Schweitzer Fachinformationen
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«Drei Monate! Ich wache nur widerstrebend aus einem Alptraum auf, in dem ich nach außen hin funktioniert habe, aber innerlich nicht anwesend war. Vielleicht werde ich nie mehr richtig wach.
Immer fand ich die Geschichten unbegreiflich, in denen von Männern die Rede war, die zum Zigarettenautomaten an der Ecke gingen und nie wieder zurückkehrten. So etwas widerfährt Fremden, nicht einem selbst. Nun ist es mir geschehen, und ich finde die Geschichte immer noch unbegreiflich. Warum verschwindest Du an einem häßlichen, naßkalten Januartag aus unserem Leben? Du fährst morgens in Dein Büro und kommst abends nicht nach Hause.
Wo bist Du?
Du hast unser gemeinsames Konto leergeräumt und Dir von Deiner Firma einen Kredit über zehntausend Mark geben lassen. Erpressung vermutet der graugesichtige Mann von der Polizei. Aber wer sollte Dich erpressen? Du hattest nichts mit Betriebsgeheimnissen zu tun. Und bisher glaubte ich, Dein Privatleben zu kennen. Wärst Du entführt worden, hätte man doch von mir Geld gefordert, nicht von Dir. Mord war die nächste Erwägung, danach Selbstmord. Mit fast hunderttausend Mark in der Tasche?
Nach zwei Monaten und einem weiteren Toten, zu klein, zu kahlköpfig, als daß Du es hättest sein können, ist mir in der Leichenhalle schwindlig geworden. Oh, sie haben mir nicht nur die gezeigt, die irgendwo ertrunken sind; ich habe verunstaltete Verkehrsopfer und an Unterkühlung gestorbene arme Stadtstreicher ansehen müssen. Immer der Graugesichtige, der hinter mir stand und meine Reaktionen beobachtete. Die Nummern am großen Zeh hielt ich für eine Erfindung aus dem Kino, aber sie haben Nummern. Keiner sah Dir auch nur entfernt ähnlich. Trotzdem bestand ich darauf, hinzugehen. Auch noch, als Polizist sagte, er glaube nicht mehr daran und ich solle damit aufhören; es sei zu unwahrscheinlich. Er und einige unserer Freunde vermuten, daß Du in einem warmen Land zu Füßen eines Wunderheiligen meditierst, dem Du als Morgengabe unser ganzes Geld gebracht hast. Schreckt Dich aus der Meditation nie die Erinnerung auf, daß eine Frau und zwei Söhne auf Dich warten? Wenn Du uns wenigstens geschrieben hättest. Nur eine Postkarte oder ein Telegramm: Bin auf der Suche nach mir selbst in Indien - Paul.
Ich kann es nicht glauben. Es paßt nicht in meine Vorstellungswelt. Meine Phantasie läßt mich im Stich. Ich sehe Dich nicht als Mordopfer; ich kann nicht glauben, daß Du Selbstmord begangen hast. Und ein Guru? Wir waren vierzehn Jahre verheiratet - warum schreibe ich ? -, und ich kenne Dich nicht. In Deinem Büro haben sie Bücher gefunden, über Bhagwan, die Mun-Sekte, über den schrecklichen Jones und sogar über Manson und seine Family. Einen ganzen Stapel. Daher die Vermutung, daß Du irgendwo auf der Welt einem Heiligen nachläufst. Wenn Du das tust, möchte ich Dich lieber nicht kennen, nie gekannt haben. Ich hätte Dich vielleicht verstehen können, wenn Du erklärt hättest, warum Dir das Leben so nicht mehr möglich war, warum Du nicht länger mit uns leben wolltest und etwas Neues beginnen mußtest. Aber heimlich, einfach so, wie ein Dieb . Nein, ich weiß nichts von Dir.
Drei Monate habe ich mich nicht aus dem Haus getraut, weil es an der Tür läuten, weil das Telefon klingeln oder der Postbote einen Brief von Dir bringen konnte. Hast Du Dir gar keine Gedanken gemacht, wie Kai, Felix und ich leben würden? Ohne Dein Gehalt, mit Schulden bei Deiner Firma, ohne einen Notgroschen auf der Bank? Oder kann man in Deiner Verfassung nicht mehr nachdenken? Will man das nicht mehr? Vielleicht sind auch alle meine Fragen falsch, weil Du nicht mehr lebst.
Ich habe mir vorgenommen, Dir zu schreiben. Du könntest das Gedächtnis verloren haben und nach Jahren in einer fremden Stadt wieder zu Dir kommen; dann mußt Du doch wissen, was inzwischen geschehen ist. Ich will meine Briefe in eine Mappe legen. Besser wäre es, ich würfe sie in einer Flasche ins Meer. Es ist viel wahrscheinlicher, daß eine Flaschenpost von Robinson ankommt, als daß ihn eine Flaschenpost auf seiner fernen Insel erreicht. Gerade das jedoch muß ich versuchen; eine andere Chance habe ich nicht.
Meine Eltern waren Dir zu einfach. In ihrer Gegenwart wurdest Du zu betont freundlich, ein bißchen zu herablassend und gönnerhaft. Wenn ich Dir das vorwarf, sagtest Du, dies sei eine fixe Idee von mir, ich bildete mir das ein. Du hast studiert, Dein Vater war ein höherer Beamter - meiner ist nie über den mittleren Dienst hinausgekommen. Aber seit drei Monaten leben die Kinder und ich, weil meine Eltern für uns sorgen. Sie zahlen die Miete und geben mir Wirtschaftsgeld. Deine elegante Mutter ruft gelegentlich an, wehklagt über Dich und läßt durchblicken, daß Dein Verschwinden allein meine Schuld sei, denn in einer glücklichen Ehe wäre das nie passiert, und sie kenne doch ihren Sohn. Keinmal hat sie gefragt, wovon wir leben. Sie fragt auch nicht, wie Kai und Felix damit fertig werden, von einem Tag auf den anderen keinen Vater mehr zu haben. Zu mir sagt sie am Ende jedes Telefongesprächs so etwa:
Nur bei ihren Enkeln und bei mir setzt dieses Gespür aus.
Unsere Ehe. Drei Monate habe ich mich mit Selbstvorwürfen herumgequält, jeden Streit aus vierzehn Jahren wiedergekäut und mich zerfleischt. Bis zum Januar hätte ich gedacht, unsere Ehe sei gut gewesen. Aber nun sitze ich auf einem Scherbenhaufen. Und ich bin krank vor Sehnsucht nach Dir. Meine Tage sind grau, einer klebt mit zähem Leim am anderen. Neunzig Tage ohne Dich.
Heute habe ich hundert Mark verdient. Wenn die Jungen nach Hause kommen, werden wir einen Betriebsausflug machen. Erst ins Kino, dann ins chinesische Restaurant. Das meinte ich, als ich schrieb, ich wachte aus dem Alptraum auf.
Einem Dreizehnjährigen und einem Elfjährigen kann man keine Mutter zumuten, die von nichts als dem Vater redet und ständig in Tränen ausbricht. Den Söhnen ist aus heiterem Himmel der Vater abhanden gekommen, mir der Mann. Das schweißt uns zusammen, ob wir wollen oder nicht. Wir wissen, daß sie im Haus über uns reden. So etwas erfreut Menschen. Eine Sensation im heimischen Treppenhaus. Daß sie mich anstarren, als könne man mir vom Gesicht ablesen, warum Du fortgegangen bist, würde ich noch verstehen. Aber sie stellen die Kinder, wann immer sie ihrer habhaft werden, und fragen sie aus. Ob wir Nachricht haben, was wir machen werden, ob wir hier wohnen bleiben. Kai erzählt mir das. Felix ist zu jung. Er rettet sich in die Rolle des kleinen Kindes, das nascht, verbockt ist, nur bei Licht schläft und lügt, wo es nur kann.
Darum der Betriebsausflug vom ersten Geld, das ich seit November verdient habe.
Dir war es immer ein bißchen peinlich, daß ich gut stricken und mir Muster ausdenken kann. Als ich meine Pullover an die Boutique verkaufte, hattest Du nichts gegen das Geld, wohl aber gegen mich. Das kam zu nahe an Heimarbeit heran, und die hatte ich als Deine Frau doch nicht nötig. Und ja kein Wort darüber zu den Kollegen oder dem Chef! Das Geld tat ich auf unser gemeinsames Konto. Möge es irgendwo einem Heiligen das Leben verschönen! Denn wenn es so ist, dann lebst Du noch.
fragte mich die schöne, langmähnige Besitzerin der Boutique Chez Lou, die vermutlich Luise heißt, aber Etiketten mit Lou in alle Kleider und auch in meine Pullover einnäht. Sie schenkte Kaffee ein, sah mich unter blauem Lidschatten und durch schwarzgetuschte Wimpern prüfend an.
Man sieht es mir an. Trotz Trauer und Traum kann ich immer noch in den Spiegel schauen. Das verlernt sich nicht.
Ich habe meine Geschichte erzählt und ihr meinen Pullover verkauft. Er ist aus grober schwarzer Seide, glatt gestrickt, mit Dreiviertelärmeln, die nach unten weiter werden und gebauscht sind. Auf den Rücken habe ich mit Silberfäden einen Tiger gestickt, dessen eine Pranke über die Schulter greift. Das hat Dich nie interessiert, aber jetzt mußt Du hinnehmen, daß ich Dir erzähle, wovon Du nichts wissen willst.
Lou will mehr Modelle, und in Zukunft soll ich mehr Geld dafür bekommen. Heute waren es die hundert Mark und Materialkosten für fünf Pullover. Ich kann stückweise liefern und sofort kassieren. Eine angenehme Form des Mitleids, gepaart mit Geschäftstüchtigkeit.
Sofort setzt mein Widerspruchsgeist ein. Wenn es mir gelingt, damit regelmäßig Geld zu verdienen, möchte ich es offen und ehrlich tun. Zukunftsmusik, Du hast recht. Aber seit heute denke ich zum erstenmal an eine mögliche Zukunft. Bisher waren es wirre Fetzen und Fragen, die in die dumpfe Traumwelt gehörten. Was soll aus uns werden? Warum ist uns das geschehen? Paul? Was ist mit Paul? Ist er tot? Wo ist er? Wie sollen die Kinder und ich ohne ihn leben?
Ich weiß keine Antwort darauf. Ich sehne mich so sehr nach Dir, aber nüchtern über Dich nachzudenken, gelingt mir nicht. Jede Faser meines Wesens hofft, daß Du lebst. Aber dann müßte ich Dich hassen. Wenn Du tot bist, habe ich Dir Unrecht getan.
Aus diesem Grund schreibe ich Dir. Vielleicht komme ich eines Tages dahin, nicht nur zu jammern.
Die Kinder.
Kai ist ganz plötzlich in den Stimmbruch gekommen. Er übernimmt die Rolle des Mannes im Haus. Er überlegt, wo wir sparen können, und macht Pläne, wie er neben der Schule noch Geld verdienen könnte. Gleichzeitig hat er Angst. Er bewacht mich, als ließe sich so verhindern, daß auch ich plötzlich nicht mehr da...
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