Kapitel 1
»Es gibt keine Zufälle. Es fällt einem zu, was fällig ist.«
(Sophokles)
Ich war wach, wobei der Zustand »Ich schlief nicht mehr« noch eher zutraf. Hätte ein Arzt mich so aufgefunden, hätte er vermutlich sofort mit diversen Wiederbelebungsmaßnahmen begonnen. Eine E-Mail, die auf meinem Display erschien, ließ mich jedoch schlagartig hellwach werden, jedenfalls was meinen Puls anging.
Absender: Vorstand
Betreff: Vertrauliche Personalangelegenheit.
Mir wurde endgültig schlecht. Bis gerade eben hatte ich noch gedacht, mir könnte gar nicht schlechter werden. Aber leider hatte ich in letzter Zeit beruflich nichts besonders Glorreiches auf die Beine gestellt, was Potenzial gehabt hätte, den Vorstand zu erreichen. Eine positive Nachricht konnte ich daher leider nahezu ausschließen. Wenn ich es mir recht überlegte, waren meine letzten Auftritte im Job sogar so wenig glorreich gewesen, dass es sich abzeichnete, jetzt auf jeden Fall unangenehm für mich zu werden.
Sehr geehrte Frau Lewalder,
den eher unglücklichen Verlauf des gestrigen Personalentwicklungsgespräches zwischen Ihnen und Ihrer Vorgesetzten Frau Hofmann nehme ich zum Anlass, Ihnen Gelegenheit zu geben, Grundlegendes zu überdenken. Gravierende Differenzen hinsichtlich unserer Vorstellungen von Loyalität und Zusammenarbeit lassen mich zweifeln, ob eine für beide Seiten erbauliche Kooperation weiterhin möglich ist.
Wir fahren mit der von Ihnen mehr als unmissverständlich kritisierten Strategie des Wettbewerbs der Mitarbeiter untereinander seit einiger Zeit sehr gut, weshalb wir auch nichts an dieser Strategie verändern werden.
Bitte überlegen Sie sich, ob Sie bereit sind, gewisse Strukturen zu akzeptieren oder ob Sie sich unter diesen Umständen beruflich umorientieren möchten. Wir stünden Ihren Plänen im zweiten Fall nicht im Wege. Bitte teilen Sie Ihrer Vorgesetzten umgehend Ihre Entscheidung mit.
Mit freundlichen Grüßen
Mecklenburg
-Vorstand-
Warum um alles in der Welt drehte sich mein Sofa gerade eigentlich so merkwürdig? Ich hielt mich lieber fest. Eigentlich war ich noch gar nicht soweit, den Tag zu starten. Nach dieser E-Mail wäre ich mit diesem Tag dann aber jetzt auch schon wieder durch.
Mein äußeres und inneres Erscheinungsbild, von dem ich mich eigentlich mit einem Blick in meinen E-Mail-Account hatte ablenken wollen, waren gleichermaßen besorgniserregend. Ein Tag zum im Bett bleiben. Weil mein Bett an diesem Morgen aber eher einer schlecht gewarteten Achterbahn glich, war dies aber auch nicht der Ort, an dem ich mich länger aufhalten wollte.
Eine weitere E-Mail poppte auf. Sie kam von meiner kleinen Schwester und allein diese Tatsache weckte in mir die leise Hoffnung auf ein wenig Seelenbalsam. Mühsam würgte ich einen großen Schluck Wasser herunter, mit dessen Hilfe ich drei Kopfschmerztabletten einnahm.
Dir geht es gerade so richtig schlecht. Du siehst elendig gruselig aus, hast fiese, dunkle Augenringe wie nach zehn Nächten Vollmond und dazu noch schlechten Atem. Dein Kopf dröhnt und der eh schon drei Größen zu kleine Helm auf deinem Kopf wird von Sekunde zu Sekunde immer enger. Dein Magen fährt Achterbahn und du hast dich und diesen Zombie im Spiegel bereits mehrfach gefragt, warum dich keiner vor dir selbst beschützt hat. Falls du dich überhaupt getraut hast, mit diesem Spiegelbild Kontakt aufzunehmen.
Ich schaute mich um. Hatte Marie heimlich eine Kamera installiert? Ich hatte leider Pech, denn auch meine Schwester schüttete eifrig Salz in meine Wunden.
So hart das klingt, mein kleines, großes Schwesterlein, leider bist du selbst für deine Situation verantwortlich. Und damit meine ich weniger deinen derzeitigen desolaten Körperzustand, das wird schon wieder. Such dir lieber einen neuen Job, der keinerlei durchzechte Nächte und Regenerationstage wie heute erforderlich macht - denn das hast du absolut nicht nötig und es würde dir diesen Anblick im Spiegel ersparen!
Wenn dir das mit dem Job nicht gelingt - gar kein Thema! Dann mach mich meinetwegen einfach zur Tante - wäre auch super! Aber please change something!
Deine kleine Schwester!
PS: Iss mal die Pizza, die ich dir ins Kühlfach gelegt hab<. Tut gut! Und vergiss nicht, dass ich dich alten, verkaterten Jammerlappen trotzdem unglaublich doll lieb hab< und immer für dich da bin!
Das war in der Tat die erste gute Nachricht an diesem Morgen. Doch »Morgen« war nicht ganz richtig, denn es war eher Mittagszeit und ich hatte bei Weitem schon repräsentativere Exemplare eines Starts in den Tag erlebt.
Die Pizza aber war in der Tat ein rettender Hinweis! Vielleicht würde die wenigstens meinen Magen wieder versöhnlich stimmen und auf dieser Basis könnte vielleicht eine friedliche Einigung zwischen meinem Kopf und dem Rest meines Körpers eingeläutet werden. Ich schob sie direkt in den Ofen. Ein gesundes Frühstück wurde ja auch absolut überbewertet.
Marie und meine Freundin Nele hatten mich am Vorabend als Häufchen Elend auf dem Sofa gefunden. Kauernd hinter einer Familien-Box Taschentüchern und einer riesigen Schale Chips wollte ich mich nur noch meinem Weltschmerz hingeben. Nach dem wenig erbaulichen Gespräch mit meiner Chefin war ich zutiefst frustriert auf meiner Couch gestrandet.
Passenderweise war mein Mann zu diesem Zeitpunkt noch auf Dienstreise. Gut, dass wenigstens die Chips-, Schokoladen- und Weinvorräte aufgefüllt waren, hatte ich mir gedacht. So war ich nicht ganz alleine.
Wahrscheinlich wäre ich nach ein paar Stunden unter einem Berg aus feuchten Taschentüchern, leeren Weingummitüten und ebenso leeren Flaschen mit Alkoholika ins Koma gefallen. Aber zu meinem Glück spürten Marie und Nele meistens bereits intuitiv, wenn sich in meinem Gefühlshaushalt eine Katastrophe ankündigte, und konnten wenigstens noch Schlimmeres verhindern als das, was sich mir nun im Spiegel bot. Das war auch so schon gruselig genug.
Nele, Marie und diverse Weinschorlen und Süßigkeiten konnten mich gestern, jedenfalls für den Moment, wieder in einen einigermaßen erträglichen Gefühlszustand befördern. Leider hatte ich diesen Zustand nach dem Aufwachen direkt wieder verlassen und ich fand den Weg dorthin gerade beim besten Willen nicht mehr zurück. Er war eher bedenklich.
Fazit meiner Freundin und meiner Schwester ob meines seelischen Zustandes vom Vorabend und schon vieler Wochen zuvor war: Ich musste mir dringend einen neuen Wirkungskreis suchen.
Mein Mann Julius war hinsichtlich seines Jobs derzeit selbst sehr gestresst, auch wenn er das nicht gerne zugab. Bevor ich ihn nun auch noch mit meinen Problemen belasten würde, wollte ich selber erst einmal wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich hatte sowieso gerade das Gefühl, dass ich kein wirklich repräsentatives Bild einer Person abgab, die als Vorbild in Sachen Zufriedenheit im Job fungieren könnte. Im Moment war ich schon froh darüber, dass es mir trotz des noch immer aggressiv hämmernden und schmerzmittelresistenten Kopfschmerzes gelungen war, überhaupt die E-Mails zu lesen.
Immer wieder musste ich kurz aus dem Fenster schauen. Die kleinen Buchstaben dachten nicht daran, einfach mal ein paar Minuten brav und still nebeneinander in der Reihe zu stehen, sondern tanzten wild durcheinander und schlugen abwechselnd Purzelbäume. Es schien, als habe sich an diesem Morgen alles gegen mich verschworen.
Ich lehnte mich vorsichtig zurück in meine Sofakissen und versuchte, die Gedanken in meinem Kopf zu sortieren. Die taten es aber leider den Buchstaben gleich und spielten Jahrmarkt. Der erste Bissen Pizza schien jedoch ein akzeptables Friedensangebot für meinen Magen zu sein und auch mein Kopf beruhigte sich langsam. Je weniger wuselig es sich in meinem Kopf anfühlte, desto klarer wurde mir aber, warum ich mich überhaupt in diesem jämmerlichen Zustand befand, und sicherheitshalber nestelte ich schon wieder nach der Big-Box Taschentücher.
Dabei fiel mir ein Buch vom Couchtisch. Meine Freundin und Kollegin Nele hatte es mir gestern mitgebracht. In meinem Kopf hatte sich ein riesiger Wattebausch unangenehm weit ausgebreitet, mit viel Mühe konnte ich mich aber an den Klappentext erinnern. Es war ein Ratgeber. Das war typisch für Nele. Nele strebte permanent nach Veränderung, war konsequent und ebenso erfolglos auf der Suche nach Mr. Right und dem Glück im Leben, und ein großer Fan von Ratgeberlektüre, die sie allen interessierten und weniger interessierten Mitmenschen in ihrem Umfeld aufzudrücken versuchte. Bisher hatte ich solche Lektüre immer weit von mir gewiesen. Viele Jahre lang ging es mir sehr gut und solche Bücher hatte ich natürlich nie nötig.
Wenn ich aber so an mir und den immer kleiner werdenden Beständen an Taschentüchern entlangschaute, sah es leider so aus, als hätte ich einen Ratgeber mittlerweile bitter nötig. Ich griff nach dem Buch und eine Karte fiel heraus.
Für meine Carla,
»Glück ist Talent für das Schicksal.« (Novalis)
Deine Nele.
Ein einigermaßen passables äußeres Erscheinungsbild und irgendein milder Grund mal wieder zu lächeln, würden mir ehrlich gesagt gerade schon reichen. An das ganz große Glück wagte ich...