Schweitzer Fachinformationen
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1945
4. Mai, 06:22
Festungsstadt Breslau, Polen
Die Leiche schwamm im stinkenden Wasser, das sich durch die feuchten Abwasserkanäle wälzte. Es handelte sich um einen toten Jungen, aufgebläht und von Ratten angefressen. Schuhe, Unterhose und Hemd hatte man ihm ausgezogen. In der belagerten Stadt ließ man nichts verkommen.
SS-Obergruppenführer Jakob Sporrenberg zwängte sich an dem Leichnam vorbei und rührte dabei die trübe Brühe auf. Abfall und Exkremente. Blut und Galle. Das feuchte Tuch, das er sich vor Nase und Mund gebunden hatte, schützte kaum vor dem Gestank. So also endete der große Krieg. Die Mächtigen mussten durch Abwasserkanäle flüchten. Aber Befehl war Befehl.
Unablässig trommelte die russische Artillerie mit ihrem Ka-wumm auf die Stadt ein. Die Druckwellen der Explosionen spürte er im Bauch. Die Russen hatten die Stadttore eingenommen und bombardierten den Flughafen. In diesem Moment rollten russische Kettenpanzer über das Kopfsteinpflaster, während Transportflugzeuge auf der Kaiserstraße landeten. Die Hauptdurchgangsstraße war mittels zweier paralleler Reihen brennender Ölfässer in eine Landebahn verwandelt worden. Der Qualm stieg in den bereits raucherfüllten Himmel empor und verhinderte, dass es hell wurde. In den Straßen und in den Häusern wurde gekämpft, vom Keller bis zum Dachboden.
Jedes Haus eine Festung.
Das war Gauleiter Hankes letzter Befehl an die Bevölkerung gewesen. Die Stadt sollte so lange wie möglich Widerstand leisten. Die Zukunft des Dritten Reichs hing davon ab.
Und die von Jakob Sporrenberg.
»Beeilt euch!«, drängte er die nachfolgenden Männer.
Die von ihm befehligte Einheit des Sicherheitsdienstes - ein Evakuierungsspezialkommando - stapfte hinter ihm durchs knietiefe Dreckwasser. Vierzehn Männer.
Alle bewaffnet. Alle schwarz uniformiert. Alle mit schweren Rucksäcken ausgestattet. In der Mitte gingen die vier größten Männer, alle ehemalige Dockarbeiter. Sie hatten Tragstangen geschultert, an denen schwere Kisten befestigt waren.
Es gab einen bestimmten Grund, weshalb die Russen diese am Fuße der Sudetengebirge zwischen Deutschland und Polen gelegene Stadt angegriffen hatten. Die Befestigungen von Breslau schützten den Zugang zum Hochland. In den vergangenen zwei Jahren hatten Zwangsarbeiter des Konzentrationslagers Groß-Rosen einen nahe gelegenen Berg ausgehöhlt. Mit bloßen Händen und mit Sprengstoff hatten sie ein Tunnelsystem von hundert Kilometern Länge angelegt, dessen einziger Zweck darin bestand, ein Geheimprojekt vor den Augen der Alliierten zu verbergen.
Das Arbeitslager Riese.
Dennoch waren Gerüchte aufgekommen. Vielleicht hatte einer der Bewohner des Dorfes in der Nähe des Wenceslas-Bergwerks hinter vorgehaltener Hand Mutmaßungen über die Krankheit angestellt, die selbst jene befallen hatte, die sich außerhalb der Anlage aufhielten.
Wenn sie die Forschungen nur hätten abschließen können .
Gleichwohl empfand Jakob Sporrenberg eine gewisse Scheu. Er kannte nicht alle Einzelheiten des Geheimprojekts mit dem Codenamen Chronos. Doch er wusste genug. Er hatte die Leichen derer gesehen, die man Experimenten unterzogen hatte. Er hatte die Schreie gehört.
Abscheu.
Dieses Wort war ihm in den Sinn gekommen und hatte ihm das Blut in den Adern gefrieren lassen.
Es war ihm nicht schwergefallen, die Wissenschaftler zu liquidieren. Er hatte die zweiundsechzig Männer und Frauen nach draußen schaffen lassen und sie mit jeweils zwei Kopfschüssen getötet. Keiner durfte erfahren, was in der Tiefe des Wenceslas-Bergwerks vorgegangen war . oder was man dort entdeckt hatte. Eine Wissenschaftlerin freilich war noch am Leben.
Doktor Tola Hirszfeld.
Sie schlurfte hinter Jakob her, die Hände auf dem Rücken gefesselt, von einem seiner Männer halb mitgeschleift. Sie war eine groß gewachsene Frau Ende zwanzig, mit kleinen Brüsten, aber üppiger Hüfte und wohlgeformten Beinen. Sie hatte glattes, schwarzes Haar, und ihre Haut war aufgrund der langen Zeit, die sie unter der Erde verbracht hatte, so weiß wie Milch. Eigentlich hätte sie mit den anderen zusammen getötet werden sollen, doch ihr Vater, Oberarbeitsleiter Hugo Hirszfeld, der das Projekt beaufsichtigte, hatte endlich sein halbjüdisches Erbe offenbart. Er hatte versucht, die Forschungsakten zu vernichten, war aber von einem der Wachposten erschossen worden, bevor er sein unterirdisches Büro mit einer Brandbombe zerstören konnte. Seine Tochter konnte von Glück sagen, dass wenigstens einer überleben musste, der Einblick in das Projekt Glocke hatte, denn die Arbeit musste weitergeführt werden. Sie war ein Genie genau wie ihr Vater und wusste über seine Forschung besser Bescheid als jeder andere.
Von jetzt an würde man freilich nachhelfen müssen.
Jedes Mal, wenn Jakob sie ansah, funkelte sie ihn an. Der Hass strahlte von ihr aus wie die Hitze von einem offenen Backofen. Aber sie würde kooperieren . genau wie ihr Vater es getan hatte. Jakob wusste mit Juden umzugehen, zumal mit Mischlingen. Das waren die Schlimmsten. Die Teiljuden. Einige hunderttausend Mischlinge leisteten Militärdienst. Jüdische Soldaten. Aufgrund von Ausnahmeregelungen wurden sie verschont und durften dem Reich dienen. Dazu war eine Sondererlaubnis nötig. Solche Mischlinge taten sich als Soldaten zumeist besonders hervor, denn sie mussten beweisen, dass ihre Abstammung keinen Einfluss hatte auf ihre Loyalität.
Jakob aber hatte ihnen noch nie vertraut. Tolas Vater hatte seine Zweifel bestätigt. Sein Sabotageversuch hatte Jakob nicht überrascht. Juden durfte man halt nicht trauen, man musste sie vernichten.
Hugo Hirszfelds Sondergenehmigung war vom Führer persönlich unterzeichnet worden und hatte nicht nur für den Vater und die Tochter gegolten, sondern auch für seine Eltern, die irgendwo in Mitteldeutschland lebten. Sosehr Jakob den Mischlingen misstraute, so groß war das Vertrauen, das er in den Führer setzte. Hitlers Befehle waren eindeutig gewesen: Die für die Fortsetzung der Forschungsarbeit benötigten Geräte sollten aus dem Stollen evakuiert und der Rest zerstört werden.
Das bedeutete, die Tochter zu verschonen.
Und das Kind.
Der Junge war in mehrere Decken eingewickelt, ein jüdischer, erst einen Monat alter Säugling. Um ihn ruhigzustellen, hatten sie ihm ein leichtes Beruhigungsmittel gegeben.
Das Kind war der eigentliche Grund für den Abscheu, den Jakob empfand. Alle Hoffnungen des Dritten Reichs ruhten in diesen kleinen Händen - in den Händen eines Judenkinds. Bei dieser Vorstellung drehte sich ihm der Magen um. Am liebsten hätte er das Kind mit dem Bajonett aufgespießt. Aber er hatte seine Befehle.
Auch Tola beobachtete das Kind. In ihren Augen flammte eine Mischung aus Zorn und Kummer. Tola hatte nicht nur ihren Vater bei seinen Forschungen unterstützt, sondern sich auch um den Säugling gekümmert, ihn in den Schlaf gewiegt und gefüttert. Das Kind war der einzige Grund, weshalb die Frau überhaupt mit ihnen kooperiert hatte. Die Drohung, den Jungen zu töten, hatte Tola bewogen, Jakobs Forderungen nachzugeben.
Über ihnen detonierte eine Granate. Die Druckwelle warf sie alle auf die Knie nieder und löschte die anderen Geräusche in einem gewaltigen Dröhnen aus. Beton barst, Staub rieselte ins stinkende Wasser.
Fluchend richtete Jakob sich wieder auf.
Oskar Henricks, sein Stellvertreter, setzte sich vor ihn und zeigte zu einer Abzweigung des Abwasserkanals.
»Wir nehmen diesen Tunnel, Obergruppenführer. Ein alter Überlaufkanal. Der Übersichtskarte zufolge mündet der Hauptkanal nicht weit von der Kathedraleninsel in den Fluss.«
Jakob nickte. In der Nähe der Insel sollten zwei mit einer weiteren Kommandoeinheit bemannte getarnte Kanonenboote auf sie warten. Bis dorthin war es nicht mehr weit.
Während das russische Bombardement immer heftiger wurde, beschleunigte er das Tempo. Das Bombardement leitete offenbar den entscheidenden Vorstoß des Gegners ein. Die Kapitulation der Stadt war unvermeidlich.
Als Jakob die Abzweigung erreichte, kletterte er aus der stinkenden Brühe auf den Betonsims des Seitentunnels. Bei jedem Schritt machten seine Stiefel glucksende Geräusche. Der widerliche Gestank von Exkrementen und Schlamm wurde vorübergehend unerträglich, als wollte ihn der Abwasserkanal aus seinem Inneren vertreiben.
Der Rest des Kommandos folgte ihm.
Jakob leuchtete mit der Taschenlampe in den Betontunnel hinein. Roch die Luft nicht schon etwas frischer? Er schritt energischer aus als zuvor. Die Rettung war in greifbarer Nähe; sie hatten es fast geschafft. Seine Einheit würde Schlesien halb durchquert haben, bevor die Russen auch nur in das unterirdische Labyrinth des Wenceslas-Stollens vorgedrungen wären. Als Willkommensgruß hatte Jakob in den Gängen des Labortrakts Sprengfallen versteckt. In dem Berg würden die Russen und ihre Verbündeten nichts als den Tod finden.
Frischen Mutes eilte Jakob der frischen Luft entgegen. Der Betontunnel wies ein schwaches Gefälle auf. Das Tempo nahm zu. Ihre Schritte wurden beflügelt von der plötzlichen Stille zwischen den Artilleriesalven. Die Russen griffen mit aller Macht an.
Es würde knapp werden. Die Fluchtroute über den Fluss würde ihnen nicht mehr lange offen stehen.
Als spürte er die Anspannung, begann der Säugling leise zu weinen, ein dünnes Greinen. Die Wirkung des Beruhigungsmittels ließ allmählich nach. Jakob hatte dem Arzt eingeschärft, das...
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