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Als Natàlia nach Barcelona zurückkehrte, wollte sie lieber bei Tante Patrícia auf der Gran Via wohnen, in der Nähe der Carrer del Bruc. Ihr Bruder Lluís, der seit achtzehn Jahren mit Sílvia Claret verheiratet war, lebte im höher gelegenen Teil der Stadt, in einer Maisonettewohnung auf der Carrer Calvet, unweit der Via Augusta. Zu ihm zu ziehen kam nicht infrage, und zwar nicht wegen Sílvia, mit der sie zumindest die Liebe zum Kochen verband, sondern wegen Lluís selbst. In den zwölf Jahren, in denen sie fort gewesen war, hatte Natàlia vieles vergessen, aber sie konnte sich noch gut an das spöttische Grinsen ihres Bruders erinnern, als er sie damals ins Krankenhaus gefahren hatte. Sie hätte um ein Haar eine Blutvergiftung gehabt und krümmte sich vor Unterleibsschmerzen, doch als Lluís aufs Gaspedal trat, sagte er, von mir aus kannst du rumvögeln, mit wem du willst, aber schalt vorher dein Hirn ein.
Der Flughafen wirkte auf Natàlia viel größer, heller und geschäftiger, als sie ihn sich vorgestellt hatte. Es ging zu wie in einem Taubenschlag, alle möglichen Leute liefen umher, und die Leuchttafeln kündigten andauernd ständig und abfliegende Maschinen an. Während sie am Transportband auf ihren Koffer und die zwei Taschen wartete, mein spärliches Gepäck, betrachtete Natàlia abwesend die Leute um sich herum. Der Mann, der von Puig Eau de Cologne geschwärmt hatte, wir exportieren es nach ganz Europa, ein katalanisches Duftwasser, das um die Welt gegangen ist, hatte sich zum Glück ans andere Ende gestellt. Die beiden irischen Nonnen blickten sich, dicht aneinandergedrängt, verstohlen um. Die Frau, deren Lippen feuerrot geschminkt waren wie bei einem Mannequin aus den Fünfzigerjahren, schaute voller Vorfreude zu den Glasscheiben, die zur Vorhalle führten, ob sie jemanden sucht?, der Herr, der Pfeife rauchend den New Statesman las und aussah wie ein Lehrer am British Institute, verglich seine Uhr mit der des Flughafens. Endlich kam das Gepäck, und die Passagiere wanderten wie disziplinierte Ameisen in Reih und Glied zu den Ausgängen. Natàlia Miralpeix zögerte einen Moment: Sie konnte entweder den Bus der Iberia nehmen, der sie zur Plaça d'Espanya bringen würde, oder ein Taxi. Am Flughafen Heathrow hatte sie ihre letzten Pfund Sterling umgetauscht, armer Jimmy, sein ganzes Kapital. Zum Glück stieg das Pfund beständig, und der Wechselkurs war gut.
Sie hob den Arm und hielt ein Taxi an. Dann drehte sie sich um und warf einen letzten Blick auf das Flughafengebäude. Als sie die magischen, scheinbar kindlichen Linien von Miró sah, musste sie lächeln, ich bin zu Hause. Sie stieg hinten in den Wagen ein, bitte zur Gran Via, Ecke Bruc. Im Rückspiegel konnte sie sehen, wie die dunkelgrauen Augen des Taxifahrers sie ab und zu musterten, wie ich wohl aussehen mag? Ist eine allein reisende Frau von fast vierzig Jahren so etwas Seltsames? Vielleicht liegt es an meinen Jeans . Jimmy, der noch abgerissener herumlief als sie, hatte sie gedrängt, die Hose auf dem Portobello-Markt zu kaufen. Wenn an dir was toll ist, dann dein Hintern, hatte er gesagt, du hast einen Knackarsch wie ein Torero, und diese Hose kannst du dir sogar noch enger machen, je enger, desto besser. Wie so oft im Frühling, war der Himmel über Barcelona von einem kompakten, schweren Grau. Es schien, als senkten sich die Wolken langsam herab, bis sie die Baumwipfel berührten. Ein Himmel für Kopfschmerzen und bleierne Müdigkeit. Ein richtiges Gewitter würde uns guttun, sagte der Taxifahrer mit einem Blick auf Natàlia. Sie sah von ihm nur den kurzen faltigen Stiernacken und einen Streifen des Gesichts von der Stirn bis zur Nasenwurzel. Autofriedhöfe, viel Grau und Braun, kaputte Motoren, Einkaufswagen des großen Supermarktes, verstaubtes Laub, abrutschende Straßenränder, todkranke Bäume und die Einsiedelei von Bellvitge, von riesigen Wohnblockreihen förmlich verschlungen, zerrissen die Landschaft. Natàlia betrachtete die staubbedeckten Zypressen der Einsiedelei und dachte an die goldenen Tage, als sie mit ihrem Vater dort gewesen war. Autos brausten dicht am Taxi vorüber, die Leute haben mehr Geld, das hat man mir ja schon gesagt. Natàlia kurbelte die Seitenscheibe hoch.
Zwei Tage zuvor war Puig Antich hingerichtet worden, aber ich bin nicht so naiv, zu erwarten, das würde sich irgendwie auf die Stimmung niederschlagen. Sie erinnerte sich an den tieftraurigen Blick von Jimmys neuer Freundin Jenny, als sie den beiden am Abend vor der Hinrichtung einen Abschiedsbesuch abgestattet hatte. Ich habe das Brathähnchen mitgebracht, das mir immer so gut gelingt. Du lässt die Innereien ausnehmen und steckst zwei Brühwürfel und eine aufgeschnittene Zitrone in das Hähnchen, hatte sie Jenny erklärt, weil Jimmy das Gericht so gern mochte. Du kochst gut, Natàlia, hatte er oft zu ihr gesagt, als sie in Bath zusammengewohnt hatten. Mann, was war ich besoffen von der Sangria, vielleicht hatte ich es mit dem Gin übertrieben? Dabei war doch klar, dass ich eine Leberkolik bekommen würde. Ich darf nicht so viel Reis essen, der quillt im Bauch auf und liegt schwer im Magen. Außerdem sind englische Hähnchen viel fetter als unsere. Vor der Sangria hab ich mir drei Gläser Sherry genehmigt und nachher den schrecklichen Rotwein, den sie in den Pubs in riesigen Flaschen verkaufen. Aber Jimmy wollte nun mal Sangria. Es ist doch unser Abschied, isn't it?, auch wenn Jenny dabei ist . Obwohl Jenny dabei war, machte Natàlia das Brathähnchen mit Zitrone. Mrs Jenkins war so freundlich, sie das Hähnchen in ihrem Ofen braten zu lassen. My dear, I see ., hatte die dralle Dame mit einem verständnisvollen Lächeln zu ihr gesagt. Die Engländer haben für alles Verständnis, und wenn es um ein Abschiedsessen geht, überlassen sie dir sogar den Ofen. Jimmy war reizend gewesen, und zwei- oder dreimal hatte er sie halb im Scherz, halb im Ernst geküsst. Jenny deckte den Tisch und wärmte die Teller vor, damit sie das Hähnchen nicht mit kaltem Reis essen mussten. Der Abend war very nice, indeed, und Natàlia konnte feststellen, dass sich Jimmy tatsächlich sehr verändert hatte. Jetzt hatte er endlich den erträumten Job in seiner Heimatstadt Liverpool, und an die gemeinsame Zeit in der kleinen Stadt Bath würde er sich erinnern als eine der schönsten Zeiten meines Lebens, versprochen. Sein I promise hatte so ernsthaft und konzentriert geklungen, dass Natàlia unweigerlich lachen musste. Das war im Pump Room gewesen, wo sie sich cream-tea und süße scones schmecken ließen, dem Teesalon mit der neoklassizistischen Decke und den großen Fenstern, die auf die antiken römischen Bäder hinausgingen. Während Jimmy Butter und Konfitüre auf ein scone strich, hatte Natàlia zu ihm gesagt, Jenny sei einfach bezaubernd. Dass sie genau die richtige Frau für diese neue Phase seines Lebens war, brauchte sie nicht zu erwähnen, das verstand sich von selbst. Jenny war durch und durchein Hogarth, mit ihren zartrosa Wangen, dem energischen Kinn, den Katzenaugen, dem braunen Haar und einer Nase, die sich schnell rot verfärbte. Der zarten, weißen Haut, immer kurz davor, aufzuspringen. Als Natàlia sie kennenlernte, stellte sie sich vor, wie vorteilhaft es wäre, klein und brünett zu sein wie Jenny und lebendige, lachende Augen und vor allem ein Rattennäschen zu haben, das in der Kälte sofort verschiedenste Rottöne annahm. Einen englischen Film erkannte man auf Anhieb, nicht nur an den grenzenlosen Wiesen und den Backsteinhäusern, sondern auch an den Nasen der Schauspielerinnen. Eine Nase wie die von Samantha Eggar in Der Fänger, dem Film, dessentwegen sich Natàlia in den Stadtteil Hampstead verliebt hatte, vergaß man nicht so schnell. Musst du wirklich fort?, hatte Jimmy sie gefragt, während er das englische Gebäck dick mit Clotted Cream bestrich. Natàlia hatte Ja gesagt und es bei ihrem Spaziergang am Ufer des Avon noch einmal bekräftigt - beim Anblick der Schwäne hatte sie aus unerfindlichen Gründen weinen müssen -, ja, sie musste fort, sie musste nach Barcelona zurück, davon war sie überzeugt. Wenn nicht jetzt, dann nie mehr, ich bin schon seit zwölf Jahren von zu Hause weg. Warum kehrst du zurück, Natàlia?, fragte er, und sie erwiderte, ich weiß es nicht.
Am Tag nach dem Abschiedsessen ging Natàlia noch einmal zu Jenny. Sie hatte die Fleischplatte dort gelassen, die sie Mrs Jenkins noch zurückgeben musste. Und da sagte Jenny zu ihr, im Radio haben sie gesagt, dass ein spanischer Anarchist hingerichtet wurde, ich glaube, er hieß Putschantik. Natàlia ließ die Platte auf ihren Rock fallen - am selben Morgen hatte sie sich einen langen schwarzen Rock aus Cordsamt gekauft, den letzten, das hatte sie sich geschworen - und setzte sich auf die Armlehne eines Sessels vor Jennys Kamin. Anfangs hatte Jimmy gesagt, er würde nicht mit Jenny zusammenziehen, doch sie hatte einen kleinen Garten, wie verlockend, manchmal verirrte sich eine Möwe vom Meer dorthin; letztlich würde er in vier Wochen ohnehin nach Liverpool ziehen und Jenny vielleicht irgendwann heiraten. Jenny war in Jimmys Alter, fünfundzwanzig, das war normal. Natàlia sagte eine Zeit lang nichts. Jennys Katzenäuglein weiteten sich vor Schreck. Als Natàlia schwieg, war sie ratlos. Oh, my dear! Did you know him?
Aber Natàlia konnte Jenny nichts erklären; sie hätte allenfalls sagen können, weißt du, dieser Todesfall, jetzt, wo ich zurückkehre, das ist wie das mit der Madeleine bei Proust . Denn in dem Jahr, als Natàlia fortgegangen war, hatte es in Asturien einen Aufstand gegeben - Emilio und sie hatten...
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