ZWEITES KAPITEL
Die systematischen Voraussetzungen des Lebens
Der tiefgreifende Zusammenhang zwischen der organisierten und der anorganischen Natur, und zwar speziell die Bedingtheit der ersteren durch die letztere, ist ein unmittelbar einleuchtender Tatbestand, den einzusehen nicht einmal eines besonderen Einblicks in die Wissenschaften beider Naturreiche bedürfen würde. Es liegt auf der Hand, daß die Organismen sich aus Stoffen zusammensetzen müssen, die in der anorganischen Natur bereits vorhanden sind. Nur so läßt sich der Ursprung des Stoffwechsels, die Assimilation verstehen, die ja eben nichts anderes bedeutet als die Heranbildung der komplexen, organischen Verbindungen aus den einfacheren, anorganischen. Da nun aber auf diesem Urprozeß der ganze Ablauf aller formbildenden Prozesse beruht, so ist es unerläßlich, zunächst auf die exaktwissenschaftlichen, d.h. physikalisch-chemischen Bedingungen desselben einzugehen, um diesen dann wiederum ihre allgemeineren philosophischen Voraussetzungen abzugewinnen. Denn es kann unter solchen Umständen nicht anders sein, als daß die letzteren zugleich unerläßliche Vorbedingungen des Organischen bedeuten.
In der Natur ist alles Prozeß, Vorgang, Geschehen. Die primäre Form dieses Geschehens ist die Bewegung. Diese bildet das engere Problem der reinen Mechanik, welche die Gesetze der Bewegung formuliert. Hierbei muß die erste, prinzipielle Bedingung aller Bestimmbarkeit ein Beharrendes sein, das in aller Veränderung den ruhenden Pol bildet. Die ältere Physik sah ein solches in der Masse. Diese sollte konstant bleiben in allen Umformungen, die sie durchläuft. Die Neueren sind davon abgekommen. Gerade die Masse ist kein Letztes; ihr ganzer Begriff ist sogar von Grund aus sekundär - gegenüber dem der Kraft. Sie löst sich auf in ein System von Kräften. Das Beharrende kann also nur in den Kräften selbst liegen, oder wie der moderne Ausdruck dafür lautet, in der Energie. So kehrt sich der Gedanke der Beharrung um: nicht »in« der Bewegung beharrt etwas, was im Gegensatz zu ihr stände; sondern sie selbst, die Bewegung, beharrt. Sie ist das prinzipiell Erste, das nicht entstehen oder vergehen kann, sondern nur sich umformen. Sie ist das Beharrende, die Substanz. So gehen die verschiedenen Bewegungstypen, Wärme, Licht, Elektrizität, chemische und mechanische Energie, ineinander über, entstehen auseinander, und das Zunehmen der einen ist immer zugleich ein Abnehmen der anderen. Die heutige Physik kennt dieses Grundgesetz als »Erhaltung der Energie«.
Dem Substanzprinzip steht ein zweites gegenüber, welches die Veränderung als solche bestimmt. Dieses kann nur bestehen in einem Gesetz der Abhängigkeit der Bewegungsstadien voneinander. Es besagt den »funktionalen« Zusammenhang zwischen ihnen, d.h. jedes frühere Bewegungsstadium enthält die durchgehende Bestimmung (Determination) [88] des späteren in sich. Jedes Stadium A (Ursache) ist determinierend für ein ferneres Stadium B (Wirkung) und ist selbst wiederum ebenso notwendig determiniert durch das vor ausgehende Stadium. Es kann in B nichts anderes vor sich gehen, als was in A angelegt ist; und doch ist B nicht identisch mit A, sondern ein spezifisch anderes. Jede Verschiebung in A bedeutet daher zugleich eine Verschiebung in B, ohne daß die erstere Verschiebung der letzteren ohne weiteres gleichzusetzen wäre. In dieser durchgehenden Abhängigkeit entsteht eben der funktionale Zusammenhang, die sog. Kausalität. Auf ihr beruht alle Notwendigkeit des Naturgeschehens, und folglich auch aller Gesetzesausdruck der Naturwissenschaft, die, soweit sie exakt und mathematisch formulierbar ist, Gesetzeswissenschaft ist. In diesem weiten Sinn hat die Kausalität ihr Wesen nicht in einem bestimmten Gesetz unter anderen Gesetzen, sondern in der Gesetzmäßigkeit alles Geschehens überhaupt; sie ist im Grunde »das Urteil des Gesetzes« (Cohen). In ihr findet der gesamte Naturprozeß seine logische Struktur, d.h. die begrifflichen Ausprägungen der ihn beherrschenden Zusammenhänge. Diese Zusammenhänge bilden im Naturprozeß gleichsam Linien oder »Reihen« der Verursachung und Bewirkung: jede Ursache ist bereits Wirkung früherer Ursachen, jede Wirkung aber zugleich Ursache fernerer Wirkungen. Somit ist der Naturprozeß durchzogen von Kausalreihen, die den exakten Schluß von der Wirkung auf die Ursache, und weiter zurück auf die Ursache der Ursache u.s.f. ermöglichen. Natur ist nichts anderes als der unendliche Komplex der Kausalreihen. Und für den, der sich dieses Gedankens versichert hat, ist es selbstverständlich, daß es in ihr nichts geben kann, was nicht durch und durch kausal determiniert wäre.
Indessen ist Kausalität doch nur ein einseitiger Ausdruck für diese allseitige Gesetzesstruktur. In ihr ist noch nichts über den Zusammenhang der Kausalreihen untereinander ausgemacht. Sie bedarf also einer Ergänzungskategorie, die zu ihr gleichsam die zweite Dimension bildet. Man könnte sich von der einfachen Kausalität immer noch die falsche Vorstellung machen, als liefen die einzelnen Kausalreihen bloß parallel in der Zeit nebeneinander her, indifferent in bezug aufeinander, ohne sich jemals zu schneiden. Das entspräche aber schlecht dem naturwissenschaftlichen Verursachungsbegriff. In diesem ist der durchgehende Zusammenhang das Wesentliche, und es gibt in ihm kein Einzelgeschehen, das nicht näher oder ferner durch alles andere frühere und gleichzeitige Geschehen mitbedingt wäre. Die einzelne Wirkung ist immer ein komplexes Gebilde, welches nicht durch »eine« isolierte (oder auch nur isolierbare) Ursache, sondern durch einen ganzen Komplex von Teilursachen determiniert ist. So führt der Begriff der Kausalität selbst auf die Wechselbeziehung der Kausalreihen hinaus, auf die von Kant so benannte Wechselwirkung. In diesem Zusammenwirken der Ursachen nun wird der »Gegenstand« bestimmt. Naturgegenstand ist eben nichts [89] anderes als ein System von Wirkungen, oder von spezifisch determinierten Bewegungen. Wesentlich ist dabei ebensowohl die einzelne Teilwirkung als die besondere Art der Systembildung. In der letzteren liegt die eigentümliche Leistung der Wechselwirkung, an welcher sich das »Gesetz« zum Kategorienbegriff des »Systems« auswächst (Cohen). Das Ge setz bestimmt den notwendigen Zusammenhang unter den Stadien des Geschehens; »System« dagegen bedeutet die Einheit des Zusammenwirkens innerhalb des komplizierten, durch mannigfaltige Gesetzmäßigkeiten gleichzeitig bestimmten Geschehens.
Überträgt man nun hierauf den dynamischen Charakter der Bewegung, welcher in der sich erhaltenden Energie wurzelt, so muß das Bewegungssystem notwendig sich als dynamisches System erweisen. Die Besonderungen der Energie, ihre Transformationen (Umbildungen), ergeben die spezifischen Grundtypen der »Kraft«. Somit bedeutet die Wechselbeziehung in jedem Einzelfall ein Kraftsystem, d.h. buchstäblich: ein System einheitlich aufeinander bezogener Kräfte. Die einzelnen Kräfte halten sich dabei, weil sie in Wechselwirkung stehen, gleichsam die Waage. Ihr Zusammenbestand muß also notwendig ein relativ konstantes Gebilde ausmachen, welches der Zerstörung seines Gleichgewichts einen gewissen Widerstand entgegensetzt. Solche relativ konstanten dynamischen Gebilde nennen wir Naturgegenstände. Ein Kraftsystem in diesem Sinne ist also im Grunde schlechthin jeder Naturgegenstand.
Darin haben wir jene weittragende Bedeutung des Systembegriffs, in welcher das wissenschaftliche Naturproblem aus der abstrakten Höhe seiner Gesetzesbegriffe herabsteigt und sich dem greifbar dinglichen Dasein nähert. Denn der Satz, zu dem wir eben kamen, läßt sich mit gleichem logischen Recht auch umkehren: jede Art Kraftsystem bedeutet eine bestimmte Art Naturgegenstand. Dann aber muß notwendig den verschiede nen Arten oder Ordnungen des Gegenstandes eine Reihe ebenso verschiedener Ordnungen des Kraftsystems entsprechen; vielmehr jene müssen mit diesen zusammenfallen und im wissenschaftlichen Sinne gleichbedeutend sein. Auch das Weltall als Ganzes fügt sich noch diesem Systembegriff, so sehr es auch in seiner Unendlichkeit unsere Vorstellungskraft übersteigt. Zum mindesten aber haben wir es im Planetensystem mit einem typischen Beispiel des Bewegungs- und Kraftsystems zu tun. Auf dieser Stufe ist es rein mechanisches System. Von hier aus aber reihen sich die Ordnungen des Systems abwärts, und ihnen entsprechend die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft, bis weit unter die Grenze der Sichtbarkeit hinab. Dabei ist jedes begrenzte System immer ein Glied eines höheren Systems und enthält seinerseits wieder kleinere Systeme in sich. Die Ordnungen des Kraftsystems liegen nicht indifferent nebeneinander. Sie umschließen vielmehr einander und stecken ineinander.
Hier stoßen wir nun sogleich wieder auf einen tiefgreifenden logischen Zusammenhang. Dieses Ineinanderstecken der Systemordnungen ist [90] nämlich kein passives Umschlossensein, sondern ein höchst schwerwiegendes Abhängigkeitsverhältnis, und zwar gleichfalls ein gegenseitiges: eine Wechselwirkung der Systemordnungen untereinander. Es ist ebenso aktiv und dynamisch zu verstehen, wie das einzelne System selbst: als Kraftverhältnis. Da doch das höhere...