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Die Gesichtszüge sind mir nach wie vor vertraut, keine Nacht, in der ich nicht von ihnen geträumt hätte, aber der Ausdruck ist ein anderer, mir völlig fremder. Nun, da er die Herrschaft über seine Mimik verloren hat, ist es vielleicht sein wahres Gesicht. Dann müsste ich aber gestehen, diesen Mann nie gekannt zu haben.
Ich schaue mich unter den Trauergästen um, und auf einmal erscheinen mir auch die anderen, die noch lebenden Gesichter fremd, wächsern, vom Tod gezeichnet. Würde ich ihre Hände berühren, würden sie sich eiskalt und steif anfühlen. Zöge ich ihnen die Hemden aus, würde ich auf ihren Rücken grüne und violette Flecken entdecken.
Gjon steht in meiner Nähe, der einzige Lebendige in diesem Raum. Der Einzige, der den Tod fürchtet. Er schaut kurz zu mir, mit einem leisen, fröstelnden Lächeln auf den Lippen. Doch einen Atemzug später nimmt sein Gesicht wieder den vertrauten gleichmütigen Zug an.
Und wieder fällt mein Blick auf meinen Vater. Nun erkenne ich, was seine Gesichtszüge so fremd erscheinen lässt, der Ausdruck von Schwäche, von Verletzlichkeit, den er im Leben nie gezeigt hat.
Sind es nicht dieselben Eigenschaften, für die man einen Menschen manchmal liebt und dann wieder hasst? Er hat mich immer wie einen Erwachsenen behandelt, hat mir immer meinen freien Willen gelassen, in der Gewissheit, ich würde am Ende doch das tun, was richtig und anständig sei. Und nun trauere ich um ihn, wie ein Mann um ihn trauert, das heißt ohne mir die Trauer anmerken zu lassen.
Ich bitte Rovena, die Lampen anzuzünden. Zwar ist es draußen noch heller Tag, doch die vielen Männer in ihren dunklen Anzügen nehmen den Zimmern das Licht. Ich mag das Zwielicht nicht. Das ganze Haus ist dämmrig wie die fensterlose Diele, die man indessen nur nutzt, um hindurchzugehen. Das ganze Haus riecht im Augenblick auch wie sie, nach muffigen Mänteln und feuchtem Schuhwerk.
Der Tote liegt in einem Sarg aus hellem Fichtenholz. Nur wenn ich ganz nah an ihn herantrete und mich über ihn beuge, rieche ich den Geruch nach frischgehackten Zwiebeln, obgleich ich Säckchen mit Lavendelblüten zu ihm in den Sarg gelegt habe. Und ich rieche die Süße seiner Eingeweide. Als er noch lebte, schwitzte er einen eher bitteren Geruch aus. Nun lockt mich dieser Duft, ihn noch einmal auszukleiden und aufzuschneiden. Wer weiß, welche Güte und Milde ich unerwartet in ihm fände.
Aber was der Vater gibt, das fordert er hundertfach zurück.
Rovena hat getan, um was ich sie gebeten habe. Nun fällt das Licht der Deckenlampe auf sein Gesicht. Die Haare liegen so sorgfältig gekämmt und gefettet an seinem fleckigen Schädel wie nie zu seinen Lebzeiten. Natürlich ruhen die Augen geschlossen in ihren violetten Höhlen, aber die Lider wirken durchsichtig, so dass er mich einfach sehen muss, zumindest schemenhaft.
Er wirkt jünger als in den letzten Tagen vor seinem Tod, und er war selbst dann zweifellos zu jung, um schon zu sterben. Ich verscheuche die Fliegen von seinem Gesicht. Dann kümmere ich mich wieder um die Gäste. Er hätte so viele ernstblickende Männer in unserer Stube nicht gemocht, Geselligkeit fand er immer ermüdend. Ich befürchte, in dieser Hinsicht bin ich meines Vaters Kind.
Die ersten Bilder: Jene im Fensterrahmen, der Garten im eisigen Morgenlicht, die schwarzen Bäume, das erfrorene Gesicht des Vaters. Er gibt mir einen Körper. Einen, der von Dauer ist.
Frosttage. Geister in farblosen Tüchern, knirschend im Schnee. Die Hunde stumm. Ein leichter weißer Rauch vor den Mündern wie aus den kochenden Teekesseln.
Lazarú. Das Dorf. Ein Dutzend Häuser. Eine Kirche. Kein Gasthaus, keine Schule, kein Lebensmittelladen. Langeweile. Schweigen. Den Häusern aus rohbehauenem, unverputztem Felsgestein und dem daraufliegenden Blockwerk aus hartem, teerfarbenem Lärchenholz, gegenüber die aufgebockten Speicher, zwischen den Stelzen und dem Vorratsraum mühlradgroße Schiefer- oder Granitplatten, damit die Ratten und Mäuse nicht hinauf und hinein ins Lager klettern können. Wie es den lästigen Nagern trotzdem immer wieder gelingt, in unsere Speicher einzudringen, weiß allein der Teufel. Es müssen ihnen des Nachts wohl Flügel wachsen.
Auf den Steinbänken vor dem Haus die Alten, auf den Stirnen dünnes Eis, an den Rändern Schläfenschnee, die buschigen Brauen weiße Raben. Die Frauen unsichtbar. Ein Dorf im Gebirge. Wovon leben die Menschen hier? Woher kommen sie? Die Häuser sehen aus, als stünden sie schon vor jeder Geschichte an diesen steilen Hängen. Lange Zeit führte nicht einmal ein Karrenweg in unser Tal.
Hier geht man zu Fuß und schleppt seine Lasten selbst. Wo es keine Straßen gibt, finden sich auch keine Fuhrwerke oder Reittiere. Eine Kuh ist schon ein Zeichen besonderen Reichtums. Die meisten Familien begnügen sich mit der Haltung von Ziegen und Geflügel, da die Erde zu wenig hergibt, um auch noch gefräßiges Großvieh mit durchzufüttern. Wer hier überleben will, muss genügsam sein.
Karg ist diese Erde, wo in jedem Spalt in der Hauswand noch die Vorfahren atmen und schweigen. Ein wenig ausgetretener sind dieselben Stiegen, ein wenig durchgelegener die Strohmatratzen, doch es ist noch immer der gleiche Mörtel, mit dem wir die Risse und Fugen in den schiefgemauerten Wänden stopfen. Die Alten schweigen, doch ein jeder Balken, jeder Feldstein spricht.
In den Häusern riecht es nach Heu, nach Schafen und Ziegen. Und in der Stille hört man ihre Unruhe, ihre Angst vor unseren ungewissen Absichten. Es ist den Alten immer schwerer gefallen, ihr Vieh zu schlachten als ihre Söhne.
Im Sommer ist es das kalte schwarze Schneewasser, das in den Bächen schäumt und uns nächtelang beunruhigt. Es ist zu kalt, um darin zu baden. Niemanden von uns haben die Väter schwimmen gelehrt. Das Vieh zu hüten, zu melken, zu scheren, Bewässerungsgräben anzulegen, zu jäten, zu säen, zu pflücken und zu ernten brachten sie uns bei, ja, aber nicht zu schwimmen.
Als Kind gehe ich barfuß, später trage ich Holzschuhe, die Zeit des unbeschwerten Rennens ist vorbei. Mir kommt es vor, als trüge ich kleine helle Kindersärge an den Füßen.
Lege ich den gelben Ahornlöffel an mein Ohr, höre ich das Schweigen der Frauen. Es klingt anders als jenes der Männer, das aus einem anderen Holz ist, dunkler, härter, wie jenes, das wir zum Aufreißen der Erde verwenden.
Die gelben Ahornschuhe schützen uns davor, dass sich die scharfkantigen Steine, Dornen oder Disteln in unsere Fußsohlen bohren. Sie machen unsere Füße starr und unempfindlich wie Hufe. Die Ochsen beneiden uns darum.
Der Berg in unserem Rücken ist ein Berg der Unfruchtbarkeit und der Mühsal. Nur Gott weiß, warum sich unsere Vorfahren je hier angesiedelt haben. Die karge Erde war von jeher ihr Feind. Vielleicht haben sich am Anfang nur einige Verbannte, Vogelfreie in dieses Tal geflüchtet, weil sie hier, fern aller Menschen, unbehelligt blieben und kein anderer Anspruch auf den unfruchtbaren Boden erhob.
Es gibt eine Kargheit, die zugleich Würde, ja Stolz darstellt. Unser Berg besitzt nichts davon. Bis zum Mittag lässt er das Dorf in seinem kalten Schatten liegen. Nichts schenkt er den Bewohnern. Niemand fühlt sich hier dem Himmel näher.
Regen ertränkt den Sommer, die Wiesen, die Gerstenfelder, die Dunggruben. Unsere Ziegen stehen bis zum Euter im Morast, die Schweife sind es müde, die dunklen Wolken von Bremsen und Fliegen zu verscheuchen. In diesem Jahr warteten wir vergeblich auf die feuerroten Blüten der Bohnen. Die Mittagsstunde haucht uns mit kaltem, feuchtem Atem an.
Ich bin froh, dass der Regen das Gebrumm der Bremsen und Fliegen übertönt. Die Insektenschwärme lassen mich an Krankheit und Tod denken. Gleich sind sie da, wenn irgendwo ein Geschwür aufplatzt, ein Augenwinkel oder eine Lende eitert.
Auch Mutters Tod hatten sie angekündigt. Die Fensterscheiben ihrer Krankenstube haben sie verdunkelt, ein schwarzer Fliegenvorhang klebte vor dem Glas, sodass man die Fenster nicht öffnen konnte. Zum Ersticken heiß und eitrig war die Luft in ihrem Zimmer.
Das Gesicht der Frau unter dem Kopftuch war schon nicht mehr das der Mutter. Ich wusste nicht, wie ich die fremde Frau anreden sollte. Also schwieg ich.
So still war es, dass das Knarren der Tür und das leise Tappen auf den Dielen so laut wie die schweren Walzen beim Flachsbrechen klangen.
Es gab noch die hagere Magd Rovena, andere Frauen kannte ich in meiner Kindheit nicht. Rovena lebt immer noch hier. Sie muss damals jünger gewesen sein, als ich sie in Erinnerung habe. Und vielleicht auch fülliger, begehrenswerter. Irgendwer muss ihr Fisnik ja in den Leib gepflanzt haben.
Selbst Fisniks schwarzer Sonntagsanzug stinkt nach Schweiß, obwohl er ihn nur selten und nie zur Arbeit trägt. Nach Schweiß und etwas Viehischem, wie es am Ende der Dorffeste in der Luft liegt, wenn die Männer betrunken und voller unterdrückter Wut sind und warten, dass ihre Väter endlich nach Hause gehen und die Jungen für diese eine Nacht im Jahr jung sein lassen.
Wie viele sind inzwischen schon fortgegangen! Was sucht Fisnik noch hier auf unserem armseligen Hof? Kaum gibt es für mich und für Rovena Arbeit genug. Rovena bleibt, weil sie zu alt ist, um fortzugehen und noch einmal von vorne zu beginnen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Fisnik seiner Mutter zuliebe hier ausharrt.
Alle sind sie hier, die Nachbarn, in ihren schwarzen Beerdigungsanzügen. Viele sind es nicht, und bis auf Gjon, Fisnik und Kujtim Çashku, den Lehrer, sind es nur alte Männer. Kujtim Çashku versteckt seine jugendlichen Züge hinter einem gewaltigen schwarzen Räuberschnurbart,...
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