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7. Juni 1913, bei Seattle
Der Kamm funkelte im Licht des späten Morgens. Er war exquisit: Schildpattgriff mit Perlmuttverzierungen und Zinken, deren heller Glanz auf echtes Gold schließen ließ. Ein wesentlich edleres Stück als der billige Modeschmuck, der sonst so auf dem Tisch der Coiffeurin herumlag.
Dorothy gab vor, einen losen Faden an ihrem Ärmel zu mustern, damit es nicht so aussah, als würde sie starren. Wenn sie den richtigen Käufer dafür fand, konnte sie bestimmt fünfzig für das Ding kriegen.
Ungeduldig rutschte sie auf ihrem Stuhl herum. Falls sie überhaupt noch Zeit hatte, nach dem richtigen Käufer zu suchen. Es war schon nach neun. Heute schien die Uhr nicht auf ihrer Seite zu sein.
Ihr Blick wanderte von dem Kamm zu dem Ganzkörperspiegel, der vor ihr an der Wand lehnte. Durch das Fenster der Kapelle fielen einzelne Sonnenstrahlen auf das Glas und tauchten den Umkleideraum in strahlendes, von Staubflocken umspieltes Licht. Seidenkleider und zarte Bänder flatterten an ihren Bügeln. Leises Donnergrollen drang aus der Ferne heran, was merkwürdig war; in diesem Teil des Landes gab es nur äußerst selten mal einen Sturm.
Was zu den Dingen gehörte, die Dorothy an der Westküste am meisten verabscheute. Hier war es immer grau, doch es gab keine Gewitter.
Die Coiffeurin zögerte, als sie Dorothys Blick im Spiegel einfing. »Wie gefällt es Ihnen, Miss?«
Dorothy drehte prüfend den Kopf hin und her. Ihre braunen Locken waren in einen eleganten, tief angesetzten Dutt gezwungen worden. Zahm sah sie jetzt aus. Was vermutlich der ganze Sinn der Aktion gewesen war.
»Reizend«, log sie. Das Lächeln der alten Frau ließ ihr halbes Gesicht in Falten und Furchen verschwinden. Dorothy hatte nicht damit gerechnet, dass sie sich so über das Kompliment freuen würde. Prompt bekam sie ein schlechtes Gewissen.
Schnell täuschte sie ein Hüsteln vor. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir ein Glas Wasser zu holen?«
»Ganz und gar nicht, meine Liebe, ganz und gar nicht.« Die Coiffeurin legte die Bürste weg und schlurfte ans andere Ende des Raums, wo auf einem kleinen Tisch eine gefüllte Kristallkaraffe stand.
Sobald die Frau ihr den Rücken zugewandt hatte, schob sich Dorothy den goldenen Kamm in den Ärmel. Das Ganze geschah so schnell und mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass ein Zuschauer wohl nur den Schimmer der feinen Perlenknöpfe am Spitzensaum ihres Ärmels wahrgenommen hätte, sonst nichts.
Mit einem verstohlenen Lächeln ließ Dorothy den Arm sinken. Die Schuldgefühle waren vergessen. Natürlich gehörte es sich nicht, so stolz auf sich selbst zu sein, aber sie konnte einfach nicht anders. Sie hatte den Trick perfekt ausgeführt. Was zu erwarten gewesen war, schließlich hatte sie ihn wieder und wieder geübt.
Eine Bodendiele knarrte hinter ihr und eine Stimme fragte: »Könnten Sie uns bitte einen Moment allein lassen, Marie?«
Mit einem Schlag wich das Lächeln aus Dorothys Gesicht, und ihre Muskeln verkrampften, als wären sie mit sich langsam drehenden Stellschrauben verbunden. Die Coiffeurin - Marie - zuckte so heftig zusammen, dass ein wenig Wasser aus dem Glas in ihrer Hand schwappte.
»Oh, Miss Loretta! Verzeihung, ich habe gar nicht gemerkt, dass Sie hereingekommen sind.« Mit einem Lächeln und einem Nicken begrüßte Marie die zierliche, makellos gekleidete Frau, die unbemerkt den Raum betreten hatte. Dorothy biss so krampfhaft die Zähne zusammen, dass ihr Kiefer schmerzte. Der Kamm in ihrem Ärmel schien plötzlich doppelt so groß zu werden.
Loretta trug ein schwarzes, mit feinster goldener Spitze überzogenes Kleid. Es war hoch geschlossen und hatte lange Ärmel; das alles erinnerte an eine äußerst elegante Spinne. Eigentlich war das Kleid eher für eine Beerdigung geeignet, weniger für eine Hochzeit.
Obwohl Loretta höflich lächelte, schien sich die Atmosphäre um sie herum zu verdichten, als wäre sie von einem ganz eigenen Kraftfeld umgeben. Marie stellte das Wasserglas ab und flüchtete in den Flur. Bestimmt war sie zu Tode erschrocken. Die meisten Menschen fürchteten Dorothys Mutter.
Möglichst unauffällig musterte Dorothy die verkrüppelte Hand ihrer Mutter. Sie war viel zu klein geraten, und die verkümmerten, scheinbar nutzlosen Finger krümmten sich wie Klauen. Noch dazu ließ Loretta ihre Nägel stets so lang wachsen, dass die Spitzen sich gelb verfärbten. Fast schien es so, als wollte sie den optischen Eindruck des Verfalls noch verstärken. Als wollte sie, dass die Menschen sich schaudernd von ihrer Missbildung abwandten. Selbst Dorothy tat sich schwer mit dem Anblick dieser kleinen, hässlichen Hand und Loretta war ihre Mutter. Eigentlich sollte sie sich inzwischen an den Anblick gewöhnt haben.
Dorothy legte den Kopf schief und schloss die Augen. Unter all der Spitze und den Rüschen breitete sich Gänsehaut auf ihrem Körper aus; die Nerven. Sie schenkte dem keine Beachtung und setzte ein züchtiges Lächeln auf. Während ihrer sechzehn Jahre auf dieser Welt hatte sie viel Übung darin erlangt, ihre Gefühle zu ignorieren. Eigentlich hatte sie schon beinahe vergessen, wozu sie überhaupt gut waren.
Schönheit wirkt entwaffnend, dachte sie. Das war die erste Lektion ihrer Mutter gewesen. Seit ihrem neunten Lebensjahr war an ihr herumgezerrt und - gezupft worden, war ihr Mieder enger geschnürt, waren ihre Wangen gekniffen worden, bis sie zart gerötet waren.
»Mutter«, hauchte sie nun und tätschelte vorsichtig ihre Frisur. »Sehen meine Haare nicht einfach göttlich aus?«
Unter Lorettas kühlem Blick geriet Dorothys Lächeln ins Wanken. Es war dumm, diese Tricks bei ihrer Mutter anwenden zu wollen, aber im Moment hätte sie alles getan, um einem Streit aus dem Weg zu gehen. Der heutige Tag würde auch so schon schwierig genug werden.
»Sagtest du nicht, du hättest Durst?« Loretta griff mit der gesunden Hand nach dem Wasserglas. Die verkümmerten Finger zitterten leicht. Ein Fremder hätte geglaubt, ihr ginge die Kraft aus. Hätte Hilfe angeboten.
Dorothy wusste es besser. Ohne zu zögern, griff sie nach dem Glas, richtete sich verkrampft auf. Obwohl sie damit gerechnet hatte, spürte sie nicht das Geringste, als die Vogelklauenfinger der verkümmerten Hand ihrer Mutter in ihren Ärmel glitten und den teuren Kamm aus seinem Versteck fischten.
Diese Hand war Lorettas Geheimwaffe: so grotesk, dass die Menschen ihren Anblick kaum aushielten, dabei aber auch so klein und schnell, dass niemand sie bemerkte, wenn sie in Jacketts oder Handtaschen glitt. Was der zweiten Lektion entsprach, die Loretta ihre Tochter gelehrt hatte: Schwäche kann Macht in sich tragen. Die Menschen unterschätzten oft das, was versehrt war.
Loretta warf den Kamm zurück auf den Tisch und zog eine ihrer schmalen Augenbrauen hoch. Gleichzeitig setzte Dorothy eine schockierte Miene auf.
»Wie ist der denn dahin geraten?«, fragte sie verblüfft und nippte an ihrem Wasser.
»Soll ich dich vollständig durchsuchen, um sicherzugehen, dass nicht noch etwas anderes in dein Kleid gekrochen ist?«
Der ausdruckslose Ton ihrer Mutter jagte Dorothy einen kalten Schauer über den Rücken. Sie hatte einen Satz äußerst teurer Dietriche unter dem seidenen Gürtel an ihrer Taille versteckt, im letzten Moment aus der Unterwäscheschublade ihrer Mutter gestohlen, bevor sie zur Kirche aufgebrochen waren. Auf den Kamm konnte sie verzichten, aber diese Dietriche brauchte Dorothy wirklich.
Zum Glück beließ Loretta es bei der leeren Drohung und nahm stattdessen Dorothys Schleier von dem Ständer neben dem Spiegel. Er war lang, hauchzart und mit winzigen Seidenröschen besetzt. Dorothy tat schon den ganzen Morgen angestrengt so, als wäre er nicht da.
»Was denkst du dir nur dabei?«, fuhr Loretta in dem bemüht leisen Tonfall fort, der immer nur dann auftauchte, wenn sie ernsthaft wütend war. »Du wirst in ein paar Minuten heiraten, und dir fällt nichts Besseres ein, als so ein Ding mitgehen zu lassen? Aufstehen.«
Dorothy stand auf. Der Rock ihres Kleides schmiegte sich elegant um ihre Knöchel. Noch hatte sie ihre Schuhe nicht angezogen, weshalb sie sich ein bisschen vorkam wie ein kleines Mädchen, das im Brautkleid seiner Mutter Verkleiden spielte. Ein dummer Gedanke. Ihre Mutter hatte sie niemals spielen lassen.
»Und was hättest du gemacht, wenn dich jemand erwischt hätte?« Loretta legte ihrer Tochter den Schleier über den Kopf und steckte ihn mit heftigen Bewegungen fest.
»Mich hat aber niemand erwischt«, entgegnete Dorothy. Die Haarnadeln bohrten sich schmerzhaft in ihre Kopfhaut, doch sie zuckte nicht einmal. »Ich werde nie erwischt.«
»Ich habe dich erwischt.«
Um sich jeden weiteren Protest zu verkneifen, presste Dorothy die Lippen zusammen. Es war absolut unmöglich, dass ihre Mutter gesehen hatte, wie sie den Kamm nahm. Vermutlich hatte es sie erraten, aber gesehen ganz bestimmt nicht.
»Du setzt alles aufs Spiel, wofür wir gearbeitet haben. Und das nur für albernen Tand.« Loretta zog den Seidengürtel an Dorothys Taille zurecht. Diese spürte, wie sich das Bündel mit den Dietrichen leicht verschob.
Mit diesem »Tand« hätte sie die Zugfahrkarte bezahlen können, die sie hier rausgebracht hätte. Dann wäre sie bereits meilenweit von diesem schrecklichen Ort entfernt gewesen, noch bevor die Zeremonie überhaupt begann.
Dorothy schluckte schwer und schob die...
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