Maria Grazia, seine Frau, kam an die Haustür, blickte auf das zertrümmerte Holz, dann auf ihn. Sie trug ein weißes Nachthemd. Ihr Haar war offen. Sein erster Gedanke war, dass sie aussah wie ein verdammter Geist. Er spuckte auf den Boden. Sein zweiter Gedanke war, dass sie kein Geist, sondern eher so etwas wie ein Schatten war: Sie war immer da, still, irgendwie abwartend und manchmal kaum zu fassen. Sie war so unnötig!
Nun, wenn er ehrlich war, dann stimmte das nicht in allen Bereichen. Wenigstens kochte und putzte sie und war so etwas wie ein Zuhause für ihn. Ohne sie würde er verwahrlosen, das war ihm klar. Im Bett fasste er jedoch schon lange nicht mehr nach ihrem Körper. Wen konnte ein Akt mit einem verfluchten Schatten schon befriedigen? Ihn jedenfalls nicht. Zum Glück gab es zwei, drei Frauen im Ort, die ihm gegen ein paar Lire richtiges Vergnügen bereiteten. Weil sie ihre Familie ernähren mussten, wie sie sagten. Er glaubte eher, dass sie Spaß an der Sache hatten.
Überrascht merkte Raffaele, dass er sich entspannte. Er fuhr sich mit seiner rauen Hand über die Wange, den Mund, dessen Winkel nach oben zeigten. Er mochte es nicht, wie er sich anfühlte. Er war alt geworden. Ein Nachttier rief aus dem Wald. Es klang, als wollte es Raffaele verhöhnen.
»Zeig dich, du Bastard. Komm her, dann wird dir das Lachen schon vergehen!«, rief er und lehnte sich an die Hauswand. Er war müde. Müde und so, so wütend. Auf die ganze Welt, vor allem aber auf sich selbst. Und er wusste nicht einmal, warum.
Emilia kam, als Raffaele schon fast nicht mehr mit ihr gerechnet hatte. Emilia, die Hebamme . Sie hatte geholfen, seine Tochter Ida auf die Welt zu bringen. In einer ähnlichen Nacht, vor sechsundzwanzig Jahren. Genau bei dieser Geburt hatte das Unglück seinen Lauf genommen, dieses Gefühl hatte er oft. Raffaele hatte Emilia damals nicht gemocht, und jetzt mochte er sie noch viel weniger. Er hasste es, wie sich ihr langer, schwarzer Rock bei jedem ihrer schweren Schritte anhörte. Dieses Rascheln verursachte ihm eine Gänsehaut. Und keine angenehme. Er hasste es, dass Emilia ihm mitten ins Gesicht blickte und nie, nie, nie vor ihm kuschte. Er konnte es nicht leiden, dass sie nicht zu altern schien. Sie sah, verdammt nochmal, haargenau so aus wie bei Idas Geburt. Keine einzige Falte. Er hasste Emilia, weil sie ihm eine Heidenangst einjagte - das war die Wahrheit. Sie hatte das Schicksal so vieler in ihren Händen gehalten. Sprichwörtlich. Sie hatte irgendwelche Mächte oder verborgene Kräfte, dessen war Raffaele sich sicher. Wahrscheinlich war sie eine Janara, eine Hexe. Oder die direkte Nachfahrin einer solchen. Böse war sie nicht, das nicht. Aber Raffaele war sich ziemlich sicher, dass sie es sein konnte, wenn es darauf ankam. Und nun legte auch er sein Schicksal in ihre Hände. Oder vielleicht hatte das Schicksal ihn in ihre Hände gelegt. Raffaele spuckte wieder auf den Boden. Er hasste es, so kompliziert zu denken.
»Bist du bereit?«, fragte sie ihn geradeheraus und leuchtete ihm mit ihrer Öllampe mitten ins Gesicht, sodass er blinzeln musste.
Er hatte große Lust, ihre Öllampe zu packen und sie ihr über den Schädel zu ziehen. Doch ihr Blick . heilige Muttergottes . dieser Blick aus ihren grauen Augen ließ ihn nur nicken. Sie schien bis in seine Seele schauen zu können. So tief, bis ihr Blick auf den Grund stieß und Dinge sah, von denen selbst Raffaele keine Ahnung mehr zu haben glaubte. Er überlegte in Panik, dass er sie fortschicken musste. Dass er alles absagen musste. Doch sie griff nach seinem Arm und nahm ihn mit. Einfach so. Jeder anderen Person hätte er wahrscheinlich die Hand gebrochen. Bei ihr jedoch wagte er keinen Widerstand. Sie war körperlich imposant, aber das war es nicht, was ihm Angst machte. Er hatte es mit Männern aufgenommen, die doppelt so stark waren wie sie. Emilias Stärke lag eben nicht nur in ihrem Körper, sondern vor allem in ihrem Geist, der Raffaele unbesiegbar erschien. Was für ein Gegensatz zu Maria Grazia, die nur wieder stumm durch den Türspalt lugte, obwohl sie wusste, aus welchem Grund die Hebamme hier war.
So oder so - er verabscheute sie beide.
Sie gingen durch die Nacht. Mit dem Rascheln von Emilias verfluchtem Rock als Hintergrundgeräusch. In eisiger Kälte. Raffaeles Nase lief. Seine Gesichtszüge entglitten ihm, seine Fingerspitzen fühlten sich an, als könnten sie jeden Augenblick abfallen. Das Laufen zog sich stundenlang hin, schien kein Ende zu nehmen. Irgendwann hatte er auch die Orientierung verloren. Sie gelangten zu einer Hütte. Die Hebamme sperrte auf, schob ihn ins Innere. Doch Raffaele hatte genug. Er bereute es, mitgegangen zu sein. Sollten sie doch kommen und ihn holen, diese verdammten Carabinieri, die seit Wochen drohten, ihn einzusperren und den Schlüssel wegzuwerfen, wenn er nicht mit dem Trinken und Randalieren und Schlagen aufhörte. Sie hatten ihn ein paarmal zu oft erwischt, wenn er gerade getrunken hatte. Sie waren bei ihm zu Hause aufgetaucht, als Maria Grazias Lippe aufgeplatzt war. Und der neue Maresciallo, dieser junge, arrogante Schnösel, dem Raffaele liebend gerne die Fresse poliert hätte, hatte klare Ansagen gemacht.
»Ich denke, es ist das Beste, wenn wir dich für ein Jährchen in das Gefängnis in Salerno sperren«, hatte der Maresciallo gesagt, unnahbar in seiner Uniform und mit ernstem Gesicht, auf dem noch nicht einmal Barthaare zu wachsen schienen, das jedoch Entschlossenheit und vielleicht sogar Stärke ausdrückte.
Raffaele hatte geschluckt. Man konnte fast alles mit ihm machen - es berührte ihn nicht. Wahrscheinlich würde er sogar eine Folter überstehen. Aber in einer Zelle eingesperrt zu sein, das ging nicht. In einer Zelle würde er qualvoll verenden. Er war wild, wie ein Tier. Er brauchte die Luft, den Wald, die Freiheit. Nein, in ein Gefängnis wollte er nicht. Nicht für ein Jahr oder sogar noch länger, großer Gott, nein.
»Ich werde mit dem Trinken aufhören«, hatte Raffaele mit fester Stimme behauptet.
»Das glaube ich dir nicht. Das schafft niemand allein.«
Raffaele hatte überlegt, seine Gedanken hatten sich überschlagen, wie ein Sack, der einen Abhang hinunterrollt.
»Ich lasse mir helfen.« Er hatte nicht nachgedacht, hatte einfach gesagt, was ihm in den Sinn gekommen war.
Doch der Maresciallo rieb sich das Kinn. »Von wem?«
»Von meiner Frau?«
Der Maresciallo schüttelte vehement den Kopf. »Damit du noch mehr Gründe findest, die Arme zu verprügeln? Nicht im Traum. Also, da du keinen konkreten Plan zu haben scheinst, bleibt für dich nur der Knast. Ich werde nicht zulassen, dass du hier weiterhin gewalttätig bist. Wenn du deine Frau nicht schützt, werde ich es tun.«
Dann war Emilia vorbeigekommen, rein zufällig. Oder eben nicht.
»Sie kann mich vom Trinken abhalten!«, hatte Raffaele gerufen und auf sie gezeigt.
Emilia und der Maresciallo hatten sich nach einem kurzen, eindringlichen Gespräch auf eine Auszeit in einer Hütte mitten im Nirgendwo als Lösung geeinigt, Letzterer mit der Drohung, Raffaeles Fortschritte zu verfolgen.
Und hier war Raffaele nun. Doch er hatte nicht vor zu bleiben, Himmel, nein!
»Geh mir aus dem Weg!«, bellte er Emilia an, die seine Absicht zu fliehen sofort durchschaute und sich vor den Ausgang stellte. Mächtig. Furchteinflößend.
Sie sagte nichts, atmete nur, abwartend und vorbereitet auf einen möglichen Angriff. Ihm war klar, dass sie das nicht nur tat, weil sie es dem Maresciallo versprochen hatte. Es war ein Armdrücken zwischen ihr und Raffaele, und sie hatte ganz einfach mehr Kraft. Also setzte Raffaele sich an den kleinen Holztisch, der mitten im einzigen Raum der Hütte stand. Dann würde er eben später gehen, sobald Emilia fort war.
Doch die Hebamme setzte sich auch, direkt neben ihn. Sie sah nicht so aus, als wäre sie in Eile.
»Wieso hast du überhaupt angefangen mit dem Trinken?«, fragte Emilia so beiläufig, als hätten sie sich hier nur zum Plausch getroffen, als wäre es nicht mitten in der Nacht. Als wäre er nicht hier, um eben damit aufzuhören, sich mit Alkohol selbst zu vergiften und all denjenigen das Leben zur Hölle zu machen, die es wagten, sich ihm in den Weg zu stellen.
Auf Emilias Frage wollte Raffaele nicht antworten, weil es nichts zur Sache tat. Manchmal lief es einfach so im Leben. Irgendein Erwachsener hatte ihm wohl als Halbwüchsigem ein Glas in die Hand gedrückt, und Raffaele hatte sich in das warme Gefühl im Magen verliebt. In die Leichtigkeit seiner Gedanken, die durch den Alkohol die Konturen verloren.
Er blickte sich um. Im schwachen Schein der Öllampe sah er alles nur schemenhaft. Es schien aber ein hübsches Häuschen zu sein. Die Hütte sah nicht aus...
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