Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Barbara Fürst sitzt mit den anderen im Bus, der auf einem großen, leeren Platz hinter dem Nürnberger Hauptbahnhof hält. Drei alte Leopoldsbader sollen hier noch zusteigen. An die beiden Frauen kann sie sich erinnern, nicht aber an den Mann.
«Den müßtest du gekannt haben», hat Lisa vorhin noch gesagt. «So ein großer Blonder aus dem Altreich. Er war oft mit deinem Bruder auf dem Sportplatz.»
Barbara denkt mehr als vierzig Jahre zurück und sieht lauter große junge Burschen auf dem Sportplatz. Walter Wagenbauer. Sie hat den Namen auf der Liste gelesen. In ihrem Gedächtnis findet sie kein Bild.
Da Lisa und Barbara auf der dem Platz abgewandten Seite sitzen, können sie die neuen Mitfahrer erst sehen, als sie einsteigen. Zuerst kommen die beiden Frauen die Stufen an der Bustür herauf. Sie nennen von Reihe zu Reihe ihre Namen, schütteln Hände oder umarmen. Barbara sieht ihnen neugierig entgegen und schält von den gealterten Gesichtern die Jahre ab, bis sie wieder zu denen der Neunzehnjährigen werden, mit denen sie in die Schule gegangen ist.
Barbara und Lisa waren die Jüngsten, ein bis zwei Jahre jünger als alle anderen. Lisa hatte sich angepaßt, war über ihr Alter hinaus erwachsen und lebensklug und der kindlichen Freundin weit voraus.
«Ja, Servus, Barbara», sagt jetzt die Hölzl, die verheiratet ist und längst ganz anders heißt. «Mein Gott, du hast dich aber auch gar nicht verändert!»
«Servus, Agnes. Schau nur mal genau hin, dann wirst du schon sehen, was für ein altes Weib ich geworden bin.»
«Ah, geh.»
«Barbara!» Von hinten drängt sich Marianne Bacher vor. Barbara ist aufgestanden, hat sich unter dem Gepäcknetz durchgeduckt und neben Lisa gestellt. Sie wird nun an einen unter dem Regenmantel verborgenen mütterlichen Busen gezogen.
Lisa hat recht, denkt Barbara, sie sind wie eine Familie, in der man seinen Platz hat. Vierzig Jahre! Wir sind darüber alt geworden, haben ein oder sogar zwei Leben gelebt, und jetzt stehen wir wieder dort, wo wir begonnen haben, erwachsen zu werden, bei der Matura.
Marianne und Agnes begrüßen und umarmen weiter, und in ihrem Gefolge kommt nun auch der große grauhaarige Mann nach hinten. «Guten Tag», sagt er. «Ich bin Walter Wagenbauer. Du mußt Barbara Fürst sein.»
«Grüß dich, Walter.»
Über vierzig Jahre mit einem Menschen per du, an den sie sich nicht einmal erinnert. Das verlangt, daß man mehr sagt als nur eine Begrüßung. «Wie schön, daß du mitkommst. Du hast von uns allen den weitesten Weg, nicht wahr? Du kommst von Hannover?»
Auch das weiß sie nur aus der Adressenliste und den Erzählungen der anderen. Er war mit den Buben im Gymnasium. Von denen hat sie nur einige gut gekannt.
«Servus, Walter», sagt Lisa Kern, die in München lebt und die anderen in der Zwischenzeit mindestens schon einmal getroffen hat. Barbara wohnt in einem Nest in Niederösterreich und ist erst jetzt soweit, daß sie sich Klassentreffen vom Geld und von der Zeit her leisten kann.
«Ich bin noch nicht mit der Begrüßung fertig», sagt Walter in wunderschönem Preußisch. «Darf ich mich dann zu euch setzen?»
«Du darfst, wenn du keine Angst vor Rauch hast.» Lisa grinst ihn an. «Da vorn sitzen lauter militante Nichtraucher. Ich bin nach hinten verbannt. Barbara macht es nichts aus.»
«Mir auch nicht. Ich habe es schon lange aufgegeben, aber ich rieche es immer noch gern.» Er lächelt ihnen zu. «Bis gleich.»
«Ein netter Bursch, und tüchtig.»
Barbara nimmt Lisas Kommentar zur Kenntnis, während sie in Erinnerungen sucht. Groß und blond waren mehrere, blauäugig auch. Auf einmal taucht ein Bild auf. Sie starrt aus dem Fenster auf Straßen und Kieferngehölze und dann auf die Ruinen des Reichsparteitaggeländes. Sie nimmt wahr, ohne zu registrieren - und hat es plötzlich.
Ihr Bruder Horst mit zwei Schulfreunden in der Eisdiele. Sie war hereingeschneit, linkisch und verlegen, wußte nicht, ob zum Bruder an den Tisch gehen oder einfach die Eiswaffel kaufen und wieder verschwinden. Was immer sie machte, Horst würde sie aufziehen. Er war nur zwei Jahre älter, aber Barbara sah neben ihm wie eine Zehnjährige aus. Sie war klein, zierlich, hatte dunkelbraune Locken und ein rundes Kindergesicht. Daß sie fünfzehn war, glaubte ihr keiner. Horst kramte in der Tasche, warf Zehner auf den Tisch und rief ihr zu: «Ich lade dich ein.» Es war als Beleidigung gedacht und wurde von ihr auch so verstanden. «Ich kann mir mein Eis selber kaufen, du Lackel!»
Der eine Freund feixte, der andere lächelte sie an, lächelte mit geschlossenem Mund und hübsch geschwungenen, langgezogenen Mundwinkeln. Er murmelte etwas von Geschwisterliebe und lächelte noch, als Barbara sich auf dem Absatz umdrehte und mit der schmelzenden Eiswaffel hinausging.
Das Lächeln! Damals hat sie vor dem Spiegel geübt, so zu lächeln. Nicht mehr zähnezeigend, mit offenen Lippen wie ein Kind. Hier, im Omnibus nach Leopoldsbad, hat sie das Gesicht wiedergefunden, zu dem es gehört. Das eingeübte Lächeln war immer das dieses grauhaarigen Mannes, den sie sich nun schon nicht mehr als Jungen vorstellen kann.
Barbara lehnt sich im Sitz zurück und macht sich Gedanken über die Mitfahrer. Die Ehepaare sitzen zusammen. Eine nach außen wohlwollende Einheit, aber dennoch ein bißchen eingegrenzt wie hinter einer niedrigen, streng gestutzten Buchsbaumhecke. Das ist verständlich, weil immer nur einer die Jugend mit den anderen gemeinsam hat. Mag sein, daß es Rücksichtnahme auf den Partner ist, mit dem sie so viel mehr Leben teilen als diese ersten neunzehn oder zwanzig Jahre. Geschwister sitzen nebeneinander. Sie wollen gemeinsam in die Kindheit zurückkehren, die in einem anderen Land stattgefunden hat als in dem, in das sie heute reisen. Freundinnen teilen Sitzreihen und besprechen Ereignisse in Familien, von denen Barbara nichts weiß.
Außer Walter sind von den Reichsdeutschen nur noch zwei gekommen. Kinder von ins Sudetenland versetzten Beamten, die damals wie Zugvögel in der Klasse auftauchten. Sie waren es gewöhnt, bei jedem neuen Lehrer aufzustehen und sich vorzustellen, Namen zu buchstabieren, Plätze angewiesen zu bekommen und sich auf das prüfen zu lassen, was sie in einer anderen Schule in einer für Barbara nicht vorstellbaren Stadt gelernt hatten. Für manche von ihnen war es die fünfte oder sechste Schule, in die sie sich eingewöhnen mußten. Die Kinder konnten nichts dafür, aber im Freundeskreis von Barbaras Eltern wurde abfällig darüber geredet, daß der neue Staat, zu dem man nun gehörte, seine Beamten schickte, als gälte es, eine Kolonie zu verwalten. Eine dünne Eisschicht, die sich über den Jubel zur neuen Zugehörigkeit zum Reich deckte. Barbaras Vater war Arzt, ihn betraf das nicht.
Vorn im Bus ist fast jeder Platz besetzt. Lisa steht im Gang, auf eine Rücklehne gestützt, und redet nach rechts und links. Für sie sind die Gespräche leichter, sie weiß mehr über die vergangenen vierzig Jahre. Barbara kann nicht mitreden. Für sie ist nur Zuhören möglich.
Sie sammelt Schicksale.
Eine von den Auswärtigen, die morgens mit dem Zug kamen, ein hübsches Mädchen mit langen braunen Zöpfen, soll es in der «Zone» - so sagen sie fast alle noch - bis zum Kultusminister von Thüringen gebracht haben. Es heißt, daß sie nicht mehr lebt.
Eine, bei Kriegsende schon verheiratet, mit einem kleinen Sohn, sagen sie, ist nur wegen ein paar Möbeln mit ihrem Mann noch einmal ins Protektorat nach Prag gefahren. Irgendwoher hatten sie einen Lastwagen organisiert. Plündernde Tschechen oder Russen haben das junge Ehepaar erschossen, um an das Fahrzeug zu kommen. Das Kind haben die Großeltern aufgezogen.
Viele Namen von Gefallenen. Von manchen hat Barbara damals schon gewußt. In Rußland - für Führer, Volk und Vaterland - wie Horst. Von einem gewissen Zeitpunkt an mußte der Führer mit auf die Todesanzeigen. Fürs Vaterland allein genügte nicht mehr; nur Vaterland ließ auf Kritik und Abneigung schließen.
Über Jochen Siebold, ihre erste Jugendliebe, kann sie Auskunft geben. In Rumänien vermißt. Nein, die Mutter hat nie mehr eine Nachricht bekommen.
Mechthild, das einzige schöne Mädchen aus einer Klasse, in der es viele gab, die hübsch waren, ist seit einigen Jahren tot. An Krebs gestorben.
Zu viele Schicksale.
Der Bus, in dem alle so in die Gespräche vertieft sind, daß kaum einer aus dem Fenster blickt, fährt durch hügeliges Land, Dörfer und kleine Städte mit alten Häusern und winkeligen Gassen. Es kann nicht mehr weit bis zur Grenze sein. Die Namen sind vertraut, von früher her.
Auf einmal sitzt Walter neben Barbara und reißt sie aus Gedanken, die mehr wehmütig als traurig sind.
«Ein merkwürdiges Gefühl, nach Leopoldsbad zu fahren», sagt er. «Gut, daß die Münchner das arrangiert haben. Allein wäre ich nie hingefahren. Was soll ich in einer Stadt, in der keiner mehr lebt, den ich kenne? Soll ich mich vor ein Haus stellen, nur weil ich einmal dort gewohnt habe? Soll ich über den Bummel gehen, weil ich vor mehr als vierzig Jahren ein Mädchen zu treffen hoffte, in das ich verliebt war?»
«Wer war das?» fragt Barbara.
«Mechthild. Aber es war hoffnungslos. Sie hatte einen Schwarm von Verehrern.»
«Der Bummel! Meine Güte, ja. Wie wichtig das damals war. Wann bist du eigentlich nach Leopoldsbad gekommen, Walter? Schon achtunddreißig?»
«Nur mein Vater. Umgezogen sind wir im Frühjahr neununddreißig. Ich kam gleich nach Ostern aufs Gymnasium.»
«Mir fällt es jetzt wieder ein. Dein Vater war bei der Wehrmacht, nicht?»
«Warum sind wir uns damals nicht begegnet, Barbara?...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.