Schweitzer Fachinformationen
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10. Dezember, 1515 n. Chr. Rom, Italien
Der Künstler beugte sich über den abgetrennten Kopf. Die makabre Dekoration war auf dem Tisch seines Ateliers aufgespießt, das von der Morgensonne erhellt wurde. Er hatte sich die Wohnung im Belvedere vor allem wegen des wundervollen Lichts ausgesucht. Die Villa lag innerhalb des Vatikans, auf heiligem Boden. Trotzdem zog er, ohne zu zögern, die Haut von der Wange des toten Mädchens ab. Das arme Ding war vor seinem siebzehnten Geburtstag gestorben.
Eine Tragödie, die ihm zu einem hervorragenden Studienobjekt verholfen hatte.
Er legte die feine Muskulatur unter der Haut frei und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die zarten Fasern, die vom Wangenknochen zu den erschlafften Lippen führten. Im Verlauf der nächsten Stunde zupfte er behutsam an verschiedenen Muskeln und beobachtete, wie die blassen Lippen darauf reagierten. Zwischendurch hielt er inne und notierte auf einem Stück Pergament mit geschickten Strichen der linken Hand jede einzelne Bewegung. Er registrierte auch die winzigen Bewegungen der Nasenlöcher, die Veränderungen der Wangenform und die Faltenbildung des unteren Augenlids.
Als er genug hatte, richtete er sich mit knackendem Rücken auf und trat vor die Holztafel auf seiner Staffelei. Er nahm einen Pferdehaarpinsel in die Hand und betrachtete die linke Seite des unfertigen Gesichts, das in einer Dreivierteldrehung fixiert war. Da das Modell nicht anwesend war, musste er aus der Erinnerung malen. Die herabfallenden Locken und den Faltenwurf des Kleids blendete er aus. Er tauchte den Pinsel in die Ölfarbe und fügte an der Lippe einen Schatten hinzu, wobei er auf die Erkenntnisse zurückgriff, die er bei der Sektion des Mädchens gewonnen hatte.
Zufrieden trat er zurück.
Besser . viel besser.
Vor zwölf Jahren, als er noch in Florenz lebte, hatte Francesco del Giocondo, ein reicher Kaufmann, ein Porträt seiner jungen Frau, der schönen und rätselhaften Lisa, in Auftrag gegeben. Seitdem schleppte er das unvollendete Bild mit sich herum, von Florenz nach Mailand und von dort nach Rom. Er war noch immer nicht bereit, sie loszulassen.
Der Emporkömmling Michelangelo - der manchmal diese Räumlichkeiten im Belvedere mit ihm teilte - machte sich lustig über seinen Widerwillen, das Gemälde zu vollenden, und spottete mit jugendlicher Herablassung über seine Hingabe.
Doch das war nicht mehr wichtig. Er erwiderte den Blick der schwarzen Augen. Das kühle Morgenlicht strömte durch die Fenster der ersten Etage und verlieh ihrer Haut einen Schimmer, der betont wurde durch die erlöschende Glut im kleinen Kamin, der den Raum erwärmte.
Im Lauf der Jahre habe ich mein ganzes Wissen darauf verwandt, dich noch schöner zu machen.
Doch er war noch nicht fertig.
Hinter ihm öffnete sich die Tür des Ateliers. Die knarrenden Angeln erinnerten ihn an seine übrigen Pflichten, an dringlichere Aufträge, die ihn von ihrem Lächeln fernhalten würden. Gereizt krampfte er die Finger um den Pinsel.
Die angenehme, schuldbewusste Stimme seines Lehrburschen besänftigte ihn. »Meister Leonardo«, sagte Francesco, »ich habe alles, wonach du verlangt hast, in die Bibliothek gestellt.«
Seufzend legte er den Pinsel beiseite und kehrte Lisa den Rücken zu. »Grazie, Francesco.«
Als Leonardo zu dem Pelzumhang hinüberging, der neben der Tür aufgehängt war, fiel Francescos Blick auf den halb gehäuteten Kopf auf dem Arbeitstisch. Der junge Mann riss die Augen auf und erblasste, enthielt sich aber einer Bemerkung.
»Hör auf zu gaffen, Francesco. Ein solcher Anblick sollte dich doch inzwischen nicht mehr aus der Ruhe bringen.« Er legte den Umhang an und wandte sich zur Tür. »Wenn du ein Meistermaler werden willst, musst du dir Wissen aneignen, wann immer sich eine Gelegenheit bietet.«
Francesco nickte und folgte Leonardo.
Sie stiegen die Steintreppe hinunter und traten auf den Hof des Belvederes hinaus. Das Gras war wegen des Frosts spröde und weiß. Die frische Luft roch nach Holzfeuer. Die beiden Gebäudeflügel, die den Hof einfassten, waren mit Gerüsten verkleidet.
Als sie vorbeieilten, überkam Leonardo das Gefühl, die Geschichte gehe von einer Ära zur nächsten über. Die Vorahnung bevorstehenden Wandels versetzte ihn in Anspannung und entzündete das Feuer der Hoffnung in seiner Brust.
Als er und Francesco den hoch aufragenden Apostolischen Palast erreichten, brannte ihnen von der Kälte die Nase. Die Kapelle des Gebäudes hatte vor Kurzem der fluchwürdige Michelangelo ausgemalt.
Der Ärger vertrieb die winterliche Kälte. Im vergangenen Jahr hatte Leonardo, ausgerüstet mit einer Lampe, sich weit nach Mitternacht in die Kapelle geschlichen. Er hatte das Werk des jungen Mannes im Geheimen begutachtet, denn er wollte Michelangelo nicht öffentlich aufwerten. Doch er hatte sich den Hals verrenkt und staunend die Decke betrachtet. Unwillkürlich zollte er dem Genie des Künstlers und dessen innovativer Anwendung der Perspektive in einem so großen Raum Respekt. Er hatte sich Notizen gemacht, um sich Michelangelos Neuerungen nutzbar zu machen.
Seine hartnäckige Verbitterung über den jungen Künstler ließ ihn an den Rat denken, den er Francesco erteilt hatte: Du musst dir Wissen aneignen, wann immer sich eine Gelegenheit bietet.
Er stapfte die Palasttreppe hinauf, nickte den Wachposten zu und trat ein.
Vielleicht weil er seine Gereiztheit spürte, geleitete Francesco ihn zu dem Flügel, in dem die Vatikanische Bibliothek untergebracht war. In der Nacht zuvor hatte er dort staubige Regale und Schränke durchsucht und die Materialien zusammengetragen, um die Leonardo gebeten hatte.
Die Zeit wurde knapp.
In drei Tagen sollte Leonardo zusammen mit Papst Leo X. ins nördlich gelegene Bologna aufbrechen und sich dort mit dem französischen König François I. treffen, der kürzlich Mailand erobert hatte. Obwohl bei der Begegnung Staatsangelegenheiten erörtert werden sollten, bestand der König auf Leonardos Anwesenheit. Ein Brief hatte seiner seltsamen Forderung Nachdruck verliehen.
Offenbar wollte der König - der von Leonardos Begabung wusste -, dass er zur Feier des französischen Sieges ein großes Kunstwerk anfertigte. Im Brief waren Einzelheiten aufgeführt. König François wünschte sich einen goldenen mechanischen Löwen, der seine Brust öffnen und den darin befindlichen Lilienstrauß offenbaren konnte. Lilien waren das Wappenzeichen des französischen Königs.
Francesco - stets ein guter Gefährte - ahnte, was ihm durch den Sinn ging. »Glaubst du wirklich, du kannst ein solches goldenes Gerät anfertigen?«
Leonardo musterte den jungen Mann. »Schwingt in deinem Tonfall Skepsis mit, Francesco? Zweifelst du an meinem Genie?«
Die Wangen des jungen Mannes färbten sich rot. »Na-natürlich nicht, Meister«, stammelte er.
Leonardo lächelte. »Das ist gut, denn ich trage bereits genug Zweifel in mir. Hochmut kommt vor dem Fall. Große Werke entstehen zu gleichen Teilen aus göttlicher Inspiration und irdischer Demut.«
»Demut?«, wiederholte Francesco skeptisch. »Du und demütig?«
Leonardo lachte glucksend. Der Junge kannte ihn gut. »Man ist gut beraten, in der Öffentlichkeit anmaßend aufzutreten. Um den anderen einzureden, man verfüge über unerschöpfliches Selbstvertrauen in allen Dingen.«
»Und im Geheimen?«
»Da sollte man tief in sich hineinblicken. Es bedarf der Demut, um seine Grenzen zu erkennen und sich darüber klar zu werden, wann man seine Kenntnisse erweitern muss.« Er dachte daran, wie er im Lampenschein zu Michelangelos Deckengemälde aufgeblickt hatte. Dabei hatte er einiges gelernt. »Das macht wahres Genie aus. Ausgestattet mit genügend Wissen und Genialität, vermag ein Mensch alles zu erreichen.«
Er eilte der Bibliothek entgegen, um diese Behauptung zu beweisen.
10:02
Hoffentlich habe ich meine Sache gut gemacht.
Francesco hielt seinem Meister die Tür auf und trat hinter Leonardo in die päpstliche Bibliothek. Er hoffte inständig, dass er den großen Mann nicht enttäuschen würde.
Als er seinem Mentor in das Hauptgewölbe folgte, begrüßte ihn der modrige Geruch von altem Leder und schimmligen Pergamenten. Die Holzregale reichten bis an die Deckenbalken, dazwischen standen die bleichen Gespenster der Marmorstatuen. Auf einem breiten Schreibtisch, auf dem sich Bücher, lose Papiere und Schriftrollen stapelten, brannte eine einzelne Lampe.
Leonardo näherte sich dem Tisch. »Jedenfalls warst du fleißig, Francesco.«
»Ich habe mich bemüht«, sagte er und seufzte. »Das arabische Buch, das du haben wolltest, war besonders schwer zu finden.«
Leonardo hob die Brauen und wandte den Kopf. »Du hast es gefunden?«
Voller Stolz zeigte Francesco auf einen dicken Wälzer in der Mitte der zusammengetragenen Dokumente. Der alte Ledereinband war abgegriffen und schwarz verfärbt, doch die Goldprägung funkelte im Lampenschein. Die fließende arabische Schrift wirkte noch immer wunderschön.
Leonardos Zeigefinger schwebte über dem Titel , den er laut vorlas: »Kitab fi ma`rifat al-hiyal al handasiya.«
Francesco übersetzte in gedämpftem Ton. »Das Buch vom Wissen über ausgeklügelte mechanische Apparate.«
»Es wurde vor zweihundert Jahren verfasst«, sagte Leonardo. »Kannst du dir diese Zeit vorstellen, das Goldene Zeitalter des Islam, da Wissenschaft und Gelehrsamkeit höchstes Ansehen genossen?«
»Ich würde gern irgendwann...
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