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Ich habe meinen Vater kaum gekannt, dachte Gabor Küfer, der nach der offiziellen Trauerfeier für den berühmten Schauspieler Konrad Küfer bei der Beisetzung «im engsten Kreis» am Grab stand. Nach der Aussegnung war der Pfarrer gegangen. Die Familie blieb zurück. Gabor und Stefani, die Kinder aus Konrads erster Ehe, dann ihr Stiefbruder Manuel mit seiner Mutter, die nach der Scheidung wieder geheiratet hatte. Fast wie Zaungäste nahmen sich daneben die dritte Frau, Babette Küfer, und ihre Tochter aus erster Ehe, Franziska, aus. Sie standen, gleichsam von den anderen getrennt, einige Schritte zur Seite. Für das Drama sorgte die vierte Frau Küfer, Cornelia, mit der erst sechsjährigen Tochter Marlene. Die junge Witwe, sechsunddreißig Jahre jünger als ihr Mann, tränenüberströmt, schluchzend, das widerstrebende Kind an sich gepreßt und dennoch instinktiv, vielleicht auch absichtlich, darauf bedacht zu wirken, ein rührendes Bild abzugeben, weil trotz aller Bitten doch zwei der Fotografen der Familie bis zum Grab gefolgt waren.
Gabor wurde sich bewußt, daß ihn Blicke streiften. Die anderen erwarteten von ihm, dem ältesten Sohn, daß er Abschiedsworte fände. Er sollte ihnen über die Schwierigkeit dessen hinweghelfen, was nun noch zu geschehen hatte.
Er trat zur vierten Frau des Vaters, die jünger war als er, berührte sie leicht an der Schulter. Sie ließ das Kind los, und er geleitete sie vor das offene Grab und wartete, bis sie den Armvoll roter Rosen einzeln über den Sarg gestreut hatte. Als er sich wieder zur kleinen Schwester umwandte, trafen ihn die Blitzlichter der Fotografen. Er kniff die Augen in der grauen Winterluft ärgerlich zusammen.
Gabor kehrte den beiden Männern den Rücken zu und beobachtete, wie sich die fassungslos Trauernde in die großäugige, seelenvolle Naive verwandelte, die sie in Filmen und auf der Bühne gespielt hatte, bevor sie die Karriere aufgab, um den alternden Mimen zu heiraten.
Solange sich die Mutter noch der sie so gut kleidenden Trauer und den Fotografen hingab, blieb Gabor Zeit für seine kleine Schwester.
Blaß, verwirrt, in ihrem schwarzen Samtmäntelchen, den weißen Strümpfen und schwarzen Lackschuhen für die Kälte viel zu dünn angezogen, klein, spitzgesichtig, mit blaßblonden Friseurlocken und ohne Mütze! Zorniges Mitleid überschwemmte ihn mit dem Verlangen, dieses kleine Mädchen, das an diesem Tag schon viel zu oft umarmt worden war, nun selber in die Arme zu schließen. «Komm, Marlenchen», sagte er leise, «wirf deine Blumen in das Grab.»
Er hatte nicht leise genug gesprochen, denn schon war die Mutter umarmend zur Stelle. Wiederum Blitzlicht nach Blitzlicht, dann der unwillige Aufschrei des Kindes: «Ich will zu Onkel Gabor!» Eine kleine kalte Hand schob sich in seine. Hier war nicht der Ort, ihr zu erklären, daß er ihr Bruder war, nicht ihr Onkel, etwas, das er schon so oft getan hatte. Er hielt die Hand fest, griff ungelenk mit der Linken nach der kleinen Schaufel, häufte dreimal Erde, die angefroren war und polternd auf den Sarg fiel.
Keine Abschiedsrede für den Vater, der ihn mit vierzehn ins Internat geschickt und danach viel zu selten Zeit für den Sohn gehabt hatte, weil das Hochgefühl der neuen oder die Niedergeschlagenheit der zerbrechenden Ehe, das Theater, Dreharbeiten oder Gastspielreisen immer wichtiger waren als die Beschäftigung mit dem verschlossenen jungen Mann, der den herzhaften Annäherungsversuchen des Vaters in seltenen Ferientagen auswich, sich widersetzte und zu ärgerlichen Vergleichen mit den zugänglicheren Geschwistern herausforderte.
Nun war «der große Mime», wie seine Kinder ihn untereinander nannten, mit siebzig Jahren tot. Verunglückt. Beim Einsteigen ins Auto auf Glatteis ausgerutscht, mit dem Hinterkopf auf den Bordstein geschlagen; Schädelbasisbruch, drei Tage im Koma, und jetzt die Beerdigung. Gabor schloß die Augen und hörte die berühmte Stimme, die der allzuoft wiederholten Platitüde immer noch Witz und Ausdruck geben konnte: «In unserer Familie stirbt man nicht. Wir verunglücken.» - Eine beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochene Großmutter. Seine und Stefanis Mutter, die mit seiner damals zehnjährigen Schwester Almut von einem schleudernden Lastwagenanhänger gegen eine Mauer gedrückt wurde. Und nun der Vater .
Der Sohn stand am Grab, wortlos, wo alle von ihm Worte erwarteten. Was sagt man, wenn ein fast Fremder gestorben ist, wenn ihn Kinder aus vier Ehen, zwei geschiedene Frauen und eine schöne, dramatisch trauernde, schauspielerisch hochbegabte Witwe begleiten?
«Vater», begann er nun doch. «Wir alle nehmen Abschied von dir und versprechen, daß wir als Familie zusammenhalten werden, vor allem wir, deine Kinder. Stefani und ich, Manuel und Marlene.»
Hätte er nicht auch Franziska erwähnen müssen, die Stieftochter, die sechzehn war, als Konrad Küfer ihre verwitwete Mutter heiratete, und vierundzwanzig, als auch diese Ehe zerbrach?
Er trat zurück, um Stefani am Grab Platz zu machen, die nur mit ihrem Mann gekommen war, weil sie den vierjährigen Sohn und die dreijährige Tochter zu jung für eine Beerdigung fand. «Wann haben sie denn ihren Großvater schon gesehen?»
Plötzlich stand Franziska neben ihm. Als sie sah, daß Marlenchen mit beiden Händen seine rechte Hand umklammerte, senkte sie den schon halb gehobenen Arm und zog dann den Mann und das Kind in eine lose Umarmung, indem sie eine Hand auf seine Schulter und die andere auf die schmächtige des Kindes legte.
«Eine Zeitlang warst du mein Bruder, Gabor. Den großen Mimen habe ich geliebt. Er war für mein Leben wichtig, auch noch, als er nicht mehr mit Mutter verheiratet war. Ich habe ihn oft besucht. An meinen richtigen Vater habe ich keine Erinnerungen. Für mich ist Konrad an seine Stelle getreten. Ich trauere auch um ihn.»
Stefani trat nun zu der kleinen Gruppe. Sie war zehn Jahre jünger als Gabor. Konrad hatte sie von einer Ehe in die nächste geschleift. Als sie sechs war, heiratete er Ilse, und Manuel wurde geboren. Als Manuel sechs war, endete die Ehe. Konrads dritte Frau, Babette, brachte Franziska mit. Steffis fester Halt war der große Bruder Gabor, den sie viel zu selten sah. Diese Tochter zweier Schauspieler haßte die Schauspielerei und war Gärtnerin geworden, obwohl sie mehr Talent besaß als alle anderen Kinder Konrads. Gabor liebte sie von Herzen, mißtraute ihr jedoch, weil er nie durchschaute, wann ihre Gefühle echt waren.
«Gabor!» Alle Zärtlichkeit der Welt, die Liebe zum großen Bruder und die Bewunderung, von Kindheit an bis heute, immerdar. Keine Worte, nur blaue Samtaugen, in Tränen schwimmend.
Und schon kauerte sie vor dem Kind, zog es an sich und sagte durch zusammengebissene Zähne: «Du wirst kein kleiner Filmstar, du nicht. So wahr mir Gott helfe!»
«Steffi!» mahnte Gabor.
Aber sie war schon wieder aufgestanden, kehrte ihm und Marlene den Rücken, legte Franziska die Arme um den Hals, beutelte die ehemalige Schwester und sagte, was er hätte sagen müssen.
«Du gehörst zu uns, Franzi. Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, vielleicht mehr als wir. Bitte, trag es mir nicht nach, wenn ich biestig zu dir war. Laß es uns wieder miteinander versuchen.»
Gabor, der Zuhörer, dem es so oft an Worten fehlte, stand an diesem trüben Wintertag am Grab des Vaters, schob das Kind auf die andere Seite, um es mit der linken Hand halten zu können, während er Hände schütteln mußte und umarmt wurde. Er dachte an den Vater und sah ihn wie durch ein Kaleidoskop in immer anderen Szenen. Gute Erinnerungen? Ja, doch. Einige. Das Premierenwochenende in Zürich. Ein Anruf Konrads hatte ihn aus dem Internat geholt. Bei berühmten Vätern machte der Schulleiter mal eine Ausnahme. Der sechzehnjährige Gabor allein mit dem Vater im Hotel, mitgenommen zur Generalprobe, und dann, bei der Premiere, ein Platz in der zweiten Reihe. Der Vater als Prospero im «Sturm». Applaus. Vorhang auf Vorhang, einmal eine Verbeugung, die allein ihm zu gelten schien, der stolz und hingerissen war und auf der Schwelle stand, diesen Mann, der sich so selten um ihn kümmerte, aus tiefstem Herzen zu lieben .
Der jüngere Bruder Manuel riß ihn aus seinen Gedanken. «Meinst du, daß nachher Zeit bleibt, Gabor? Ich fände es schön, wenn wir beide uns noch ein bißchen zusammensetzen könnten.»
«Stimmt was nicht?»
Ein amüsiertes, flüchtiges Lächeln auf dem Gesicht Manuels, der gerade das medizinische Staatsexamen hinter sich hatte. «Es stimmt alles. Das war nur ein Versuch. Ich dachte, wir sollten uns besser kennenlernen. Ich bin erwachsen, weißt du. Du brauchst mir nächste Weihnachten keinen Scheck mehr zu schicken.»
Typisch Manuel. Ein vorsichtiger Versuch der Annäherung mit der bereits eingebauten Möglichkeit zur Flucht. Alle Geschwister waren so, empfindlich, verletzlich, sofort zum Rückzug bereit. Immer stand die Tür zur Ironie offen. - So habe ich es doch nicht gemeint. Du solltest mich besser kennen. Es war nur dummes Gerede, das du nicht tragisch nehmen mußt. Ein andermal. Es wird sich was ergeben. - Gabor wußte das, weil er selbst so reagierte, aber wußten es auch die anderen?
«Heute wird es nicht gehen, ihr kommt doch alle zu mir», antwortete er nun. «Das Essen ist bestellt.»
«Dann ein andermal.» Manuel beugte sich vor und sagte: «Hallo, Marlenchen. Ich bin Manuel, und du bist meine Schwester. Ich freue mich, daß ich dich endlich kennenlerne.»
«Was? Du kennst sie nicht?»
«Ich hab sie nur einmal gesehen, aber da war sie drei Monate alt.»
Das Kind, das sich weiter an Gabor festhielt, sah aus wasserblauen Augen den Mann an, der behauptete, ein Bruder zu sein. Lange und ernst, dann begann sie...
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