Schweitzer Fachinformationen
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Der September zieht sich hin, in den Geschäften gibt es immer noch fast nichts zu kaufen, immer noch gelten die Lebensmittelkarten. Der Unterricht hätte am 1. Oktober beginnen sollen, das wäre die Regel, aber das Ministerium verschiebt den Start um zwei Wochen. Das erste Schuljahr ohne Krieg kommt mühsam in Gang.
Gilla verlässt das Haus nur, um etwas zu essen zu kaufen. Sie studiert die neuen ministerialen Lehrpläne für die Grundschule des befreiten Italiens und macht sich Notizen in ihr Heft, während sie ein Stück Brot knabbert oder eine halbe Tasse Milch hinunterkippt. Sie deckt den Tisch nicht wie früher, als sie das Dachgeschoss noch mit den Eltern teilte, nie isst sie richtig zu Mittag oder zu Abend. Die meiste Zeit verbringt sie allein, ihre einzige Gesellschaft sind die Stimmen in ihrem Kopf, die Stimmen derjenigen, die sie verloren hat oder die weit weg sind, oder Stimmen aus dem Radio, aber nicht so oft, weil sie vor allem Musik hört. Selten trifft sie ihre Freundin Rosa Maria, die nach dem Krieg außerhalb eine Stelle als Weberin in einer Fabrik gefunden hat und fast nie zu Hause ist. In jedem Fall sind es kurze Begegnungen, eine flüchtige halbe Stunde, in der vor allem Rosa Maria spricht, doch Gilla ist es recht, denn sie fühlt, dass sie keine langen, intimen Gespräche aushalten könnte. Sie hat auch keine Lust, in den Zug zu steigen, nach Genua zu fahren und den Tag mit ihrer Familie zu verbringen. Nur abends, wenn sie am Modell des Sonnensystems arbeitet, wird ihr leicht ums Herz, doch schon bald drängt eine unüberwindliche Müdigkeit sie ins Bett, und in der Nacht hat sie beängstigende Träume. Ein Souterrain voller Kinder, dann voller Verwundeter, Michele, der ihr mit einer Spritze in der Hand entgegenkommt, und sie wacht auf. Berge von Schutt, Staub, Gestank, gellende Stimmen unter den Trümmerhaufen, und sie wacht auf. Ein Wald, dunkel wie in der Nacht, obwohl es Tag ist, sie hinkt bergauf, weiß, dass sie spät dran ist, schaut auf die Uhr an ihrem Handgelenk, es ist eine Männeruhr, sie steht, sie gehört Michele. »Wirf sie weg, Gilla«, sagt ihr Vater, und sie wacht auf, und es fällt ihr schwer, wieder einzuschlafen.
Als sie am Morgen des ersten Schultags steif vor Kälte aufsteht, ist es noch dunkel. Der Herbst schreitet ohne Erbarmen voran. Sie denkt nicht an die rötliche Maserung der Rebstöcke, an die Explosion von Gelb und Orange der Kakis in den Höfen, an den fleischigen Geruch von umgegrabener Erde und auch nicht an den süßen, intensiven Duft nach Rauch und gerösteten Kastanien. Solche Sachen nimmt sie nicht mehr wahr, als hätte sie die Fähigkeit dazu verloren. Die Energie. Es kostet sie schon so viel Kraft, die quälenden Bilder zu bekämpfen, die sie nachts heimsuchen.
Aber jetzt los! Morgenrock, Ofen, die Scheite anfachen. Die Toilette im Treppenhaus. Das Wasser anwärmen. Sich Gesicht, Hals, Ohren und Achseln waschen. Frühstück mit der übrigen Milch vom Vorabend, den Blick fest auf das kleine Modell des Sonnensystems gerichtet, das gut die Hälfte des Tisches einnimmt. Rundherum Beilagscheiben, Schrauben, Klebstoff, eine Rolle Draht. Eine Riesenunordnung, aber was macht das schon, wenn sie hier allein lebt? Sie ist niemandem Rechenschaft schuldig. Der letzte Schluck Milch. Nicht innehalten, nicht zögern. Die Tasse abspülen. Den Behälter des Eisens mit Glut füllen, auf der freien Seite des Tisches die Bluse bügeln, dann das graue Kostüm ausbürsten, die Schuhe polieren. Die Tasche packen mit dem, was sie in den letzten Tagen in der Gegend auf?treiben konnte. Sieben Bleistifte, ein Bündel Löschpapier, eine fast volle Schachtel Kreiden, fünf Hefte von der Fürsorge, mit schwarzem Einband und rotem Farbschnitt.
Auf?treiben: Sie hat den Eindruck, nichts anderes getan zu haben, seit sie vor beinahe drei Jahren in Borgo di Dentro angekommen ist, mit den Eltern evakuiert. Reis, Butter, Käse, Tütchen mit echtem Kaffee. Sie versteckte die paar Lebensmittel im Korb ihres Fahrrads unter einem Stapel Bücher. Wenn die Wehrmachtssoldaten beschlossen, sie zu kontrollieren, dachten sie, Gilla wäre auf dem Schwarzmarkt tätig. Sie lachten, beschlagnahmten die Sachen und schauten nicht zwischen den Seiten nach. An chiffrierte Botschaften dachten sie nicht. Dummköpfe! Zum Heulen, das gute Essen herzugeben, das die in den Bergen rund um den Ort versteckten Partisanen so dringend gebraucht hätten. Aber auch zum Lachen, dass die Soldaten so blöd waren. Manchmal reichte es schon, ein Knie zu entblößen. Solche Idioten. Einen Knopf aufzumachen, zuzulassen, dass sich der Rock hob. Aber schade um Reis und Butter, die nicht leicht aufzutreiben waren. Es fehlte an allem.
Wie jetzt, denkt Gilla. Sie schnauft hörbar und stellt die Tasche neben die Schuhe. Legt noch vier Taschentücher und einen Apfel dazu. Wer nie in einer Grundschulklasse war, kann sich nicht vorstellen, welche Wunder ein Apfel im rechten Augenblick wirken kann. Sie hört die Glocken. Eilig knöpft sie den Mantel zu und greift nach der Tasche. Blick zum Spiegelbild in der Vitrine. Hochgesteckte Haare, ernstes Gesicht. Sie erkennt sich nicht wieder. Logisch, denkt sie.
Sie kommt zu früh. Geht in das der 5D zugewiesene Klassenzimmer, stellt die Tasche auf das Podest neben das Pult und hängt ihren Mantel an einen Nagel in der Wand dahinter, leer bis auf das Kruzifix. Keine Landkarte, kein Bild des Königs.
Sie sieht sich um. Auch die anderen Wände sind kahl. Durch die großen Fenster überschwemmt das frühe Licht nicht vergipste Risse, mit der Messerspitze eingeritzte Zeichen, schwer zu deutende Flecken. Wein? Oder Schlimmeres? Wer hier frisch gestrichen hat, war nicht besonders sorgfältig. Oder die Mittel waren unzulänglich. Sie fasst an die Heizkörper. Kalt. Sie überprüft, ob die Tafel sauber ist, die Kreiden und der Schwamm ordentlich bereitliegen. Es ist wichtig, die Pannen vorherzusehen, die Überraschungen gering zu halten.
Sie geht zwischen den Bänken hindurch. Zwölf unförmige Dinger aus glänzendem Holz, schwarze Ablagen zum Aufklappen. Schwierig, sich hinzusetzen, kompliziert, sich zu bewegen, sich nach hinten oder zur Seite zu drehen, aufzustehen. Käfig-Bänke, Bänke wie Rettungsboote auf stürmischen Ozeanen. Sie zählt die Sitzplätze und vergleicht sie mit den dreiundzwanzig Namen im Register. Jede Bank hat zwei Plätze, ein Platz ist übrig. Jemand wird auf hoher See allein bleiben. Wachsen bedeutet schließlich auch, sich selbst zu genügen. Jede Ablage hat in der Mitte ein Loch. In jedem Loch ein Tintenfass. Mit Tinte. Gut, denkt die Lehrerin Gilla. Jedes mögliche Hindernis vorhersehen. Estote parati, seid bereit.
Auch wenn es nicht stimmt, betrachtet sie diesen als ihren ersten Tag als Lehrerin. Unterrichten heißt nicht erklären, diktieren, korrigieren, Nasen putzen, Verletzungen verarzten, Chöre dirigieren, Knoten entwirren, ausschimpfen, bestrafen. Unterrichten heißt, all das jeden Tag tun, denkt die Lehrerin Gilla. Die in den ersten Kriegsjahren in Genua gemachte Erfahrung zählt sie nicht mit, weil es ihrer Ansicht nach keine richtige Schule war. Improvisierter Unterricht, wackelige Stundenpläne, mehr ausgefallene als reguläre Schultage. Angstverzerrte Gesichter, geweitete Augen wegen der nächtlichen Bombenangriffe, Kleine wie Große zum Umfallen müde. Jungen und Mädchen, die von einem Tag zum andern spurlos verschwanden. Andere, die schmächtig und erschrocken erschienen, um Prüfungen abzulegen, die nur noch eine Formalität darstellten. Ausreichend. Bestanden. Die Schülerin zeigt . Auch wenn die Schülerin, hungrig und ohne die geringste Ahnung, bloß zeigte, dass sie anwesend war.
Jetzt dagegen beginnt die richtige Schule, denkt die Lehrerin Gilla. Dreiundzwanzig kleine Mädchen, die sie nicht kennt. Sie kehrt zum Pult zurück. Ihre Schritte hallen im leeren Raum. Sie zieht ihr Heft aus der Tasche. Überfliegt die Notizen. Sechs, die die Klasse wiederholen. Drei kommen aus der Altstadt, essen in der Schule zu Mittag, bekommen nachmittags im Hort einen Imbiss, Frühstück und Abendessen weiß man nicht. Vier wohnen in der Neustadt. Die, vermutet die Lehrerin Gilla, haben makellose Hefte, ordentliche Bücher, eine elegante Schrift und Zöpfe mit Schleifen. Zwölf stammen aus der Peripherie, also vom Land. Drei sind Halbwaisen von Mutterseite, sechs von Vaterseite. Zwei sind brustkrank. Über vier konnte der Direktor keine Auskunft geben. Müsste sie wetten, wer in der Bank allein bleibt, würde die Lehrerin Gilla auf ein Mädchen vom Land tippen.
Das Pult hat zwei Schubladen. Sie öffnet die erste. Leer. Sie legt die Kreiden, die Hefte und den Apfel hinein. Die Minuten eilen dahin, das Herz beschleunigt: Der erste Tag ist ein großer Schrecken. Sie stellt sich die in einer Reihe stehenden Schülerinnen vor. Schwarzer Schulkittel, weißer Kragen, blaue Schleife. Ein unbekanntes, unvorhersehbares Heer, und das Schuljahr, das heute beginnt, das erste seit Kriegsende, kommt auf sie zu wie ein rasender Zug. Erstes Trimester, Weihnachten, zweites Trimester, Ostern, drittes Trimester, Sommer, Prüfungen, schriftlich, mündlich, Beurteilungen, Grundschulabschlusszeugnisse. Das Übermaß dessen, was alles getan werden muss, nimmt ihr den Atem. Es muss gut gemacht werden. Italienisch, Arithmetik, Geschichte, Erdkunde, Schönschrift, Singen, Religion. Zuschneiden, Nähen, Sticken und Stopfen. Laufen, Geräteturnen, Freiübungen. Sie massiert ihre Augenlider, dann schaut sie in die zweite Schublade. Darin liegt ein zwei Spannen langer Rohrstock, der Griff abgenutzt, die...
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