Schweitzer Fachinformationen
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Phoebe Reed schaute ehrfurchtsvoll zum versunkenen Garten Eden hinaus. Hinter den neun Fenstern aus Acrylglas erhellten die Scheinwerfer der Station die ewige Dunkelheit. Sie gaben rotes Licht ab, welches das Meeresleben kaum störte. Phoebe hatte eine lichtverstärkende Brille aufgesetzt, die an die Wellenlänge der Scheinwerfer angepasst war und ihr Sichtfeld erweiterte.
Selbst hier in über 3000 Metern Tiefe wimmelte es von Leben. Riesige Krabben mit roten Beinen kletterten über Korallen und suchten in Vertiefungen nach Nahrung. Geisterhafte weiße Scheibenbäuche glitten über den Sand hinweg. Ein Zigarrenhai - dessen Namen von seiner zylindrischen Form herrührte - schwamm vorbei, dunkel an der Oberseite, biolumineszierend an der Unterseite. Ein größerer Grauhai patrouillierte am Rand des Lichtscheins.
Neben ihr zeigte jemand darauf. »Grauhaie wurden in dieser Tiefe noch nie gesichtet.«
»Tatsächlich, Jazz?«, fragte Phoebe und sah ihre Doktorandin an.
Jasleen Patel bedachte sie mit einem Seitenblick, weil Phoebe an ihrer Expertise zweifelte. Jazz hatte vor zwei Jahren ihren Master in Meeresbiologie gemacht und promovierte jetzt unter Phoebes Anleitung. Jazz hatte zunächst bei Phoebe studiert und dann als Lehrassistentin am Meereslabor der Caltech gearbeitet. Seit mehr als fünf Jahren arbeiteten sie zusammen. Ihre Beziehung war so eng, dass sie von vielen Kollegen PB&J genannt wurden.
Die meisten glaubten, sie hätten sich zusammengetan, weil sie beide farbig waren. Phoebe war in Barbados geboren, aber bei ihrer Mutter in South Central aufgewachsen, nachdem sie im Alter von acht Jahren mit ihr in die Staaten gekommen war. Jasleen, acht Jahre jünger als sie, war eine waschechte Kalifornierin, doch ihre Wurzeln lagen in Ostindien. Ihre Familie stammte ursprünglich aus Mumbai und betrieb in der Bay Area von San Francisco eine Kette von chemischen Reinigungen.
Doch weder die Hautfarbe noch das Geschlecht hatten die beiden Frauen zusammengebracht. Zumindest hatten sie nicht den Ausschlag gegeben. Der eigentliche Grund war ihr Interesse an den Geheimnissen der Tiefsee. Und ihr Respekt voreinander.
»Es ist schwer zu glauben, dass in der lichtlosen bathypelagischen Zone überhaupt etwas lebt«, sagte Jazz und legte die flache Hand aufs Glas. »Der Druck da draußen beträgt etwa 300 Kilogramm pro Quadratzentimeter.«
»Das ist wirklich aufregend. Das Leben hat hier nicht nur Fuß gefasst, es hat auch eine große Artenvielfalt hervorgebracht.«
Sie schauten beide in das Wunderland hinter dem Fenster hinaus.
Zwei Seeteufel schwenkten ihre langen Antennen mit den leuchtenden Ködern. Teuthidodrilus wanden sich am Boden und fraßen den Meeresschnee, der von den sonnenerhellten Bereichen herabfiel und Nahrung in die pechschwarze Tiefe brachte. Jeder Blick enthüllte weitere Wunder: Schulen von Viperfischen, zwei Vampirkalmare, einen Dumbo-Oktopus. Etwas weiter weg krochen kleine weiße Hummer in einer roten Seeanemone umher.
»Hast du schon die Korallenbänke ausgewählt, von denen du die ersten Proben nehmen möchtest?«, fragte Jazz und sah auf ihre Taucheruhr. »Die erste Nutzungsperiode für das ROV beginnt in neunzig Minuten.«
»Ich hab schon ein paar Kandidaten, aber ich würde die Stationsfenster in dieser Höhe und vielleicht auch auf der nächsthöheren Ebene gern noch einmal komplett umfahren.«
»Vertrödele nicht die Zeit«, meinte Jazz. »Wir sind nicht die Einzigen, die nach ROV-Zeit lechzen. Es gibt hier unten eine Menge Konkurrenten.«
»Und weiter oben auch.«
Tausende Forscher, Akademiker und Wissenschaftler hatten sich für diese große Unternehmung beworben, doch nur 300 waren für den Start des Titan-Projekts ausgewählt worden. Diese 300 Personen waren jetzt über drei Bereiche verteilt.
Die Hälfte der Forscher befand sich über Wasser in der Titan X, einer 300 Meter langen Gigajacht mit einem dreizehn Stockwerke hohen Kugelaufbau am Heck. In der Kugel waren 22 hochmoderne Laboratorien untergebracht. Das Schiff versorgte die Station, verfügte jedoch auch über einen Flüssigsalzreaktor, der es ihm ermöglichte, überall auf der Welt Forschung zu betreiben.
Die Überwasserstation der Titan war nach dem Prinzip der FPSO-Schiffe aufgebaut, den Schwimmenden Produktions- und Lagereinheiten, die bei Ölplattformen eingesetzt wurden. Sie diente als Anlaufstelle, Arbeitsplattform und der Versorgung. Auch die zwei Dutzend Unterwasserfahrzeuge der Station - ferngesteuerte Tauchroboter (ROVs) und bemannte U-Boote (HOVs) - waren hier untergebracht.
In den vergangenen zwei Wochen hatten die hochspezialisierten HOVs Forscher und Besatzungsmitglieder in die drei Kilometer tiefer gelegene Unterwasserstation der Titan gebracht. Einige bezeichneten die umgedrehte Pyramide der Station als »teuersten Spielzeugkreisel der Welt«.
Auch Phoebe hatte vor zwei Tagen bei der Anfahrt gestaunt. Die oberste Ebene der Station mit ihrer Beobachtungskuppel sah aus wie ein Ufo von hundert Metern Durchmesser. Die vier darunter befindlichen Ebenen waren ebenfalls kreisförmig, doch ihr Durchmesser nahm nach unten hin ab, weshalb der Eindruck eines Kreisels entstand. Die unterste Ebene, auf der sie sich befand, hatte einen Durchmesser von lediglich zwanzig Metern. Labore gab es keine, nur einen Ring aus polarisierendem schwarzem Glas, weshalb auch hier Beobachtungen durchgeführt wurden.
Wie die Plattform und das Schiff schwamm auch die ganze Station über dem Meeresgrund. Die Position wurde von Ballasttanks und Schubdüsen an jeder Ebene stabilisiert. Die einzigen Berührungspunkte mit dem fragilen Ökosystem der Tiefsee waren mehrere Anker, welche die Station fixierten.
Um den Forschern und Arbeitern den Wechsel zwischen den drei Zonen zu erleichtern, herrschte überall in der Unterwasserstation der gleiche Druck, was eine Anpassung oder Dekompression unnötig machte. Der Personenverkehr mittels U-Booten erfolgte über ein Schleusensystem, das dem der Internationalen Raumstation ähnelte - die Tiefsee war für Menschen schließlich ebenso lebensfeindlich und gefährlich wie das Vakuum des Weltraums.
Doch daran gewöhnte man sich schnell. Phoebe und Jazz erkundeten die himmelblauen Gänge ebenso ehrfurchtsvoll und neugierig wie die meisten anderen Forscher. Hinter ihnen lagen wochenlange Vorbereitungen, angefüllt mit Vorträgen und Sicherheitstraining. Ihrem Staunen tat dies keinen Abbruch.
»Pheebs, schau du dich weiter hier unten um«, sagte Jazz. »Ich gehe hoch und sehe mir mal unser ROV-Terminal an. Ich möchte sicherstellen, dass die beiden MIT-Leute uns nicht die Zeit stehlen.«
»Tu das. Mach ihnen ordentlich Dampf.«
Phoebe lächelte, während Jazz zu der Wendeltreppe ging, die nach oben führte. Jasleen war nur eins fünfzig groß und hatte einen dunklen Kurzhaarschnitt, doch wenn es um ihren Arbeitsbereich und den Zeitplan ging, verwandelte sie sich in einen Pitbull.
Da sie wusste, dass Jazz auch sie für Verzögerungen verantwortlich machen würde, setzte Phoebe ihre Umkreisung fort. Diesmal konzentrierte sie sich weniger auf das wimmelnde Meeresleben, das umherschwamm, umherkroch oder durch die Riffs flitzte, sondern mehr auf die Eigenschaften des Geländes.
Das Thema ihrer Doktorarbeit war die einzigartige Biologie der Tiefseekorallen. Die meisten Menschen kannten vom Schnorcheln her die oberflächennahen Korallen, deren Polypen von fotosynthetisierenden Algen mit Energie versorgt wurden. Ihr Interesse galt jedoch den Korallen, die unterhalb der sonnenerhellten Zone lebten. Über die Tiefseekorallen war nur wenig bekannt. Im kalten Wasser und bei hohem Druck reiften sie nur langsam und waren unglaublich langlebig - manche Schätzungen reichten bis zu 5000 Jahren.
Da sie im Dunkeln lebten, ernährten sie sich von Mikroorganismen - von Zooplankton und Phytoplankton - sowie von bestimmten organischen Zersetzungsprodukten von Pflanzen und Tieren. Sie bildeten wunderschöne, fragile verzweigte Strukturen aus, die Nahrung und Sauerstoff aus dem Wasser filterten. Tiefseekorallen ähnelten deshalb gefiederten, fächerartigen Wäldern.
Hier trifft das jedenfalls zu.
Die Masse der Korallen hinter dem Fenster war erstaunlich. Sie glichen eher einem fluoreszierenden Dschungel als einem Wald. Riesenfächerkorallen ragten teilweise mehr als zehn Meter empor. Sie leuchteten gelb, rosa, blau und purpurfarben. Darunter waren Hornkorallen und Tiefseegorgonien gemischt. Anderswo standen tiefschwarze, dick verzweigte Korallenbäume, die wie versteinerte meterhohe Kiefern wirkten. Die großen, buschartigen elfenbeinfarbenen Lophelia füllten Zwischenräume aus und säumten die Ränder.
Einen Moment lang schüchterte die gewaltige Aufgabe, diese Vielfalt zu erforschen, sie ein, doch dann holte sie tief Luft und dachte an das chinesische Sprichwort, das ihre Mutter nach ihrer Ankunft in den Staaten häufig zitiert hatte, wenn Phoebe sich überfordert fühlte.
Eine Reise von tausend Meilen beginnt mit einem einzelnen Schritt.
Langsam atmete sie aus.
Ich schaffe das.
Vierzig Minuten später schloss Phoebe den zweiten Rundgang auf der Thetys-Ebene ab. Dabei war sie mehrfach Gruppen von Kollegen begegnet, die sich in den unterschiedlichsten Sprachen halblaut unterhielten. Sie...
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