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Eines Tages gab mir meine Freundin Natàlia eine Reihe von Notizen, die sie über ihre Tante, Patrícia Miralpeix, angefertigt hatte, dazu ein paar Briefe von Kati und das Tagebuch ihrer Mutter Judit Fléchier. Judit hatte kein Tagebuch im eigentlichen Sinne geführt; es waren eher einzelne, von ihr datierte Blätter. Tante Patrícia hatte sie nach dem Tod von Natàlias Vater, Joan Miralpeix, gefunden und ihrer Nichte gegeben. Es waren nicht besonders viele. Natàlia schickte mir den ganzen Packen und rief mich einige Tage später an:
Meine Tante hat mir dieses Durcheinander überlassen und gesagt, ich soll damit machen, was ich will. Ich dachte, du könntest vielleicht was damit anfangen. Ich fände es schön, wenn du etwas über Mamà und Kati schreiben würdest, und zwar so, wie du über uns beide schreiben würdest.
Ich hatte gerade ein umfangreiches Buch über die Katalanen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern beendet und mir war, ehrlich gesagt, nicht danach, weiter in der Vergangenheit zu wühlen. Die Geschichte der Deportation hatte mich halb krank und ziemlich skeptisch gemacht. Und jetzt wollte Natàlia, dass ich in die Welt zweier Frauen eintauchte, die ich nie kennengelernt hatte, auch wenn sie in zwei meiner Romane vorkamen. Gerade interessierten sie mich nicht sonderlich. Eine Woche lang lag der Papierstapel auf meinem Schreibtisch - Ferran hatte kurz zuvor seine Aktenordner mitgenommen, und so hatte ich mehr Platz. Ich konnte mich nicht dazu aufraffen, das Päckchen zu öffnen. Die Vorstellung, über zwei Frauen aus dem Bürgertum zu schreiben, die sich ihrer Stellung nicht bewusst gewesen waren, reizte mich nicht. Schließlich rief ich Natàlia an:
Hör mal, ich habe keine Lust, schon wieder von deiner Mutter und Kati zu erzählen. Das ist doch Schnee von gestern.
Lies es erst mal, entgegnete Natàlia, du musst ja keine Biografie schreiben oder so. Ich fand es sehr hilfreich.
Fast hätte ich sie daran erinnert, dass Kati und Judit Menschen waren und keine Romanfiguren. Warum sollte ich mich jetzt mit ihnen beschäftigen, wo es so vieles gibt, über das man Reportagen schreiben könnte? Für mich waren Kati und Natàlias Mutter mausetot. Fast hätte ich ihr gesagt, dass ich mich an manchen Tagen kaum auf die Straße traute, um die dunklen Löcher nicht sehen zu müssen, in denen die Hausmeisterinnen des Eixample festsitzen. Ohne Luft, ohne Licht. Dass ich den Anblick unserer Hausmeisterin nicht ertrug, dieser fahlhäutigen Frau mit dem erloschenen Blick, die nur selten vor die Tür ging und stattdessen wie ein Maulwurf den ganzen Tag im Gasgeruch saß; dass ich flüchtete, sobald sie anfing zu erzählen, dass es in ihrem Dorf in Kastilien nur zweimal im Jahr Fleisch gab, an Weihnachten und am Tag, an dem die Weizenernte eingebracht war. Fast hätte ich Natàlia daran erinnert, dass wir eigentlich ein Buch über die psychisch kranken Frauen schreiben wollten, die in der Anstalt von Sant Boi verrotteten, und noch immer eine Reportage ausstand über Maria Felicitat, das Mädchen, das von der eigenen Mutter in einer 25-Quadratmeter-Wohnung mit einem Hammer erschlagen worden war.
Ein Mensch hat unzählige Facetten, und wenn man es schafft, in einem Roman drei oder vier davon zu beschreiben, genügt das schon. Trotzdem versprach ich Natàlia, die Aufzeichnungen zu lesen. Sie hatte meine Antwort gar nicht abgewartet, schon am darauffolgenden Tag überreichte mir die Hausmeisterin einen Brief, der bei ihr abgegeben worden war. Ich weiß nicht, ob es daran lag oder an Judits und Katis Aufzeichnungen; vielleicht hatte es auch mit der Leere zu tun, die ich seit der Trennung von Ferran in mir spürte: Jedenfalls beschloss ich, etwas über Kati und Judit zu schreiben, auch wenn ich nicht wusste, was. Doch bevor ich anfange, möchte ich hier Natàlias Brief wiedergeben:
Meine Rückkehr nach Barcelona ist nun schon fünf Jahre her, und trotzdem erinnere ich mich noch, wie erschöpft ich am ersten Tag war, als ich bei Tante Patrícia unterkam und feststellen musste, dass der Garten mit dem Zitronenbaum verschwunden war. Während ich zwischen den Lichtkuppeln mit den geteerten Rändern hindurch über den Hof ging, versuchte ich, den Garten meiner Kindheit heraufzubeschwören. Ich wollte wieder den Duft des Zitronenbaums riechen, wollte das von den Amoretten vergossene Wasser plätschern und den Kies unter meinen Schritten knirschen hören .
Ich glaube, wir wissen die Wirklichkeit erst dann zu schätzen, wenn sie Erinnerung geworden ist. Um sie so noch einmal erleben zu können. Deshalb glaube ich, dass die Literatur immer noch wichtig ist. Literatur ist nicht Geschichte. Literatur erfindet die Vergangenheit mithilfe von ein paar Details, die real waren, wenn vielleicht auch nur in unserer Vorstellung.
Vergeblich versuchte ich mir das leuchtende Grün des Efeus vorzustellen. Die Umrisse der Blätter blieben vage, ich hatte nicht ihre genaue Farbe vor Augen, sondern nur ein Schema, einen Schatten. Die Erinnerung setzte sich aus vielen verschiedenen Farben und Gerüchen zusammen, und ich bestimmte, welche Form sie annahm. Ich erschuf die Vergangenheit aus meinen Empfindungen, ich machte daraus meine eigene Zeit.
Aber eigentlich wollte ich dir nicht von dem Zitronenbaum oder dem Oleander und auch nicht vom Duft von Tante Patrícias Garten erzählen.
Seit vier Jahren fotografiere ich die sogenannte Wirklichkeit. Ich bin erfolgreich, was kein besonderes Verdienst ist - schließlich kenne ich das Elend dieses Landes. Die Kritiker bezeichnen mich als einen der besten Porträtfotografen. Sie benutzen das Maskulinum, und tatsächlich weiß ich nicht, mit welcher Frau sie mich vergleichen könnten . Im Grunde ist es amüsant, in einem Land, das so klein ist wie unseres, in was auch immer als der oder die Beste zu gelten. Eine Zeit lang habe ich es sogar geglaubt. Du musst dich nur ein kleines bisschen von den anderen abheben, schon wird über dich berichtet . Dabei kennen sie dein Werk nicht einmal. Sie schmeicheln deiner Eitelkeit, und sofort hältst du dich für ein kleines Genie. So klein wie das ganze Land.
Und dann hältst du eines Tages inne, betrachtest dein Werk, vergleichst es mit anderen und stellst fest, dass du ordentliches Mittelmaß in einem Land ordentlicher Krämerseelen bist . Gerade heute habe ich mit Jordi darüber gesprochen. Ich sagte zu ihm: Wir suchen nicht etwa nach der grausamsten Wirklichkeit, um den Schmerz zu lindern, sondern um ihn abzubilden, und dafür wollen wir bewundert werden. Ich sagte, ich hätte Lust, eine Weile mit dem Fotografieren aufzuhören, ich sei es leid, immer wieder den flüchtigen Augenblick der Ereignisse einzufangen, die exakte äußerliche Wirklichkeit wiederzugeben. Als wären meine Augen eine Kamera, die immer ins Außen gerichtet ist. Viel lieber würde ich herausfinden, was in meinem Inneren passiert. Jordi hat mich nur geistesabwesend angelächelt. Er hat seinen eigenen Wahnsinn, angesiedelt irgendwo zwischen Experiment und Engagement. Wie du ist er Geisteswissenschaftler, und seine Arbeit stützt sich auf eine konkrete Sprache und Kultur. Er hat seine Milch auf einen Schluck ausgetrunken und ist gegangen, weil er es eilig hatte, Anna zu treffen, eine ehemalige Kommilitonin. (Jordi hat es immer eilig. Eine typische Szene mit ihm läuft so ab: Ich will etwas mit ihm besprechen, ihm etwas erzählen oder einfach nur eine Bemerkung fallen lassen, da stopft er hastig seine Papiere in die Aktentasche und erklärt mir, er könne sich damit jetzt nicht aufhalten, er sei in Eile. Ich sehe Jordi vor mir, wie er nervös seine Papiere in die Tasche steckt. Ich sehe Jordi, die Papiere, die Aktentasche und höre ihn sagen: nicht jetzt, nicht jetzt, wir reden später .) Mit Anna hat er sich vor zwei Tagen verabredet. Anscheinend findet er es höchst amüsant, sich mit dem ehemaligen »Liebchen« der Studentenführer aus den Sechzigern zu treffen. Die jetzt »eine adrette Frisur hat«, wie er sagt.
Jetzt sitze ich hier allein, mit dem Kugelschreiber vor einem weißen Blatt Papier. Vor ein paar Monaten hätte ich dich vielleicht nicht gebeten, etwas über Judit und Kati zu schreiben. Aber da lebte Papà noch, und ich kannte keine Fakten, also die Fakten aus Mamàs Tagebuch und den Familienbriefen, meine ich. Du wirst es nicht glauben, aber dieser ganze Papierstapel hat mich dazu gebracht, über mich selbst nachzudenken. In mich hineinzublicken. (Hast du schon mal versucht, in den Spiegel zu schauen, ohne zu überprüfen, ob du noch jung oder attraktiv bist? Ich meine, in den Spiegel zu schauen und dich nur auf deine Augen zu konzentrieren, deinen Blick? Versuch es mal: Es ist schwer, deine eigene Blöße länger auszuhalten .)
Weißt du was? Ich glaube, Jordi möchte zu Agnès zurück. Und du errätst nie, warum . Ich habe gehört, er hätte sich in eine junge Frau verliebt, in eine, die sehr viel jünger ist als ich. Ein Mädchen, das wahrscheinlich weniger von ihm verlangt, das ihn auf eine Weise liebt, die sich mit Agnès vereinen lässt. Ist das nicht zum Lachen? Ich weiß nicht mehr, wer kürzlich zu mir sagte: Egal, wie großherzig und intelligent Männer sind - wenn sie dich ersetzen wollen, suchen sie sich immer etwas Weibliches, Junges, Hübsches. Ich glaube, die Bemerkung fiel in den Kreisen jener Feministinnen, die alles, was passiert, entweder der Kategorie »der Mann, der Schuft« oder »die Frau, das Opfer« zuordnen. Oder kam sie am Ende von dir? Ich könnte es dir nicht verübeln. Ich hätte dir das Gleiche gesagt. Gedacht habe ich es mir jedenfalls, als Ferran so lange brauchte, um dir zu gestehen, dass er sich in eine dieser langbeinigen Schönheiten verliebt hatte (aber...
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