Schweitzer Fachinformationen
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Sie rannte wie im Nebel. Stimmen riefen nach ihr, doch sie sah niemanden, spürte sie nur um sich herum. Gesichtslose Schatten.
Annie Ljung schlug die Augen auf und schnappte nach Luft. Ihr Mund war ausgetrocknet, sie hatte hämmernde Kopfschmerzen. Sie blinzelte, und ihr Sichtfeld klärte sich. Die Decke lag neben ihr, und sie merkte, dass sie nackt war.
Sie drehte den Kopf. Neben ihr lag Thomas, er wandte ihr den Rücken zu. Seine Brust hob und senkte sich. Die Erinnerung an den Abend zuvor kehrte zurück. Ein Bild nach dem anderen, wie Blitzlichtaufnahmen. Das Abendessen. Der Wein. Das Sofa. Die Küsse. Thomas' nackter Oberkörper.
Verdammt. Das hätte nicht passieren dürfen. Es war ihre Schuld. Sie hatte einen Fehler gemacht, sie allein. Einen verfluchten Riesenfehler.
Thomas bewegte sich nicht.
Vorsichtig drehte sie sich zum Nachttisch und sah auf ihr Handy. Eine Minute vor sieben. Thomas' Wecker würde bestimmt gleich klingeln. Es war Freitag, und sie mussten beide zur Arbeit.
Annie holte tief und lautlos Atem und setzte sich langsam auf. Ihre Kleider lagen auf dem Teppich vor dem Bett verstreut.
Ja, sie hatte es gewollt, aber nicht so. Sie war fest entschlossen gewesen, es endlich hinter sich zu bringen. Hatte Thomas gemerkt, wie betrunken sie gewesen war? Vermutlich nicht. Sie war schwer zu lesen, man wusste selten, was sie dachte oder empfand. Das hatten ihr schon viele gesagt, nicht nur Thomas.
Eine Erinnerung blinkte auf dem Handy. Der Termin mit ihrer Psychologin, um halb acht. Mist.
Sie wickelte sich in die Decke und stand auf, raffte leise ihre Kleider zusammen und schlich sich nach draußen in die Diele. Sie schob die Schlafzimmertür zu und zog sich an, holte Jacke und Handtasche und entriegelte vorsichtig die Wohnungstür.
Vor dem Haus schlug ihr bereits die Hitze entgegen. Das Sonnenlicht blendete sie schmerzhaft, die Luft war stickig. In ihren Schläfen pochte es, der Boden schien zu schwanken.
Als sie sich umsah, fiel ihr ein, dass ihr Auto noch vor der Gemeindeverwaltung auf der anderen Stadtseite stand. Auch gut, denn sie sollte jetzt sowieso besser nicht fahren. Rasch sah sie nach oben zu Thomas' Küchenfenster, bevor sie die Straße überquerte und zum Marktplatz eilte.
Das kleine Wartezimmer war leer, die Tür zum Therapieraum der Psychologin zum Glück geschlossen. Das Radio lief. Vermutlich sollte es alle Gesprächsfetzen übertönen, die eventuell nach draußen dringen könnten.
Annie hastete auf die Toilette. Ein bleiches Gesicht blickte ihr aus dem Spiegel entgegen, schwarze Wimperntusche auf den Wangen, die blonden Haare zerzaust und ungewaschen. Der Blick eines gehetzten Tiers.
Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser, holte den Kulturbeutel aus der Tasche, nahm zwei Schmerztabletten, bürstete sich die Zähne und trug frische Wimperntusche auf, bevor sie zurück ins Wartezimmer ging und sich in einen Sessel sinken ließ.
Die Uhr an der Wand zeigte zwanzig nach sieben. Ob Thomas mittlerweile aufgewacht war?
Sie nahm das Handy aus der Tasche, hatte jedoch keine verpassten Anrufe oder Nachrichten. Ich muss ihm etwas schreiben, muss mich irgendwie erklären, dachte Annie. So verhielt man sich nicht. Normale Menschen schlichen sich nicht einfach so davon.
Sie wollte gerade anfangen, eine Nachricht zu tippen, als die Tür zum Therapieraum geöffnet wurde und die Psychologin Ylva Persgård herauskam.
»Guten Morgen, Annie.«
Annie schob das Handy in die Handtasche und murmelte einen Gruß, dann schob sie sich an Ylva vorbei. Sie fürchtete, dass sie immer noch nach Alkohol roch, auch wenn sie sich die Zähne gebürstet hatte.
Sie setzte sich auf den Sessel in der Ecke bei der Stehlampe und legte die Jacke über die Armlehne. Sie versuchte, eine Haarsträhne aus der Stirn zu blasen, doch die klebte fest.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Ylva einen Notizblock zur Hand nahm und sich mit überschlagenen Beinen in den anderen Sessel setzte. Wie immer war sie sorgfältig gekleidet, in dunkelblaue Hosen und eine weiße Bluse. Das braune Haar trug sie mit Seitenscheitel und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie war diskret geschminkt. Bisher hatte die Psychologin immer irritierend ruhig und gelassen gewirkt. Sie war offensichtlich ein stabiler Mensch, das genaue Gegenteil von Annie.
Sie blinzelte in das Sonnenlicht, das durch das Fenster hereinfiel. Ylvas Blumen in den Töpfen sahen gesund aus und schienen über den Sommer nicht vertrocknet zu sein wie Annies. Die Psychologin kümmerte sich offenbar um ihre Pflanzen. Ob die ganze ausgeatmete Luft im Raum sie am Leben hielt? Alle unglücklichen Seelen, die hier saßen und ihre Angst ausatmeten, ihren Kummer, ihre Sorgen. Direkt in die Blumenerde.
»Willkommen zurück, Annie.« Ylva lächelte. »Sie haben sich die Haare wachsen lassen. Das steht Ihnen!«
Reflexhaft legte Annie den Kopf nach vorn, sodass ihr die Haare über die Schultern fielen und die Narbe am Hals verbargen.
»Danke«, murmelte sie. »Wie war Ihr Sommer?«
»Schön, danke. Ich war viel zu Hause, aber für ein paar Tage sind meine Kinder und ich zu meiner Familie nach Dalarna gefahren. Und Sie? Waren Sie zu Hause, oder sind Sie weggefahren?«
Annie verschränkte die Hände auf den Knien und schluckte gegen die Übelkeit an. Sie hatte immer noch Kopfschmerzen. Sollten die Tabletten nicht langsam wirken?
»Ich war die meiste Zeit zu Hause«, sagte sie. »Abgesehen von ein paar Tagesausflügen.«
»Das klingt nach einem ruhigen Sommer. Den haben Sie sicher gut brauchen können. Schade nur, dass das Wetter nicht besser war.«
Den ganzen Sommer über hatte es geregnet, doch ausgerechnet jetzt, da alle wieder arbeiten mussten, hatte eine Hitzewelle die Stadt erfasst.
»Wie ging es Ihnen in der letzten Zeit?« Ylva sah sie forschend an. »Sie wirken recht dünn, muss ich sagen.«
Annie nickte. »Ich hatte nicht viel Appetit.«
Es stimmte. Sie hatte abgenommen, das merkte sie an den Kleidern. Sicher hatte der Wein sie deshalb so unerwartet betrunken gemacht.
Ylva nickte.
»Ich verstehe. Und hatten Sie Angstattacken?«
»Ab und zu. Aber sie waren nicht schlimm.«
Annie sah zu dem Bild an der Wand, das aussah wie eine rosa Rose, deren Blätter sich nach außen auffalteten. Für Annie sah es wie ein weibliches Geschlechtsteil aus. Sie hatte aber nicht gewagt, Ylva zu fragen, was es eigentlich darstellte.
»Und sonst?«, fragte die Psychologin. »Schlafstörungen, Verdauungsbeschwerden, Schwindel?«
Annie wandte den Blick von dem Bild ab.
»Ich hatte viele Albträume. Immer denselben. Menschen, die mich jagen, Nebel, ich renne davon.«
»Das ist ganz normal, wir haben ja darüber gesprochen, wie Sie sich sicher erinnern«, antwortete Ylva. »Das wird mit der Zeit besser.«
Annie schluckte. Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen stand eine Karaffe mit Wasser, daneben zwei Gläser. Sie füllte eines mit Wasser und trank.
»Wie läuft es in der Arbeit? Sie sind doch noch beim Jugendamt?«, fragte Ylva.
Annie nickte. »Ich lasse es allerdings sehr ruhig angehen, versuche, mich nicht zu sehr in meine Fälle hineinziehen zu lassen. Nach den Geschehnissen im Frühjahr hat mein Chef ein Auge auf mich.«
Das Jugendamt in Kramfors war eine kleine Abteilung, nur sechs Sachbearbeiter und Sachbearbeiterinnen, von denen eine langfristig krankgeschrieben war. Die Gemeinde war klein, jeder wusste alles über jeden, es gab kaum Geheimnisse. Annie hatte bisher noch kein Wort über ihr Privatleben verloren, weshalb sie annahm, dass ihre Kollegen sie für verklemmt und komisch hielten. Doch das war es wert. Annie hatte ihre Gründe, die Kollegen auf Abstand zu halten, und die gingen nur sie etwas an.
Ylva nickte. Sie fand es auch gut, dass Annie sich mehr auf ihre Gesundheit konzentrierte. Die Arbeit mit hilfsbedürftigen Menschen war aufreibend, selbst für Leute, die nicht das erlebt hatten, was Annie durchgemacht hatte.
»Nachdem unsere letzte Sitzung schon eine ganze Weile zurückliegt, würde ich gern mit einer kurzen Zusammenfassung beginnen.« Ylva klappte ihren Notizblock auf.
In wenigen Sätzen rekapitulierte sie die Sitzungen aus dem Frühjahr. Sie hatten über Annies familiären Hintergrund gesprochen, die Vertretungsstelle beim Jugendamt, die Demenz ihrer Mutter, die traumatischen Ereignisse im Frühjahr. Das Verschwinden von Annies Cousine, ihr Tod, der Brand, in dem Annie beinahe umgekommen wäre.
»Wie geht es Ihrer Mutter? Zuletzt hatten Sie mit den Ärzten vereinbart, dass ihre Medikamente abgesetzt werden sollten. Habe ich das richtig in Erinnerung?«
Annie nickte. Nach diversen Gesprächen mit Birgittas Ärztin hatten sie sich darauf geeinigt, die Demenzmedikamente abzusetzen und zu sehen, ob Birgittas Verwirrung sich besserte. Annie hoffte, dadurch ein engeres Verhältnis zu ihrer Mutter aufbauen zu können.
Sie wusste nicht genau, wie die Psychologin es angestellt hatte, doch in der zweiten Sitzung hatte Ylva ihr entlockt, dass sie und ihre Mutter nicht mehr über die Vergangenheit hatten reden können. Über ihr angespanntes Verhältnis, das schon immer schwierig gewesen und nach allem, was im Gymnasium passiert war, noch komplizierter geworden war. Über die nie verheilten Wunden und die ganzen Fragen, die auf eine Antwort warteten. Zum Beispiel, dass Annie nicht wusste, was ihre Mutter eigentlich geglaubt und weshalb sie ihre Tochter damals mit 16 Jahren nach Stockholm geschickt hatte.
»Hat sich etwas verändert?«
Annie...
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