Schweitzer Fachinformationen
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THE LAST FREE PLACE. Die weißen Buchstaben waren offensichtlich mit einem dicken Pinsel auf die rote Wand gemalt worden. Wie das SLAB CITY darüber und das ALMOST THERE darunter. Der Rest des kleinen Betonquaders, der vielleicht mal der Checkpoint für die Wachsoldaten war, ist mit Graffiti übersät. Ich holpere mit meinem Truck an ihm vorbei über den rauen Asphalt der Straße, die sich die Wüste zunehmend zurückzuholen scheint. Überall Risse und Schlaglöcher im Belag, der an den Rändern zerbröckelt und von Sand zugedeckt wird.
Slab City, California. Ein Ort, der eigentlich gar keiner ist, mitten in der Sonora-Wüste, knapp 300 Kilometer südöstlich von Los Angeles, gleich neben Salton Sea, dem großen Salzsee von Kalifornien. Eine gute Stunde braucht man mit dem Auto von hier bis zur mexikanischen Grenze, wenn man schnurstracks gen Süden fährt. Während des Zweiten Weltkriegs hatte die US Navy hier ein Trainingscamp. Als das in den Fünfzigerjahren allmählich aufgelöst wurde, blieben am Ende nur die slabs zurück, Betonfundamente, auf denen einst die Gebäude standen. Die wurden dann, genauso wie das Land drum herum, mehr und mehr von Dauercampern und Obdachlosen in Beschlag genommen. Ein paar Hundert mögen es inzwischen sein. Außer im Winter, wenn die snowbirds aus dem Norden mit ihren Wohnmobilen dazukommen. Dann wächst die Einwohnerzahl ins Vierstellige.
Der Name trügt, Slab City ist keine Stadt, sondern vielmehr ein Lager, eine Kolonie von Outlaws, Aussteigern und Heimatlosen. Am Wochenende treffen sich die slabber zur Karaoke Night bei The Range, einer Open-Air-Bühne, die auch in Into the Wild eine Rolle spielt. Genauso wie Salvation Mountain, das Lebenswerk eines greisen Mannes, der über Jahrzehnte seine schrill-bunte Vision mit der Botschaft »God is Love« auf einen steinigen Hang am Rand von Slab City pinselte.
Durch Sean Penns Verfilmung von Jon Krakauers Buch bin ich zum ersten Mal auf Slab City aufmerksam geworden. Da muss ich mal hin, dachte ich. Und jetzt bin ich hier. Links und rechts an der Hauptstraße parken unterschiedlich schlecht erhaltene Wohnwagen aus mindestens fünf Jahrzehnten unter den wenigen Bäumen, die Schatten spenden. Dazwischen alte Holzpaletten, ein paar Kakteen, Solarpanels, Schrott. Was für ein herrlich abgefuckter Ort!
Ich habe eine Schwäche für skurrile, marode Plätze. Deshalb bin ich hier. Und weil ich hier ungestört arbeiten kann. Denn ein Boot in der Wüste zu bauen ist ja sonst ziemlich sinnbefreit. Von Noah und seiner Arche mal abgesehen. Außerdem zieht die Anarchie von Slab City besondere, inspirierende Typen an.
»Ich bin Rodney, aber alle nennen mich Spyder«, begrüßt mich mein Gastgeber, als ich Loretta vor der California Ponderosa parke, seinem Grundstück ganz am Ostrand von Slab City. Loretta ist Baujahr 74. Ich hatte sie fürs Yukon-Abenteuer gekauft und mich damals unsterblich in sie verliebt. Aber das ist eine andere Geschichte.
»Weil ich an Orte komme, an die sonst keiner kommt«, erklärt Spyder seinen Spitznamen. »Früher habe ich für jemanden gearbeitet, der Häuser angehoben und versetzt hat. Da bin ich überall reingekrochen, wo niemand hinwollte.«
Er ist Anfang fünfzig, groß, schlank, fast hager. Mit wildem, zerzaustem Haar, grauem Ziegenbart und ohne Zähne. Sein künstliches Gebiss trägt er fast nie, passt nicht richtig, sagt er. Seine sehnigen Arme sind übersät mit kruden, verblichenen Tattoos, er trägt ein leuchtend rotes Spiderman-T-Shirt. Spyder ist mein Airbnb-Host in Slab City. Ja, es gibt hier draußen zwar eigentlich keinen Strom und kein fließend Wasser, aber dank Generator, Solarpanel und Satellitentechnik ist Spyder vernetzt und sogar Superhost bei Airbnb. Er vermietet mir die slabbin cabin, einen staubigen Bretterverschlag ohne Fenster, aber mit bequemem Kingsize-Bett. Wände und Decke sind mit blauer Bauplane überzogen, quer darüber schlängelt sich eine bunte Lichterkette. Eine Handvoll weiterer Hütten und alte Trailer sind wie eine Wagenburg arrangiert, umrahmt von einem schiefen Bretterzaun. In dem stecken in regelmäßigem Abstand Metallstangen. An ihren Enden flattern Flaggen verschiedener Länder, gegen die der Wüstenwind peitscht. Griechenland, Portugal, die Niederlande und natürlich das Star-Spangled Banner der USA, das sich den Mast am hölzernen Torbogen mit der finnischen Fahne und der regenbogenfarbenen Friedensflagge teilt.
»Ponderosa bedeutet für mich Familie«, sagt Spyder. »Ich will nicht, dass du als Freund kommst, sondern Teil meiner Familie wirst.«
Das ist Spyder so wichtig, weil er selbst keine hatte, wie er mir Tage später abends auf dem Sofa an seiner Feuerstelle verrät. Fünf seiner sechs Söhne hat er seit Jahren nicht gesehen, die Mutter möchte das nicht. Jetzt ist er mit Shannon zusammen und lebt seit sieben Jahren mit ihr, ihren beiden Kindern und seinem 22-jährigen Sohn Daniel in Slab City.
»Slab City ist ein guter Platz, auch wenn die Leute behaupten, dass es hier knallhart zugeht und alle primitiv und widerlich wären. Aber das stimmt nicht. Hier gibt es jede Menge Kunst. Wie diesen Baum hier.«
Spyder deutet auf den Stumpf, den er vor Jahren irgendwo aufgesammelt und hier in ein trockenes Kakteenbeet gepflanzt hat. Um den Stamm rankt sich eine Lichterkette, von den kahlen Ästen baumeln Weihnachtskugeln, Traumfänger und Windspiele.
»Oder meine Trailer, sogar das Boot, das du baust. Das ist alles Kunst«, sagt er. »Es kommt nur drauf an, wie man es betrachtet. Für dich ist es Arbeit, für mich ist es Kunst.« Die vermeintlich kunstvolle Arbeit wird sich während meiner Zeit hier in Slab City leider allzu oft als Quälerei entpuppen. Aber erst einmal muss ich Loretta entladen.
Ich richte mich in meiner cabin ein und beschließe, sie nur als Lager und Aufenthaltsraum zu nutzen. Zum Schlafen ist es einfach zu heiß und zu staubig. Neben das Bett stelle ich meine Küchenkiste mit allerlei Utensilien und Zutaten auf den nackten Wüstenboden: Schneidebrett, Messer, Becher, Teller, Essig, Öl, Gewürze. Ich werde mich in den nächsten Tagen selbst versorgen. Auch die Kühlbox mit Tomaten, Käse, Karotten und Gurken verstaue ich in der Hütte. Kleidung, Bücher und Computer lege ich aufs Bett. Auf der Kommode neben der Tür arrangiere ich Werkzeuge und Baumaterial: Säge, Bohrer, Maßband, Schleifpapier, Schrauben.
Am nächsten Tag baue ich mir gemeinsam mit Spyders Sohn Daniel einen schattigen Platz zum Arbeiten. Ich solle mich einfach bedienen, hat Spyder angeboten und auf einen großen Haufen Schrott hinter den Plumpsklos gezeigt. Tatsächlich finden wir ein paar Winkeleisen, die wohl mal zu einem großen Zelt oder Pavillon gehört haben. In ihre offenen, hohlen Enden stecken wir etwa zwei Meter lange Kanthölzer, schrauben weitere Kanthölzer quer darüber und verbinden die Enden auf die gleiche Weise, bis ein halbwegs stabiler rechteckiger Rahmen auf beiden Seiten der Winkeleisen entstanden ist. Sieht ein bisschen aus wie ein tragbares Spitzdach ohne Dachziegel, für das der Meister seine Gesellen allerdings wahrscheinlich feuern würde. Daniel und ich hingegen sind happy, richten das Gerüst auf und legen ein Ende des Rahmens aufs Dach meiner cabin, das andere steht auf dem Boden. Zum Schluss ziehen wir noch eine riesige Plane mit Camouflagemuster darüber, fertig ist die improvisierte Arbeitsgarage. Wir sichern alles mit jeder Menge Seil, das wir um Plane und Gerüst wickeln und an der Hütte festknoten. Um das Ganze am Boden zu fixieren, rollen wir alte Autoreifen auf die überschüssigen Enden der Plane. Dann hefte ich noch ein paar alte Decken mit Baumarktklemmen an die Rückseite und schiebe drei hüfthohe blaue Kunststofftonnen aus Spyders Fundus hinein, die die Decken spannen und mir so den nötigen Platz zum Arbeiten verschaffen. Nicht schön, aber funktionell, als guter Schutz vor Sonne und Wind, hoffe ich. Es kann losgehen.
Ich bin nervös. Ist das wirklich der richtige Ort für den Bootsbau? Wenn ich mal losgelegt habe, muss ich das Kajak auch hier fertig bauen. Denn erst dann ist es transportfähig. Solange hänge ich hier fest. Zwei Wochen in der Wüste. Anfangs fremdle ich noch, vor allem mit Spyders rauem Ton. Vieles ist fucked, wenn ihm was nicht passt. »My way or the highway«, tönt er am Lagerfeuer, und »I know I'm an asshole«. Und doch ist er auch warmherzig und großzügig. Schon am zweiten Abend bringt er mir einen Pappteller mit Chicken Wings und Gemüse in mein improvisiertes Zelt. »Jetzt iss erst mal was.« Raue Schale, weicher Kern? Ist es der Jähzorn, der uns verbindet? Vielleicht benutze ich nicht so häufig das F-Wort, aber meinen Frust bewältige auch ich am liebsten laut schreiend. Alles muss raus! Früher war das ganz anders. Bloß nicht auffallen, eigentlich war ich immer introvertiert und schüchtern. Schluck's runter, bleib ruhig. Das hat sich geändert. Selbstbeherrschung macht Magengeschwüre, rede ich mir ein. Also brülle ich, manchmal fliegen auch die Fetzen oder Werkzeuge, je nachdem, was gerade so greifbar ist. Gewalttätig bin ich dabei nie, schon gar nicht gegen andere. Aber gelegentlich doch so heftig, dass ich mich hinterher schäme. Ob es Spyder bei seinen Wutausbrüchen auch so geht?
Den Bausatz fürs Kajak habe ich auf der Fahrt aus Los Angeles, wo Loretta über den Winter bei Freunden parkte, bei Marc in Redlands abgeholt. Er hat ihn selbst entworfen. Eigentlich ist er Dozent für Wirtschaftswissenschaften. Aber Fliegen und Boote fand er schon...
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