Schweitzer Fachinformationen
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Erstes Kapitel
Arm in Arm spazierten die beiden Frauen durch die Frühjahrssonne. Sechshundert Kilometer und wenige Wochen von dem Ort und Tag entfernt, an dem die Tinte einer schwungvollen Unterschrift nach dem zweiten Glas Dom Pérignon langsam getrocknet war. Einer Unterschrift, die das Leben der einen grundlegend verändern sollte.
Das Hoch, das sich anfangs nur zögerlich von Süden her nach Norddeutschland ausgeweitet hatte, hatte sich zu einer stabilen Wetterlage entwickelt, und so kam es, dass nicht nur in München, sondern ausnahmsweise auch zeitgleich in Berlin eitel Sonnenschein herrschte.
Auch die beiden Freundinnen waren der einhelligen Meinung, dass die Wärme und das Licht Balsam waren für das gesamte Wohlbefinden. Sie hatten den halben Tag im Freien verbracht, hatten einen langen Spaziergang am Wannsee unternommen und saßen anschließend bei Kaffee und Kuchen am Ku'damm.
Eineinhalb Stunden und zwei Aperol Spritz später schüttelte Laura ihre langen blonden Locken. »Kommst du noch mit zu mir?«, fragte sie. Helene war ihre älteste Freundin und das komplette Gegenteil der gertenschlanken, eins sechsundsiebzig großen Laura Wagner. Mit gerade mal einem Meter vierundfünfzig reichte Helene Laura nur bis zur Brust, wenn diese hohe Schuhe trug. Was meist der Fall war. Helene dagegen liebte Sneakers, Boots, Flipflops - und auf jeden Fall lieber bequem als schick.
Helene sah auf die Uhr. »Schade, dass es so früh dunkel wird. Ich könnte ewig hier sitzen. Aber ja, auf einen Sprung komme ich noch mit.«
Vor dem leicht heruntergekommenen Wohnhaus, dessen einst gelber Anstrich mit den Jahren eine schmutziggraue Farbe angenommen hatte, stand ein großer Umzugswagen und versperrte die Zufahrt zur Hofeinfahrt.
»Mist«, seufzte Laura und stellte ihren roten Golf kurzerhand ins Halteverbot. »Erinnere mich später noch daran, dass ich den Wagen umparke.«
In der Wohnung warf sie die Post auf den Küchentisch und lief ins Bad. Der kleine Stapel schaffte es nicht, der Schwerkraft zu widerstehen, und landete mit einem lauten Platsch auf dem Boden. Helene bückte sich, sammelte Briefe und Wochenblattbeilagen zusammen und stutzte, als sie einen Umschlag aus schwerem Büttenpapier in der Hand hielt.
»Du hast Post von einem Anwalt«, sagte sie, als Laura zurück in die Küche kam.
»Zeig her.« Laura nahm ihr das Kuvert aus der Hand und seufzte: »Die schon wieder!«
»Was meinst du damit?«, fragte Helene neugierig. »Was wollen die denn von dir?«
»Keine Ahnung. Das ist schon der dritte Brief, den sie mir innerhalb kürzester Zeit geschickt haben. Ich habe aber keine Lust, mir bei dem schönen Wetter die Laune verhageln zu lassen.«
»Ich verstehe nicht, wie du die Dinger so lange liegen lassen kannst!« Mittlerweile hatte Helene auch die beiden anderen Briefe entdeckt, die Laura mit einem Magneten an ihren Edelstahlkühlschrank gepinnt hatte. Nachdenklich rieb sie sich die Nase. »Mich hätte die Neugier schon längst zerrissen.«
Unschlüssig drehte Laura den Umschlag in ihren Händen. Kanzlei Brechtinger & Partner war in schön ziselierter Schrift aufgedruckt; ihr Name und ihre Adresse dagegen waren mit langen, eleganten Schwüngen von Hand geschrieben.
»Eigentlich will ich gar nicht wissen, was drinsteht«, sagte sie mit Unbehagen. »Post von einem Anwalt? Das kann doch nur Ärger bedeuten.«
»Hast du dich in letzter Zeit mit jemandem angelegt? Gestritten?«
Laura schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Ach komm. Mach auf das Ding. Es ändert doch eh nichts. Wenn es wirklich eine Anzeige ist, machst du es nur noch schlimmer, wenn du es hinauszögerst. Die Augen zu verschließen macht es jedenfalls ganz sicher nicht besser.«
»Das weiß ich doch alles«, sagte Laura mit einem schiefen Lächeln. »Aber ich kann immer noch behaupten, dass ich im Urlaub war. Kann mir ja keiner verbieten.«
»Ich fass es nicht. Mensch, Laura. Was ist denn mit dir los? Dass du so den Kopf in den Sand steckst, das kenn ich gar nicht von dir.«
»Es ist nur, weil .« Laura zog die Schultern nach oben. »Eine Kollegin hat mir erzählt, dass ihre Tochter vor ein paar Monaten auch Briefe von einem Anwalt bekommen hat. Das Mädel hat die Briefe einfach versteckt, aber eines Tages kam Sabrina vor ihr nach Hause und hat eines der Schreiben aus dem Briefkasten gezogen.«
»Und? Was stand drin?«
»Es war eine Vollstreckungsandrohung. Mia hatte ihre Fahrkarte vergessen, ist erwischt worden und hat nie bezahlt. Irgendwann hat die Bahn das ihrem Anwalt übergeben.«
Helene schüttelte über so viel Dummheit den Kopf. »Dir ist schon klar, was du da gerade sagst? Dass du dich genau wie ein Kind verhältst. Wie ein kleines Schulmädchen.«
»Ja, verdammt. Und wenn schon. Ich will es einfach nicht wissen. Ich krieg es ja nicht mal auf die Reihe, meine Steuererklärung vor der dritten Erinnerung vom Finanzamt zu machen.«
»Du hast also Schiss.«
»Ja, hab ich«, gab Laura unumwunden zu.
»Und nun? Willst du warten, bis der Gerichtsvollzieher vor der Tür steht?«
»So weit wird es schon nicht kommen.«
Eine halbe Stunde später hatte Laura den Umschlag immerhin aufgeschlitzt. Helene hatte sich dazu bereit erklärt, bei ihr zu bleiben. Wenn es sein musste, auch die ganze Nacht.
»Na los, jetzt mach endlich. Du machst mich noch ganz irre.« Der überaus strukturierten Helene bereitete es ein schier körperliches Unbehagen, wenn Dinge nicht konsequent zu Ende gebracht wurden.
Laura holte tief Luft und zog das Schreiben so heftig aus dem Umschlag, dass die gesamte rechte Ecke abriss.
»Kanzlei für Erbrecht in München«, las sie vor, als sie die beiden Teile aneinanderhielt.
»Erbrecht?«, echote Helene und machte große Augen. Seit Lauras Großmutter vor ein paar Monaten eines Nachts friedlich der diesseitigen Welt entschlummert war, war die dreiunddreißigjährige Versicherungsangestellte nach eigenem Wissen mutterseelenallein auf dem Planeten.
»Was steht da sonst noch?«
Laura ließ den Brief sinken. »Nur dass ich mit einer Kanzlei in Berlin Kontakt aufnehmen soll.«
Drei Tage später sah sich Laura verstohlen in den Räumen der Rechtsanwaltskanzlei Fackler & Söhne um. Sie hatte auf einem zierlichen Stuhl Platz genommen, der einsam und allein vor einer breiten Wand stand. Dahinter eine beige und goldfarbene Tapete, deren Muster bereits vor dreißig Jahren aus der Mode gekommen war. Altbackener Mief. Vermutlich musste das in einer Klitsche so sein, die sich mit den Hinterlassenschaften vererbungswütiger Analphabeten beschäftigte. Wer sonst würde sich auch einen Anwalt suchen, um der Welt seinen letzten Willen kundzutun.
Zufällig streifte ihr Blick ihren rechten Schuh, auf dem unübersehbar ein daumengroßer Schmutzfleck prangte. Sie stand auf und wollte die Toilette suchen, als im Nebenraum eine Tür aufging. Schnell hob sie das rechte Bein und rieb den Schuh an ihrer linken Wade. Ein kurzer Kontrollblick zeigte ihr, dass die Seidenstrumpfbehandlung begann, Erfolg zu zeigen. Sie rieb weiter, und als sich die Tür öffnete, stand sie da wie ein Storch.
»Bitte setzen Sie sich.« Ein himmelblaues Augenpaar hinter einer goldumrandeten Brille musterte sie freundlich. Sicher der alte Fackler, dachte sie. Für einen der Söhne war er nicht mehr jung genug.
»Wie Sie dem Schreiben meiner Kollegen Brechtinger & Partner entnommen haben, vertreten wir die Angelegenheit lediglich, da man Ihnen den Weg nach München ersparen wollte. Vorerst zumindest.«
Laura rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her, bis sie schließlich nur noch auf der Kante saß.
»Um welche Angelegenheit geht es hier eigentlich?«
»Um das Erbe Ihrer Tante.«
Laura stutzte einen Moment. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe keine Tante. Und schon gar keine, die mir etwas vererben würde. Das muss ein Missverständnis sein.«
Als Laura sich von dem Schock erholt hatte, hatte sie als Erstes Helene angerufen. Und die hatte dafür gesorgt, dass die wirklich engen Freunde, die Laura hatte, mit Bier und Chips um sieben Uhr abends vor ihrer Tür standen, um ihr Beistand zu leisten.
»Das ist doch Wahnsinn!« Darin waren sich Helene und Helge einig. »Ein Flugticket nach München und zurück für siebenhundert Euro? Wer kauft denn so was?«
»Für das Geld kannst du genauso gut nach New York fliegen. Da siehst du wenigstens was von der Welt.«
»Fackler sagt, dass es nur deshalb so teuer ist, weil es ein Businessclassticket ist und storniert oder umgebucht werden kann. Schließlich hatten sie die Hoffnung beinahe aufgegeben, dass ich überhaupt noch erscheine.«
»Trotzdem.« Helge steckte sich eine Handvoll Erdnüsse in den Mund. »Irgendwas stimmt da nicht. Du hast keine Verwandten und plötzlich taucht eine ominöse Tante auf, die dir was vererben will? Sei bloß vorsichtig.«
»An was ist die alte Dame denn gestorben?«, fragte Gabi neugierig.
Laura zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich habe nach wie vor keinen Schimmer, wer das überhaupt sein soll. Und ich habe den ganzen Nachmittag in den Sachen meiner Oma gekramt, aber keinen einzigen Hinweis darauf gefunden, dass es da noch jemanden gab.«
Da Lauras Mutter bei ihrer Geburt gestorben war, hatte die Großmutter das hilflose Wesen bei sich aufgenommen und mit bedingungsloser Güte großgezogen. Der launische Teenager, der sich später aus dem entzückenden Sonnenschein entwickelte, hatte ihr die Liebe nicht immer gedankt. Doch das war alles Schnee von gestern und in den letzten zehn Jahren war das Verhältnis zwischen Laura und ihrer Großmutter wieder...
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