Schweitzer Fachinformationen
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Träume hatte Ebba immer geliebt. Bereits vor dem Einschlafen hatte sie sich ausgemalt, darin an schöne Orte zu reisen oder besondere Momente ein weiteres Mal zu erleben. Einen Spaziergang am Meer, bei dem sie das Knirschen des Sandes unter ihren Füßen und den Wind in ihren Haaren spürte. Die Kraft, die sie in dem Moment durchströmte, in dem ihr Kopf und ihr Körper sich leicht und frei anfühlten, offen für jedes neue Abenteuer. Oder ein Sonnenuntergang im Arm ihres Herzensmenschen. Eingekuschelt in eine Decke und im Strandkorb geschützt vor der kühlen Luft, die der Abend mit sich brachte. Sogar im Traum breitete sich dann eine Wärme in ihr aus, die Geborgenheit verkörperte. Und Sehnsucht. Nach dem Sonnenuntergang am Meer und nach diesem Mann. Danach, wie sie zu zweit den magischen Moment genießen, in dem der leuchtend rote Ball mehr und mehr hinter dem Horizont verschwindet und es Nacht wird. Wachte sie aus einem dieser Träume auf, startete sie wie auf Wolken in den Tag.
Es kam viele Jahre selten vor, dass sie von etwas Schrecklichem träumte. Und wenn, dann war er beim Aufwachen da gewesen, immer. Groß und kräftig wie ein Beschützer. Er war ihre Schulter zum Anlehnen gewesen. Wenn sie aus einem dieser Albträume schweißgebadet hochschreckte, hatte er sie sanft an sich gezogen. Dann hatte er seine wohlig warme Decke mit um ihren zitternden Körper gewickelt, den Arm um sie gelegt und sie gestreichelt, bis ihr Atem sich beruhigte, ihr Puls langsamer wurde und sie wieder zur Ruhe kam. Denn wenn sie unschön träumte, verspürte sie die Angst aus diesen Träumen genauso intensiv wie die Leichtigkeit der Träume, die sie schon beim Aufstehen vor guter Laune schweben ließen.
Nächtelang erlebte sie den Tag im Herbst noch einmal, an dem sie und ihre große Liebe sich kennengelernt hatten. Sie, die 24-jährige Hamburger Deern, war ohne Begleitung zu einer Wattwanderung aufgebrochen. Zu dieser Jahreszeit konnte ein solcher Weg durch das Watt schon etwas unbehaglich sein. Das Wetter zeigte sich auch an diesem Tag tatsächlich von seiner rausten Seite und ein scharfer Wind zog um das Reetdachhaus in ihrem Lieblingsort Keitum auf Sylt, in dem ihre gemütliche Ferienwohnung sich befand. Von außen konnte man das Haus als Motiv für jede Postkarte verwenden. Die blau gestrichenen Fenster und der rote Backstein vor dem wilden Blumengarten waren typisch für den malerischen Ort. Die Sylter Rose zierte den Friesenwall, der das Haus umgab. Im Frühling und Sommer würde eine Sitzecke aus weißen Holzbänken und einem Tisch inmitten von Hortensien zum Essen im Garten einladen. Aber auch im Innern empfing den Gast eine wohlige Atmosphäre. Die Wohnung war in einem ursprünglichen, friesischen Stil eingerichtet, mit vielen maritimen Accessoires wie kleinen Ankern und von der See geformten Treibholz-Stücken. Kombiniert mit modernen Details wie dimmbarem Licht und neuem Holzboden, versprühte dieses kleine Refugium Behaglichkeit. Ebba hatte für ihre Auszeit, die sie sich gegönnt hatte, um nachzudenken, dieses ganz besondere Appartement ausgesucht, um dem Herbst in jeder noch so unwirtlichen Wetterlage mit einem angenehmen Rückzugsort begegnen zu können. Sie zog sich eine warme Jacke und eine Wollmütze an und freute sich auf den Weg durch das Watt, denn genau so, in dieser Atmosphäre, liebte sie es, hier an der See zu sein. Das war es doch, was die Insel ausmachte. Hier traf ein schroffer Wind auf die Sonne, vor der die Wolken schnell vorbeizogen. Nicht immer war das Klima gemütlich, aber jederzeit ehrlich und einzigartig. Das Licht, der Wind und die Einsamkeit am Watt verliehen ihr Kraft. Also lief sie los. Sie genoss in dieser frühen Stunde die Stille. Sie hörte nur den Schlick unter ihren Füßen, der jeden Schritt mit einem satten Schmatzgeräusch quittierte. Ihr waren noch keine anderen Menschen begegnet. Ein paar Möwen kreisten um sie herum, setzten hier und da zum schnellen Sturzflug an, um einen kleinen Krebs oder einen Wattwurm zu schnappen. An ihren Gummistiefeln zog der nasse Sand, der ihr den Gang erschwerte, sie aber nicht aufhielt weiterzulaufen. So war sie hinaus ins Watt marschiert, vollkommen in Gedanken vertieft, wie es für sie weitergehen sollte. Sie liebte Hamburg, aber noch viel mehr zog es sie nach Sylt. Aber wie sollte sie jemals Fuß fassen auf einer Insel mit einem Beruf, der hier auszusterben drohte? Hebammen wurden zwar gebraucht, gingen aber immer häufiger aufs Festland. Zu gering waren die Aussichten hier für sie, wo man die Schwangeren eher nach Husum oder Flensburg ausflog, weil es hier kein Krankenhaus mehr für sie gab. Vor lauter Nachdenken merkte sie nicht, dass das Wasser allmählich näherkam. Erst das leise Plätschern neben ihren Füßen machte sie darauf aufmerksam. Als sie sich umdrehte, stellte sie mit Entsetzen fest, dass das Meer sie im Rücken in Richtung Land bereits komplett umschlossen hatte. Sie konnte nicht abschätzen, wie tief das Wasser in den Prielen mittlerweile war. Die ruhige, sanft glitzernde Wasseroberfläche strahlte eine täuschende Friedlichkeit aus. Die Bilder waren selbst im Traum so real. Noch heute überkam sie beim Gedanken daran Panik. Sie fühlte dann ihren Herzschlag, der damals in ihrer Brust raste.
Mit einem Mal war er da, kopfschüttelnd und leise vor sich hin fluchend war er ihr barfuß entgegengestapft. Die Jeanshose locker bis zu den Knien hochgekrempelt, watete er auf sie zu. Sie zog einen Fuß hoch, woraufhin ihr Gummistiefel stecken blieb. Noch ehe es ihr gelang ihn herauszuziehen, kippte er um und füllte sich mit Wasser. Kurzerhand zog sie auch den anderen Stiefel aus, dazu ihre Socken. Nun war sie ebenso barfuß wie der gutaussehende Mann, der mittlerweile fast bei ihr angekommen war. Trotz ihrer misslichen Lage zog in dem Moment, in dem sie ihm gegenüberstand, ein wohliges Kribbeln über ihre Haut und ihr Blick haftete an ihm. Er sah gut aus, groß und sportlich. Ausdrucksstarke blaue Augen, markante Wangenknochen und volles, vom Wind ganz zerzaustes braunes Haar. Dunkle, zusammengezogene Augenbrauen gaben seinem Gesicht einen ernsten Zug. Um die aufeinandergepressten Lippen herum erkannte sie zwar Lachfalten, in diesem Moment aber schaute er eher grimmig drein. Bärbeißig wäre wohl ein passender Ausdruck gewesen, um seine Miene zu beschreiben. Doch der verständnislose Gesichtsausdruck tat seiner Attraktivität keinen Abbruch.
Seine Blicke und die Art, wie er Luft durch die Lippen stieß, hatten ihr ohne viele Worte zu verstehen gegeben, dass er, der das Wetter und die Gezeiten von Kindesbeinen an kannte und mit ihnen lebte, über ihre Naivität nur den Kopf schütteln konnte. Er murmelte etwas vor sich hin und deutete ihr mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken Richtung Strand an, ihr zu folgen. Ebba watete ihm hinterher, nachdem sie noch ihre halb versunkenen Gummistiefel geborgen hatte.
Dann hatte er sie mit gekonnten Schritten durch die niedrigsten Priele an Land geführt. Ebba sah im Traum seinen kräftigen Rücken, hinter dem sie sich locker hätte verstecken können. Er hatte sich nicht umgedreht und auch kein Gespräch gesucht. Die Kombination aus Fürsorge und Reserviertheit, die er verkörperte, faszinierten Ebba sofort.
Dennoch willigte er ein, als sie ihn als kleinen Dank in ein nahegelegenes Café einlud. In der friesischen Atmosphäre, in der sie dann einen Tee getrunken hatten, hatte sie sich in eine weiche Wolldecke vor einen gekachelten Ofen gekuschelt. Noch beim Gedanken daran spürte sie die Geborgenheit, die sie in dem Moment empfunden hatte. Am selben Abend waren sie in einem Restaurant gelandet und sie hatte mehr und mehr hinter die Fassade des vermeintlichen Grantlers schauen dürfen. In ihm steckte ein weicher Kern. Er war erstaunlich schnell aufgetaut, schien sie zu mögen. Sie war sich sicher, dass dabei die Selbstironie, mit der sie ihrer naiven Aktion im Nachhinein gegenüberstand, eine Rolle gespielt hatte.
Die Geschichte, die nach dieser Rettungsaktion zwischen ihnen ihren Anfang nahm, fühlte sich für Ebba unwirklich an wie ein Traum. In dieser Zeit hatte sie vielleicht deswegen so selten Albträume gehabt, weil es für sie keinen Grund mehr gab, welche zu haben. Sie hatte sich freigeschwommen aus der Geschichte des Mädchens, welches eine große Verantwortung auf den zarten Schultern trug, indem es jahrelang für seine Mutter die größte Stütze war. Das Kind, welches so oft so stark sein musste, weil der Vater ihre Mutter schwer enttäuscht und auf deren Seele dunkle Schatten hinterlassen hatte. Auch auf Ebbas. Das Bild einer heilen Familie in ihrer Kindheit sollte es nicht geben. Doch Ebba hatte es geschafft. Sie war glücklich geworden. Denn ihre Wunschvorstellung vom Leben auf der Insel schien an der Seite dieses Mannes in Erfüllung gegangen zu sein.
Wenn sie damals ihre Mutter in Hamburg besuchte, schwärmte sie von der Insel und versprach ihrer Mutter, sie zu sich zu holen, sobald der kleine Laden lief und sie ihr dort eine Wohnung mieten konnte. Ihre Mutter hatte immer gelacht und gesagt, dass man einen alten Baum nicht verpflanze. Dies hatte Ebba aber niemals gelten lassen, denn ihre Mutter und sie gehörten zusammen.
In den letzten fünf Jahren waren schöne Träume jedoch selten geworden. Seit dem Tag, an dem sie die Insel verlassen hatte, suchten sie beinahe täglich Albträume heim. Sie...
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