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Frühling, 1324 v. Chr. Nubische Wüste, Südägypten
Die Hohepriesterin kniete nackt im Sand und wusste, dass die Zeit gekommen war. Die Omen waren deutlich, wurden dringlicher, verwandelten sich in Gewissheit. Im Westen baute sich ein Sandsturm auf, der blaue Himmel dunkelte ein, durchzuckt von Blitzen.
Der Gegner hatte sie fast erreicht.
Zur Vorbereitung hatte Sabah sich am ganzen Leib rasiert, auch die Brauen über den geschminkten Augen. Sie hatte in den beiden Zuflüssen gebadet, die in nördlicher Richtung aus der Wüste kamen und sich an diesem heiligen Ort zu dem mächtigen Strom vereinigten, den die alten Könige der heqa khaseshet Nahal nannten. Sie vergegenwärtigte sich seinen gewundenen Lauf, der an Luxor, Theben und Memphis vorbeiströmte und schließlich jenseits des fruchtbaren Deltas ins große blaue Meer mündete.
Diese Gegend kannte sie nur vom Hörensagen.
Aus den Geschichten über unsere alte Heimat, diesen Ort der grünen Felder und Palmen, das Leben gegliedert von den Überschwemmungen des Nahal .
Aus diesem Land war Sabahs Volk vor über hundert Jahren geflohen, hatte die Zeit der Plagen, des Hungers und des Todes hinter sich gelassen, gejagt von einem längst verstorbenen Pharao. Die meisten anderen Stämme im Delta hatten Zuflucht in der Wüste im Osten gesucht, hatten dort Land erobert und ein eigenes Königreich gegründet - ihr Stamm aber hatte weiter im Süden gelebt, am Fluss in der Nähe des Dorfs Djeba. Im oberägyptischen Distrikt Wetjes-Hor, Thron des Horus.
In jener Zeit der Dunkelheit und des Todes hatte ihr Stamm sich aufgerafft und war flussaufwärts geflohen, bis über die Grenze des ägyptischen Reiches hinaus in die Nubische Wüste. Ihrem Stamm hatten Gelehrte und Schreiber, Priester und Priesterinnen, Bewahrer des großen Wissens angehört. Sie hatten sich in die unbewohnte Weite Nubiens zurückgezogen, um ihr Wissen in den bewegten Zeiten nach den Plagen zu bewahren, als Ägypten von Fremden aus dem Osten besetzt gewesen war, einem wilden Volk mit schnelleren Streitwagen und stärkeren Bronzewaffen, mit denen sie die geschwächten ägyptischen Städte eroberten, wobei kaum ein Pfeil abgefeuert wurde.
Doch die Zeit der Dunkelheit hatte geendet.
Ägypten erstarkte erneut, verjagte die Invasoren, feierte seine zahlreichen Siege mit der Errichtung von Monumenten und breitete sich in alle Richtungen aus.
»Hemet netjer .«, flüsterte hinter ihr Tabor, ihr nubischer Diener.
Vielleicht spürte er ihre Beklommenheit, oder aber er wollte sie an ihre Rolle als hemet netjer erinnern . als Gottesdienerin. »Wir müssen aufbrechen.«
Sie verstand und erhob sich.
Tabor blickte zum Sturm im Westen hinüber, offenbar der Ursprung ihrer Besorgnis, doch Sabah bemerkte eine Rauchfahne genau im Norden, wo am fünften Katarakt des Nahal eine Stadt zerstört wurde, die neueste Eroberung des ägyptischen Heeres. Schon bald würden die Soldaten auch diesen mächtigen Zusammenfluss erreichen.
Zuvor mussten Sabah und die anderen Angehörigen ihres Ordens das verstecken, was sie über hundert Jahre lang bewahrt hatten, ein Wunder wie kein anderes: eine Gabe Gottes, ein Heilmittel, verborgen in einem Fluch.
Während sie beobachteten, wie die Ägypter am Fluss entlang vorrückten und Stadt um Stadt zerstörten, hatten sie tausend Tage lang Vorbereitungen getroffen, darunter rituelle Reinigungen, die sie und ihren Orden zu vollkommenen Gefäßen für den Segen Gottes machen sollten.
Sabah war die Letzte, der die Umwandlung gestattet werden sollte, nachdem sie bereits viele ihrer Brüder und Schwestern auf diesem Weg beaufsichtigt und angeleitet hatte. Wie die anderen hatte sie der Hirse und dem Korn ein Jahr lang entsagt und sich allein von Nüssen, Beeren, Baumrinde und einem Tee aus einem fremdländischen Harz ernährt. Im Lauf der Zeit war ihr Fleisch verschrumpelt, ihre Brüste und Hinterbacken waren teigig geworden und geschrumpft. Obwohl sie noch keine dreißig war, musste sie sich vom kräftigen Tabor stützen und in das Leinengewand helfen lassen.
Als sie sich vom Zusammenfluss entfernten, beobachtete Sabah, wie der Sandsturm sich ihnen unaufhaltsam entgegenwälzte. Blitze zuckten in den wogenden Staubwolken. Sie spürte die Energie, die sich über der Wüste entlud. Sie roch sie in der Luft, spürte sie in den Härchen ihrer Arme. Mit Gottes Hilfe würde der heranwehende Sand ihr Werk unter Dünen vergraben.
Zunächst einmal aber mussten sie die fernen Hügel erreichen.
Sie konzentrierte sich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Gleichzeitig fürchtete sie, sie habe zu lange am Fluss gewartet. Als sie und Tabor an der Schlucht zwischen den Hügeln ankamen, hatte der Sturm sie erreicht und versengte alle unbedeckten Körperflächen mit heißem Sand.
»Beeilung, Herrin«, drängte Tabor und zerrte sie mit sich. Ihre Zehen schleiften nurmehr über den Boden und schrieben dem Sand unentzifferbare Zeichen ein.
Ich darf nicht scheitern .
Dann hatten sie den dunklen Durchgang passiert und eilten durch einen langen, steilen Gang zu dem aus Sandstein geformten Wunder. Fackeln erhellten ihnen den Weg und offenbarten das, was verborgen war, was Künstler und Gelehrte gemeinsam im Verlauf von über siebzig Jahren erschaffen hatten.
Tabor half ihr über den Verhau der großen Steinzähne hinweg und über die beeindruckend detailliert dargestellte Zunge hinüber. Von der vor ihnen liegenden Kammer gingen zwei Gänge aus: Der eine führte durch den Fels in den steinernen Bauch, der andere, von kleinen Graten gegliedert, in den geräumigen Brustkorb.
Diesem Weg folgten sie in großer Eile.
Während Tabor sie leitete, vergegenwärtigte sie sich die unterirdische Anlage im Bauch der Hügel. Sie beherbergte das Innere einer gesichtslosen ruhenden Gestalt, die unter der Erde bestattet war. Die Skulptur hatte keine Außenhülle - denn die Welt war ihre Haut -, doch sämtliche inneren Organe des Menschen waren sorgfältig aus dem Sandstein herausgehauen, angefangen von Leber und Nieren bis zur Blase und dem Gehirn.
Im Innern der Hügel hatte ihr Orden seinen eigenen Steingott erschaffen, der so groß war, dass sie darin wohnen und ihn als Gefäß verwenden konnten für das, was es zu bewahren galt.
Und das steht mir jetzt bevor . mein Körper muss zu einem Tempel für Gottes große Gnade werden.
Tabor geleitete sie zu der Stelle, wo der gefurchte Gang sich in zwei kleinere Tunnel aufteilte, die den Atemwegen in ihrer Brust entsprachen. Er führte sie nach links, und sie musste sich unter der geschwungenen Tunneldecke ducken. Doch es war nicht mehr weit.
Der Fackelschein wurde heller, als der Gang in einen großen Raum mündete, der von steinernen Rippen gestützt wurde, die sich zum dicken Rückgrat emporwölbten. In der Mitte des Raums befand sich ein steinernes Herz, vier Mal so groß wie sie selbst und wirklichkeitsgetreu gearbeitet, mit dicken, sich nach außen hin auffächernden Blutgefäßen.
Sie schaute die nubischen Bediensteten an, die sie kniend erwarteten.
Dann blickte sie zu den Kolonnaden der geschwungenen Steinrippen hinüber. Viele der Zwischenräume hatte man mit Backsteinen versiegelt. Dies waren die Grüfte ihrer Ordensbrüder und -schwestern, die ihr vorausgegangen waren. Sie stellte sich vor, wie sie auf ihren Stühlen saßen, während ihr Körper die Transformation abschloss und sie in Gefäße für Gottes Gnade verwandelte.
Ich bin die Letzte . die auserwählte Dienerin Gottes.
Sie wandte sich zum steinernen Herzen um. Ein kleiner Durchgang führte in eine der beiden Herzkammern, eine besonders ehrenvolle Gruft. Sie ging hinüber, neigte den Kopf und stieg hinein. Als sie sich aufrichtete, spürte sie die Kälte des Steins an ihrer Handfläche. Ein silberner Thron erwartete sie, so kalt wie der Stein. Daneben stand eine Schale aus Lapislazuli, bis zum versilberten Rand mit Wasser gefüllt. Sie hob die Schale hoch und stellte sie auf ihre mageren Schenkel.
Tabor beugte sich durch die Öffnung. Die Trauer machte ihn sprachlos, doch sie konnte in seinem Gesicht lesen und sah darin Kummer, Hoffnung und Angst. Sie verspürte die gleichen Emotionen - einhergehend mit einer gehörigen Portion Zweifel. Trotzdem nickte sie Tabor zu.
»Tu, was getan werden muss.«
Der Schmerz gewann bei ihm die Oberhand, doch er nickte ihr aufmunternd zu und zog sich zurück.
Die anderen Bediensteten traten vor und versiegelten den Eingang mit Backsteinen aus Lehm und Stroh. Dunkelheit hüllte sie ein, doch im letzten Widerschein der Fackeln sah sie auf die Schale auf ihrem Schoß nieder und machte im Wasser einen dunklen Schimmer aus. Es war dunkelrot. Sie wusste, was das war. Dies war Wasser des Nahal, des Flusses, der mit einem Fluch belegt worden war und sich in Blut verwandelt hatte. Ihr Orden hatte das Wasser vor Jahren gesammelt und aufbewahrt - zusammen mit der Prophezeiung, die in seinem verfluchten Herzen wohnte.
Als der letzte Stein eingesetzt war, schluckte sie mühsam. Auf einmal hatte sie einen trockenen Mund. Sie hörte, wie die Backsteine von außen mit Lehm beschmiert wurden. Dann wurde unter dem Herzen Holz gestapelt.
Sie schloss die Augen, denn sie wusste, was ihr bevorstand.
Sie stellte sich vor, wie mit den Fackeln der Scheiterhaufen entzündet wurde.
Allmählich erwärmte sich der Sandstein unter ihren Füßen. Schon vorher war es stickig in der Kammer gewesen, doch nun wurde es unangenehm warm....
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