Schweitzer Fachinformationen
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1. Kapitel
Als Lena die Tür der Kita hinter sich abschloss, war sie völlig erschöpft. Sie blickte an sich herab, sah das mit Farben und Nutella verschmierte T-Shirt und überlegte, ob sie noch mal nach drinnen gehen sollte, um sich umzuziehen. Soweit sie sich erinnern konnte, lag in ihrem Spind noch eine Bluse, die sie vor einigen Wochen vergessen hatte, aber die sah vermutlich auch nicht viel besser aus. Seufzend zuckte sie mit den Schultern. Egal. Sie musste nur noch ein paar Lebensmittel einkaufen, danach war der Tag zu Ende, zumindest, was sämtliche außerhäusigen Aktivitäten anbelangte, und dem kleinen grauen Kater, der sie regelmäßig besuchen kam, war es sowieso schnuppe, wie sie aussah.
Als sie zwanzig Minuten später den Supermarkt verließ, bekam sie gerade noch mit, wie ein großer Audi auf den Behindertenparkplatz fuhr, beide Plätze der Länge nach blockierte und ein offensichtlich in keiner Weise körperlich eingeschränkter Mann lässig aus dem Fahrzeug sprang. Mit offenem Mund sah sie ihm nach, wie er im Haus verschwand; von derart viel Rücksichtslosigkeit so verblüfft, dass sie keinen Ton herausbrachte. Und als sie ihre Stimme endlich wiedergefunden hatte, war er längst außer Sicht. Lena bückte sich wie in Trance, stellte ihren Korb auf den Gehweg und nahm den Karton mit den Eiern heraus. Zu dumm, dass sie nur eine Sechserpackung gekauft hatte. Die Hälfte benötigte sie für die Pfannkuchen, auf die sie sich schon den ganzen Tag freute, aber die anderen waren entbehrlich.
Genau in dem Moment, als das zweite Ei auf die Windschutzscheibe klatschte und Lena erneut in die Schachtel griff, kam der Besitzer des Wagens gemächlich aus dem Haus spaziert, eine Nachricht in sein Smartphone tippend, nichtsahnend, was ihn erwartete. Als er von seinem Handy aufschaute und merkte, was sich an seinem Auto abspielte, war er für einen Augenblick fassungslos. Dann wurden seine Schritte schneller. »Haben Sie den Verstand verloren?«, rief er mitten im Lauf. »Was soll das denn?«
Lena drehte sich, das dritte Ei bereits in der Hand, erschrocken zu der Stimme in ihrem Rücken herum, und ein Anflug von Schuldbewusstsein ließ ihr das Blut ins Gesicht schießen. Doch nach zwei Sekunden hatte sie sich wieder im Griff, und ihre ursprüngliche Wut gewann erneut die Oberhand. Sie war so aufgebracht, dass sie in Versuchung war, den Rest ihres Abendessens zu opfern und dem eingebildeten Fatzke die Eier an den Kopf zu werfen. Doch dann besann sie sich der guten Erziehung, die sie genossen hatte, und deutete auf das Straßenschild, das die beiden Plätze als für Behindertenfahrzeuge reserviert auswies, und mit der anderen Hand auf das Symbol auf dem Asphalt, das unter seinem Fahrzeug deutlich sichtbar war. »Sie können wohl nicht lesen!«
Bevor er etwas entgegnen konnte, schrillte sein Handy. Zu Lenas Glück war ihm das Gespräch wichtiger als sie. Als er zurück zum Haus lief, bückte sie sich, um ihren Korb aufzuheben, und befand mit einem Blick auf die Frontscheibe, dass er genügend Strafe erhalten hatte. Die Eimasse begann bereits, in der Sonne fest zu werden. Sie lächelte, zeigte dem leeren Hauseingang noch einen Vogel und lief zu ihrem Auto.
Zu Hause angekommen, versorgte sie den Kater, der auf dem Sofa auf ihrem Balkon in der warmen Frühjahrssonne gedöst hatte und jetzt lauthals schnurrend um ihre Beine strich. Als sich die Besuche des kleinen Streuners im letzten Jahr gehäuft hatten, hatte sie mittels eines Aushangs den Besitzer ausfindig gemacht und sich die Erlaubnis geholt, das Katerchen füttern zu dürfen.
Die Lust auf Pfannkuchen war ihr inzwischen vergangen, deshalb zog sie den Deckel von einer Dose Thunfisch, schnippelte Tomaten und eine halbe Salatgurke klein und vermischte das Ganze mit Salz, Pfeffer und etwas Mayonnaise.
»Nix da.« Sie bückte sich, hob die Katze hoch, die beim Geruch des Fischs sofort zu betteln anfing, und vergrub ihr Gesicht in dem seidigen Fell. »Du kleiner Vielfraß. Das ist nichts für dich.« Sie setzte sich mit dem Salat aufs Sofa, schnappte sich ein Buch und musste kichern, als die Mieze mit allen Tricks versuchte, ihren Kopf in die Schüssel zu stecken. Als es klingelte, sah sie erstaunt auf die Uhr. Sie hatte niemanden eingeladen und hoffte nur, dass es nicht wieder eine der Mütter ihrer Schützlinge war, die keine Hemmungen hatten, die Erzieherin in ihrer Freizeit zu behelligen.
»Erwartest du Besuch?«, fragte ihre Halbschwester nach einer stürmischen Begrüßung mit einem Blick auf den Berg Thunfischsalat. Eva sah wie immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Perfekt sitzende Jeans, eine wie auf den Leib geschnittene rote Lederjacke, die seltsamerweise wunderbar mit ihren veilchenblauen Augen harmonierte, und lässige High-Top-Sneakers, die sich prima zu dem verwaschenen Blau der Hose machten. Lena schüttelte den winzigen Moment Eifersucht ab wie eine lästige Fliege und lachte.
»Du hast recht«, sagte sie vergnügt. »Ich hatte einen derartigen Misttag, dass ich jegliches Maß verloren habe. Hast du schon gegessen?«
Nachdem sie mit vereinten Kräften den Salat und eine halbe Stange Weißbrot verdrückt hatten, rückte Lena mit der Sprache heraus.
»Ich überlege, ob ich meinen Job hinwerfen soll. Meine Geduld ist so erschöpft, dass ich es gar nicht richtig beschreiben kann. Ich habe heute nach der Arbeit wieder ausgesehen wie ein Ferkel und darf mich noch nicht mal darüber aufregen. Und dann hatte ich vor dem Supermarkt auch noch eine Begegnung der dritten Art mit einem arroganten, rücksichtslosen, reichen Schnösel.«
»Oh je.« Evas Augen blitzten mitfühlend. »Klingt nicht gut. Aber erzähl doch mal von vorn.«
Eine halbe Stunde später hatte sich Lena ihren gesamten Kummer von der Seele geredet, und allein das genügte, dass sie sich wieder besser fühlte. Viel besser sogar.
»Und du willst ernsthaft kündigen?«, fragte Eva entsetzt. »Das kannst du dir doch gar nicht leisten.«
»Das ist auch der Grund, weshalb ich es wohl bleiben lassen werde«, sagte Lena nachdenklich und kraulte den Kater hingebungsvoll zwischen den Ohren. »Weißt du, als ich mich entschlossen habe, mit Kindern zu arbeiten, war ich so voller Euphorie; so sicher, dass ich das mein ganzes Leben lang machen will. Und jetzt schau mich an! Ich bin einunddreißig, Single, verdiene grade mal so viel, dass ich mit Ach und Krach über die Runden komme, und habe jetzt schon das Gefühl, als hätte ich fünfzig Jahre auf dem Buckel.«
»Sechzig«, verbesserte Eva ihre Schwester mit einem verschmitzten Lächeln.
»Was?«
»Mach sechzig Jahre draus. Meine Nachbarin ist fünfzig und fit wie ein Turnschuh. Ich wette mit dir, wenn du sie fragst, dann sagt sie dir, dass sie sich fühlt wie dreißig.«
»Schönen Dank auch! Du machst mir wirklich Mut.«
Doch Eva war noch nicht fertig. »Und ganz ehrlich, wenn ich dich so ansehe, dann siehst du auch nicht so aus, wie man mit dreißig aussehen sollte.«
Bevor Lena auch nur ansatzweise beleidigt darauf hätte reagieren können, hatte Eva sie vom Sofa hochgezogen und ins Bad geschoben, wo sich die beiden Frauen einem großen Spiegel gegenübersahen.
»Das ist jetzt echt nicht böse gemeint. Aber schau doch mal selbst.« Eva deutete auf das blitzblank geputzte Glas. »Ich bin immerhin einige Jahre älter als du. Aber das sieht man nicht. Und woran, glaubst du, liegt das?«
»An den Genen deiner Mutter«, erwiderte Lena mutlos.
»Blödsinn.« Eva drehte sich zu ihrer Schwester und nahm sie in den Arm, was angesichts des Größenunterschieds gar nicht so einfach war und wie meist in einem Heiterkeitsausbruch der beiden endete. »Es liegt daran, dass ich einen Job habe, der mir Spaß macht und mir Energie gibt, statt mich ans Ende meiner Kräfte zu bringen. Aber du hast meistens noch nicht mal mehr genug Power, dich nach der Arbeit auf ein Eis mit mir zu treffen.«
Es stimmte. Ihr Job als Erzieherin in dem Kindergarten, in dem Lena seit neun Jahren angestellt war, laugte sie viel zu oft so aus, dass sie am Abend einfach nur wie ein Käfer auf dem Rücken auf ihrem Sofa lag und sich auf das Wochenende freute. Das dann immer so schnell vorbei war, dass sie kaum zum Luftholen kam und manchmal schon am Sonntagnachmittag so entmutigt beim Ausblick auf die Folgewoche war, dass sie am liebsten drauflosgeheult hätte. Und auch jetzt standen ihr die Tränen in den Augen, als sie ihre große Schwester ansah. Obwohl sie verschiedene Mütter hatten und Eva siebeneinhalb Jahre älter war, waren sie ihr ganzes Leben lang ein Herz und eine Seele gewesen. Eva war dem kleinen Wesen vom ersten Tag an verfallen und half ihrer Stiefmutter leidenschaftlich dabei, die Kleine zu füttern und zu wickeln. Später, als Eva längst erwachsen war, wurde ihr klar, welches Glück sie gehabt hatte, dass ihr Vater fünfeinhalb Jahre nach dem Tod ihrer Mutter die lebenslustige Schwedin kennengelernt hatte, die das traurige Mädchen vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen und immer wie eine eigene Tochter behandelt hatte. Durch das Einfühlungsvermögen der groß gewachsenen Blonden, die, eigentlich auf der Durchreise nach Griechenland, in Bayern und bei ihrem Vater hängen geblieben war, wurde aus dem unglücklichen Kind in kurzer Zeit ein fröhliches Gör. Und da die Skandinavierin ihre Liebe gleichmäßig auf die beiden Mädchen verteilte, hatte Eva in ihrer kleinen Schwester nie eine Konkurrentin gesehen, sondern ein kleines Wunder, auf das man besonders achtgeben musste.
Und so war es auch heute noch. Als Eva die Tränen in den Augen ihrer kleinen Schwester sah, die schon mit fünfzehn die Größe ihrer Mutter erreicht hatte und Eva damit um...
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