Schweitzer Fachinformationen
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Eingehüllt in Schafsfelle, mit dem Rücken zum Feuer, sitzt sie gebeugt über ein Buch. So tief gebeugt, daß der elegante junge Mann, der durch die niedrige Tür eingetreten ist, ihr Gesicht nicht sehen kann. Auch trägt sie wegen der Kälte einen großen Hut, kreisrund mit einem breiten, dunklen Pelzrand. Der Mann hält sein Taschentuch vor Mund und Nase gepreßt. Das ist nicht höflich, und er wird das Tuch sinken lassen müssen, sobald sie aufsieht. Aber es stinkt hier. Er schnüffelt. Irgendwie ranzig nach alter Haut. Die Frau in ihrem Stuhl sieht nicht auf, und auch die einströmende Winterluft des Jahres 1761 scheint sie nicht zu spüren. Entweder schläft sie über ihrem Buch oder sie ist gerade gestorben. Und ist sie tot und nur scheinbar noch am Leben, kann er gleich wieder gehen, obwohl er eigens ihretwegen gekommen ist, um sie anzusehen, wie man eine Frau ansieht, von der man allerhand weiß.
Draußen wird es bald dunkel werden. Auf ihrem Schoß liegt ein Buch, viele hundert Seiten stark, Goldschnitt, ein dicker Wälzer. Er sieht an sich herunter. Er hat sich fein gemacht für den Besuch bei ihr. Neue Stiefel, neuer Anzug, von Kopf bis Fuß völlig neu eingekleidet, und nichts davon gehört ihm. Geliehen, geborgt, organisiert könnte man sagen. Er hat kein Geld, er muß nichts besitzen. Nicht einmal das Pferd da draußen gehört ihm. Was er braucht, das findet sich.
Er hat sich schmutzig gemacht, seine hellen Saffianhandschuhe sind verschmiert. Ihm ist schwindelig geworden beim Hinaufsteigen der Wendeltreppe. Am Türpfosten hat er sich festhalten müssen, und der Holzrahmen ist, wie die Wände hier drinnen, das sieht er jetzt deutlich, nahezu schwarz von Ruß. Eigentlich kann man von Zimmerwänden nicht reden, es ist eine rund umlaufende Turmwand, nackter Stein, schlecht verputzt, und vom Boden bis zur Decke alles völlig verrußt. Im Hintergrund steht ein Bett. Ihr Bett. Natürlich ist das ihr Bett. Außer ihr wohnt niemand sonst hier. Nur sie. Denken muß er dabei an ihn. Und überall Bücher. Bücherstapel neben dem Bett, der Steinboden bedeckt mit Büchern, Bücher reihenweise die Wand hochgetürmt bis zum Fenster, und neben ihrem Stuhl dicke Folianten aufgestapelt zu zwei kleinen Mauern rechts und links. Sogar ihre Füße hat sie auf Bücher gestellt. So einen Stuhl hat er noch nie gesehen, ohne Rückenlehne, und es fragt sich, wie eine so alte Frau darin aufrecht sitzen kann. Allerdings sind da die zwei Armstützen, wunderschön zu beiden Seiten bauchig ausschwingend und endend in einer dem Körper angepaßten Höhe. Darauf die Unterarme abgelegt, sitzt man hübsch gerade in guter Haltung.
Aber sie ist in sich zusammengesunken.
Von der Decke herab hängt eine Öllampe, die brennt und blakt. Die, denkt er, müßte man auch mal putzen.
Die Bücher wärmen die Cosel. Sie starrt auf das Stiefelpaar. Ein elegantes Paar, Wildleder, gut gearbeitet. Von Qualität versteht sie etwas. Er wird bleiben. Sie hat ihn gleich bemerkt, gleich beim Eintreten, und an seinen beiden Stiefelspitzen seine Unschlüssigkeit erkannt. Wozu fortgehen? Nichts mehr entscheiden müssen, um nichts streiten müssen, um nichts. Für sie ist gesorgt, schlecht gesorgt, doch gesorgt. Hinter dieser Mauer. Immer von dem, der gerade regiert, egal wer. Man hat, was sie besaß, zu treuen Händen beschlagnahmt. Seitdem liest sie. Und denkt. So viel sie will. Sie hat gelernt, was nicht immer geht. Gefühlen bis in die Tiefe nachzudenken. Das ist ihr Besitz und ihr Gesetz.
Der klobige Holzscheit ist in der Mitte durchgebrannt. Die Ofentür steht offen. Hinter ihrem Rücken zersprüht auffliegende Glut, und weil er fürchtet, sie könne plötzlich vor ihm in Flammen stehen, macht er einen Schritt hin zu ihr und auf sie zu und ist in seinen Wildlederstiefeln nun endlich eingetreten. Durch die Feuerluft taumeln verkohlte Papierfetzen. Es stinkt nach verbranntem Haar und Hammelfett. Funken verglühen im Schafsfell.
Die Cosel hat damit begonnen, Briefe zu verbrennen, Abschriften ihrer vielen Bittbriefe an den Geheimen Rat zu Dresden um Nahrung, um Geld, um Leinwand, um Freiheit. Hunderte von Bittschriften und nur wenige Antworten. Sie will nicht alles verbrennen. Nicht ihre Nachtbücher, nicht ihre philosophischen Betrachtungen und ihre naturkundlichen Beobachtungen, ihre medizinischen Experimente, aufgeschrieben in über vierzig Jahren Einsamkeit. Davon soll die Welt erfahren. Draußen geschieht etwas. Man hat ihr gesagt, sie könne jetzt gehen. Wohin denn? Sie könne gehen in alle Himmelsrichtungen, wohin auch immer. Ist das ihre Befreiung? Hat man ihr endlich Recht zugesprochen? Der Offizier hat salutiert, es sei niemand mehr da, sie zu bewachen. Dann kann ich auch bleiben. Das sei dann ihre Entscheidung, in diesem Falle müsse sie ihm etwas unterschreiben.
Ich unterschreibe nur noch mein Testament.
Unter dem schwarzbraunen Pelzring hebt sie ihren Kopf. Wie eine dunkle Sonne, denkt er und nimmt rasch sein Taschentuch vom Mund, steckt es ein und holt tief Luft. Das sind die Bücher, die stinken, die Gräfin stinkt nicht, ihre Bücher riechen säuerlich und muffig nach Schimmel und fauler Feuchtigkeit. Auch die Cosel hält sich etwas vor den Mund, einen Brokatfetzen, der eine Stola gewesen sein könnte. Sie bedeckt ihre eingefallenen Lippen, denn es fehlen ihr einige Zähne.
Das also ist sie. Erschrocken stellt er fest, daß die schöne Cosel alt geworden ist.
Sie mustert ihn. Er ist ziemlich erschüttert und wird hoffentlich bald damit fertig sein, denn viel Zeit hat sie nicht mehr. Er ist jung und für ihren Geschmack viel zu dünn, er kann sie unmöglich kennen, niemand kennt sie mehr, niemand, der die Gräfin Cosel gekannt hat, lebt noch. Auch sie kennt niemanden mehr. Die sie gekannt haben, sind tot. Ihr Sohn lebt noch. Sie kennt ihn kaum, er kennt sie noch weniger. Und eine ihrer beiden Töchter. Die ist jetzt auch schon alt. Ist der ihr Sohn? Er wäre nicht allein gekommen, niemals ist er allein zu ihr gekommen, so selten wie er kam, sehr selten, so gut wie nie. Sie hört nach draußen. Ihr Sohn wäre mit Gefolge gekommen, und draußen ist alles still. Die Soldaten sind abgezogen, die werden woanders gebraucht. Es ist wieder Krieg. Krieg ist immer irgendwo, und Sterbenmüssen. Ihre Erstgeborene ist tot. Dann ist da noch eines gewesen. Noch vor der Ersten. Noch vor der Ehe. Das kam aus ihr. Herausgequält. Und weg. Eine Magd hatte bereitgestanden. Wenn das noch lebte, wäre es älter als dieser da.
Er macht einen Schritt auf sie zu, tritt dabei versehentlich auf mehrere Bücher am Boden, will sich galant über ihre Hand beugen, stolpert, klammert sich an diese Hand aus brüchigem Leder, schrundig, gichtig, und dennoch die Hand einer Dame des Hochadels. Sein gespitzter Mund rutscht ab und zielt ins Leere. Fast wäre er gefallen. Aber sie hält ihn. Sie hat ja Kraft, denkt er und küßt ihre Hand, dabei machen seine Lippen ein Schmatzgeräusch. Das ist nicht vornehm.
Die Cosel hat die Berührung schon eingesogen.
Er sieht auf und in ihre Augen. Sie freut sich. Noch immer über ihre Hand gebeugt, wird er rot, und später wird er Masia davon erzählen und vergeblich nach Worten suchen für diese dunklen Augen, als wäre unter einer vielfach gerissenen Lehmkruste noch immer die junge, die schöne, die kluge, die mutige, die stolze, und er wird ins Schwärmen geraten und sich darin verlaufen. Wieso hat die Welt diese Frau vergessen? Wieso spricht alle Welt von der Pompadour und niemand von der Cosel? Auch sie spricht zu ihm sofort von der Pompadour.
Sie besuchen mich im 45sten Jahr meiner Gefangenschaft. Lebt die Pompadour noch? Und noch bei Hofe?
Ihre Stimme ist rauh, sie parliert Französisch hinter ihrem Brokatfetzen. Konsonanten verlispeln in Zahnlücken, Vokale verleiern gurgelnd in der Tiefe ihrer Stimme. Er muß genau hinhören und antwortet auf Deutsch. Sein Französisch ist miserabel. Die Pompadour lebe, sie mache Politik. Die Pompadour ist etwa so jung, wie die Cosel war, als sie verhaftet wurde, Mitte dreißig, und in Rußland wird die Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die junge Katharina, in ein paar Monaten Zarin sein. Frauen kommen zur Macht, und sie sitzt hier, Anna Constantia Gräfin von Cosel, lebenslänglich eingesperrte Maîtresse en titre, Mätresse von August dem Starken, sächsischer Kurfürst und als August II. König von Polen. Er ist tot, seit fast dreißig Jahren.
Sie hat ihn etwas gefragt. Wer er sei.
Ich?
Sie nickt.
Er ist vorbereitet. Der Weg zu ihr ist weit gewesen, über zwei Jahrhunderte, er hat ihn im Flug oder besser gesagt in einem Zug zurückgelegt, lesend in einem Buch, er liest gern im Zug, und unterwegs ein Schild mit der Aufschrift Ritterstraße. Masius Ritter vom Bleiberg, er verneigt sich. Er sei nach Belieben ein Passant, ein Vorübergehender, ein neugieriger Zeitgenosse, wo immer man ihn brauche gegenwärtig. Die elegante Kleidung habe er sich eigens für sie besorgt.
Und zwar wo? Die Mode ist ihr unbekannt.
In einem großen Basar, hell und glitzernd, überall Waren, Düfte, Stoffe, Schuhe, Kleider, Röcke, auch Gläser und Geschirr, feinstes Porzellan.
Das interessiert sie. Weißes Porzellan? Hauchdünn wie aus China? Oder derb, mehr wie bräunliches Tongeschirr?
Er ist schon weiter und zwischen Kleiderständern, elegant geschnittene Jacketts, tailliert, breite Revers, im Rückenteil mit faltenreichem Schoß, Hosenanzüge auch für Damen, Dreiviertelbein mit Aufschlag, dazu schmale Stiefel, hohe Absätze, geknöpft, gebunden.
Etwas für die Orzelska, denkt sie, das hätte der gefallen, dem polnischen Bankert, am liebsten wie ein Mann gekleidet, von einer Warschauer Weinhändlerstochter das Balg, reitet und kämpft...
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