Schweitzer Fachinformationen
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Am Rande des Böhmerwalds, irgendwo in der Nähe von Zwiesel, mußte sich Stephan Pfändler im dicken Nebel verfahren haben. Die Scheinwerfer seines Wagens trafen auf eine graue Wand, aus der nur hin und wieder der Ast einer Fichte über ihm aufragte. Er hatte schon lange kein Straßenschild mehr gesehen, und auch die schwarz-weiß unterteilten Stangen - für die Wegmarkierung bei hohem Schnee - verrieten ihm nicht, wohin er fuhr. Es war nach sechs Uhr abends, draußen nichts als undurchdringlicher Nebel und finstere Dezembernacht, im Auto leise Radiomusik und Wärme. Er suchte nach einem Platz zum Anhalten, mochte nicht einfach am Rand der schmalen Straße stehenbleiben, weil es dort zu leicht zu einem Unfall hätte kommen können. Er wollte parken, aussteigen und auf ein Auto warten, dessen Fahrer sich in der Gegend auskannte. Er dachte an den Freund, der ihn im Hotel bei Furth im Wald schon erwartete oder aber - und das schien ihm wahrscheinlicher - selbst im Nebel steckte und nicht vorwärts kam. Als rechts von ihm der weiße Randstreifen plötzlich aufhörte, bog er vorsichtig ab, spürte die Räder über weichen Waldboden rollen und entdeckte eben noch rechtzeitig die dicht neben dem Beifahrerfenster aufgestapelten Baumstämme, die schon lange dort liegen mußten, denn sie waren mit bärtigen Flechten und Moos überwachsen.
Er stellte Motor und Radio ab und öffnete die Tür. Um ihn war geisterhafte Stille, denn der Nebel verschluckte alle Geräusche. Nur der Motor tickte noch dann und wann, und wenn neben ihm ein schwerer Tropfen aus den Zweigen fiel, hörte er den leisen, dumpfen Aufprall.
Das Auto, auf das er gewartet hatte, kam unerwartet schnell. Als er es wahrnahm, stand er neben seinem Wagen. Er sah mattes Scheinwerferlicht, eine graue, vorübergleitende Form und für eine kurze Zeit rote Rücklichter. Ohne langes Überlegen stieg er schnell ein, ließ den Motor an und machte sich an die Verfolgung, als hinge alles Heil am Wiederauftauchen der roten Lichter. Er glaubte die Spur schon verloren, als er nach einer Kurve den Wagen vor sich mehr ahnte als sah.
Eben noch unzufrieden, weil der Nebel ihm seinen Willen aufgezwungen und seine Pläne durchkreuzt hatte, sah er auf einmal das Abenteuerliche an dieser Fahrt. Ein Mann verirrt sich in dieser überorganisierten Welt im Nebel und folgt roten Rücklichtern, die ihn irgendwohin führen, an ein unbekanntes Ziel.
Stephan Pfändler erwog viele Möglichkeiten. Ein Grenzposten, denn die Tschechoslowakei war nicht weit, vielleicht auch ein Dorf mit einer Tankstelle, ein einsamer Bauernhof oder ein Sägewerk, aber das Auto konnte ihn auch zu einer Kreuzung mit einer größeren Straße führen, zu Wegweisern und Ortsschildern.
Woran denkt man bei einer so merkwürdigen Fahrt? Der Tank, mehr als halb voll. Die Strecke, allenfalls zehn Kilometer, seit er die Verfolgung aufgenommen hatte. Die Zeit, zwanzig Minuten, wenn nicht mehr. Der vor ihm kroch auch. Ein vorsichtiger Fahrer. Die Bilder aus dem Fernsehen von Massenkarambolagen tauchten in seinem Gedächtnis auf. Aber das war auf Autobahnen gewesen. Sein Abstand? So etwa dreißig Meter, nicht gut zu schätzen, aber wenn er weiter zurückblieb, verlor er die Rücklichter aus dem Blick. Wenn er zu nahe heranfuhr wie eben jetzt, konnte es gefährlich werden. Der Fahrer vor ihm bremste und blinkte nach links. In einer Rechtskurve nach links? Ein Hindernis, eine Einfahrt? Ja, das mußte es sein. Noch eine leichte Wegbiegung und dahinter dann Lichter. Ein kaum zu erkennendes, langgestrecktes Gebäude. Vorn ein offenes Scheunentor, durch das der andere Wagen fuhr. Pfändler hielt auf dem Hof an. Die Lampen am Haus streuten einen schwachen, milchigen Schein und sahen wie durchsichtige Untertassen aus.
Sein unfreiwilliger Lotse kam inzwischen auf ihn zu. Ein älterer Mann mit grauer Mähne, groß und breitschultrig, der nicht wartete, bis er ausgestiegen war, sondern sich zu ihm herunterbeugte, während er erst ein Bein auf dem Pflaster und das andere noch im Wagen hatte. Er sagte, er habe sich schon gedacht, daß es sich bei ihm um einen Ortsfremden handeln müsse, der nicht mehr weiterwisse. Und wie er ihm denn nun helfen könne.
Nun auf zwei Beinen und gerade aufgerichtet, stellte Stephan Pfändler fest, daß die Sprache des anderen kaum eine Spur von Dialekt erkennen ließ.
Er nannte seinen Namen, erklärte, wohin er unterwegs sei, beschrieb die Irrfahrt durch den Nebel und seine Freude über das Erscheinen eines Retters. Als dies alles gesagt war, blieb ihm nur geduldiges Abwarten.
«Kommen Sie mit ins Haus.» Der Mann drehte sich um, ging vor ihm her wenige Schritte über den Hof und dann einige vom Milchglaslicht schwach beleuchtete Stufen hinauf, öffnete die schwere Holztür und rief: «Marianne! Ich bin zurück und habe Besuch mitgebracht.»
Vor ihnen ein Flur mit einer breiten, ausgetretenen Treppe und geradeaus eine geschnitzte Tür. Hinter ihr Wärme und der überraschende Zauber eines großen Raums mit blanken Holzbohlen, bunten Teppichen, wenigen Möbeln, Inseln sanften Lichts und einem ausladenden grünen Kachelofen. Vor dem Ofen lag auf einer Decke ein ergrauter, zottiger Jagdhund, der mühsam aufstand, um seinen Herrn zu begrüßen und von ihm gestreichelt zu werden.
«Das ist Theo», erklärte der Mann und lachte dann leise auf. «Und ich heiße Altenberg, Lebrecht Altenberg.»
Die erste leichte Befangenheit Stephans erhöhte sich noch, als eine dunkelhaarige, sehr schlanke, hochgewachsene Frau durch die Tür neben dem Kachelofen eintrat. Ein kleiner Junge folgte ihr. Die Erwartung auf den beiden Gesichtern erlosch beim Anblick des Fremden.
«Ich dachte schon, Katharina wäre gekommen», sagte die Frau leise.
«Nein, es ist ein Gast, den ich im Nebel gefunden habe. Herr Pfändler -» Er machte eine winzige Pause, um dem Fremden die Möglichkeit zu Ergänzungen zu geben, die dieser aber nicht ausnützte. Dann eine knappe Handbewegung: «Meine Frau und mein Enkel Peter.»
Die Verneigung über einer kühlen schmalen Hand, ein Händeschütteln mit dem Kind und die gemurmelte Entschuldigung, so plötzlich einzudringen.
Noch immer kam Pfändler nicht zur Frage nach dem Weg, denn die nur angelehnte Tür öffnete sich einen Spaltbreit für eine Katze. Keine Katze, ein Kater, orangegetigert, riesengroß, mit breitem Kopf und leuchtenden gelben Augen. Er umkreiste den etwas abseits stehenden Fremdling, ohne zu schnuppern oder sich an ihm zu scheuern, schritt zu einem Stutzflügel, der offen an der Fensterfront stand, sprang auf die kleine Bank und von ihr auf die Tasten, die gehorsam schrille Töne von sich gaben.
«Das ist Chopin», erklärte der Junge.
Pfändler lachte.
Peter hatte ein offenes, kindlich weiches Gesicht. Er mochte etwa acht Jahre alt sein. «Meine Mutter hat ihn Chopin getauft, weil er so gern Klavier spielt. Früher hieß er Maunz.»
«Wie kommt das?»
Der Kater war den Altenbergs zugelaufen, obwohl er ein festes Zuhause hatte. Er war im Wirtshaus in Eisenstein aufgewachsen, hatte dort zwei Jahre verbracht und war zum Biertrinker geworden. Als er seine Liebe zu den Altenbergs entdeckte, begleitete er sie über mehrere Kilometer bis zu ihrem Haus, blieb einige Male über Nacht zu Besuch, adoptierte dann die ganze Familie und zog endlich bei ihr ein. Dem Wirt war es egal, an Katzen kam man leicht.
«Wir müssen ihn auf dem Klavier spielen lassen», sagte Peter, «sonst schreit er. Wenn wir ihm kein Bier geben, schreit er auch.»
Ob Chopin sich denn mit Theo vertrage, fragte Pfändler, froh über die Überbrückung, weil er beobachtet hatte, daß die Großeltern sich zum Ofen zurückzogen, um leise miteinander zu reden. Sie sollten sich seinetwegen nicht gestört fühlen.
«Sehr gut. Theo ist alt. Chopin legt sich zum Schlafen vor ihn und wärmt ihm den Bauch.»
Altenberg kam nun zurück, umfaßte die Schultern des Jungen und zog ihn nahe an sich heran. Es war keine besitzergreifende Gebärde; sie drückte eine selbstverständliche Zärtlichkeit aus, auf die das Kind einging, sich zurückfallen ließ, den Kopf in den Nacken legte und schräg nach oben fragte: «Glaubst du, daß die Mama kommt?»
«Heute wohl nicht mehr, Peter. Der Nebel ist zu dicht. Wir wissen ja nicht einmal, ob das Flugzeug in Frankfurt landen konnte.» Immer noch das Kind schirmend, wandte er sich Pfändler zu und erklärte, es sei ausgeschlossen, daß er noch weiterführe. Er müsse bei ihnen übernachten. Jeder Kilometer bei der miserablen Sicht wäre sträflicher Leichtsinn.
Pfändler berichtete von dem Freund, der ihn erwartete, erkundigte sich nach dem Wirtshaus und früheren Domizil des Katers und fügte zögernd hinzu, daß er auch telefonieren müsse. Gleichzeitig wußte er, daß er sich nichts sehnlicher wünschte, als bei diesen Menschen, in diesem Haus und in diesem Zimmer bleiben zu dürfen. Seine Nebelfahrt hatte ihn hierher geführt, und wenn einem der graue Alltag ein Abenteuer schenkt, sagt man doch nicht nein. Er ließ sich, vielleicht eine Spur zu schnell, von den Gastgebern überreden.
Altenberg mußte wohl die Freude über die Einladung auf seinem Gesicht gelesen haben. Er drehte sich zu seiner Frau um, die auf der Ofenbank saß und den alten Hund streichelte, sah ihr Lächeln, und führte den Gast zum Schreibtisch und dem Telefon.
Pfändler suchte den Brief des Hotels aus der Brieftasche heraus, wählte die Nummer, mußte warten, weil das Besetztzeichen kam, und sah währenddessen auf dem mit Papieren überladenen Schreibtisch einen Umschlag, aus dem hervorging, daß es sich bei dem Hausherrn um einen Professor Altenberg handelte. Beim zweiten Wählen ruhte sein Blick auf dem Foto einer ernsten jungen Frau, deren Ähnlichkeit mit Frau...
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