Schweitzer Fachinformationen
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Die alte Frau saß in Kissen und Decken verpackt auf der Terrasse. Hubert Dumartin, der aus dem Büro nach Hause kam, hob winkend die Hand, aber sie sah ihn nicht oder wollte ihn nicht sehen.
Hubert ging ins Haus und suchte seine Frau. Es war merkwürdig still; ein Spätnachmittag im Sommer, von draußen kaum ein Geräusch, nicht einmal Vogelgezwitscher. Im Haus ein Schweigen, das laut davon sprach, daß alle Kinder fort waren. Er fand Ruth in ihrem Zimmer vor der großen Arbeitsplatte, an der sie zeichnete. Sie drehte sich zu ihm um. Er legte ihr die Hand auf die Schulter.
«Ist was mit Dorothea? Als ich in die Garage gefahren bin, zeigte sie die Zähne. Ob aus Wut oder Freude ließ sich nicht erkennen, und zu ihr traue ich mich im Augenblick nicht. Seit vorgestern ist sie böse mit mir. Ich werde keines Wortes gewürdigt. »
«Worüber habt ihr euch wieder gezankt?» fragte Ruth rein rhetorisch und stand auf. «Ich kümmere mich um sie. Hoffentlich ist ihr nicht kalt geworden. Es war so friedlich. Die Kinder sind zum Schwimmen, und ich habe meine Entwürfe fertig gemacht. Wie wäre es - wollen wir nicht endlich mal ins Kino? Die läuft wieder.»
Sie ging durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, kauerte sich neben den Stuhl, griff nach der Hand ihrer Großmutter und fragte: «Wie geht es dir? Möchtest du hereinkommen?»
«Eben habe ich einen der jungen Füchse gesehen, oben am Rand des Steingartens. Ein wunderschönes Tier. Er hat noch dicke Pfoten und ein Kindergesicht.»
«Ich möchte zu gern wissen, wie viele es dieses Jahr sind», sagte Ruth. «Sah er anders aus als der, den du neulich gesehen hast?»
«Es kommt mir so vor, aber ich bin nicht sicher.»
Die Generalin war neunzig Jahre alt. Sie sah und hörte noch gut, war vom Alter nur wenig gebeugt, ging am Stock und kämpfte zäh gegen die Last der Jahre, aber nicht gegen den Tod, der ihr willkommen war. Ruth liebte die Großmutter mit einer herben, kämpferischen Liebe. Bis sie erwachsen wurde, bestand ihre Familie allein aus der Generalin. Ruths Vater war fünfundzwanzigjährig im Krieg gefallen. Ihre Mutter war auf der Flucht aus Schlesien an einem durchgebrochenen Blinddarm gestorben. Andere Flüchtlinge nahmen sich des dreijährigen Mädchens an und brachten sie in ein Kinderheim am Rande von Dresden. Diese Familie, die über sie Bescheid gewußt hatte, war vermutlich ein paar Tage darauf bei dem Luftangriff auf Dresden ums Leben gekommen. Das Kind war zu klein, um Auskunft über sich geben zu können; es hatte ein Pappschild um den Hals, auf dem «Ruth Wossilo» stand. Außer dem besaß es nichts als eine zerfetzte Stoffpuppe und das, was es auf dem Leibe trug. Niemand wußte, woher das Kind kam und wann es geboren war. Die Generalin Wossilo fand die Enkelin durch Suchdienste erst nach drei Jahren. Die nun fast sechsjährige Ruth sprach sächsisch, war lang und mager und sah die Frau, die behauptete, ihre Großmutter zu sein, aus ängstlichen braunen Augen an. Dorothea Wossilo war sich nicht klar, ob dies ihre Enkelin war oder nicht.
Ihr Sohn Jesko hatte gegen ihres Mannes und ihren Willen eine österreichische Rote-Kreuz-Schwester geheiratet, die er im Frontlazarett als Verwundeter kennengelernt hatte. Sie stammte von einem Bauernhof in Kärnten. Bei der einzigen Begegnung mit ihren Schwiegereltern, als ihr Mann schon gefallen war, ohne sein Kind gekannt zu haben, preßte sie das winzige Mädchen, das ihre braunen Haare und braunen Augen geerbt hatte, an sich und sagte: «Ihr mögt fein sein und gebildet, aber bei euch friert's mich. Ich nehm die Ruth mit. Sehen könnt ihr sie, aber geben tu ich sie euch nicht.»
1947, als Dorothea die Enkelin fand, war auch sie allein. Der General wurde seit 1944 vermißt. Kurz bevor sie die Nachricht erreichte, daß in einem Kinderheim bei Dresden eine Ruth Wossilo lebte, war ihr über das Rote Kreuz der Brief eines Hauptmanns zugeleitet worden, der gesehen hatte, daß der General bei einem Gefecht in der Nähe von Jassy in Rumänien gefallen war.
«Weißt du, wie deine Mutter mit Vornamen hieß, Ruth?» fragte die Generalin das Kind. «Hieß sie Anna?» - «Ja, Anna», sagte das Mädchen unsicher. Die Leiterin des Heims zeigte Dorothea Wossilo das Pappschild und die Puppe. Sie hatte nie die Schrift ihrer Schwiegertochter gesehen, aber sie erkannte die Puppe wieder; die Mutter hatte sie der kleinen Ruth genäht. Das Kind spielte schon bei dem einen, so unglücklich endenden Besuch damit.
Die siebenundfünfzigjährige Dorothea nahm das Kind zu sich und begann mit ihm ein neues Leben.
Als Ruth zurückkam, saß ihr Mann in einem der Segeltuchsessel neben ihrem Zeichentisch. Er sah die Entwürfe für Glückwunschkarten durch, die sie in den letzten Tagen gezeichnet hatte. «Hübsch», sagte er. «Die gefällt mir besonders gut.» Es war die Zeichnung einer Katze, die durch hohes Gras lief. «Ist es die rot-weiß getigerte?»
«Ja. Wie gut du beobachten kannst! Ich habe die Streifen nicht mal angedeutet.»
«Die Graue und die Schwarze bewegen sich ganz anders. Übrigens, was war eben mit Großmutter?»
«Sie hat einen der jungen Füchse gesehen. Im Blumenbeet. Schade, aber ich bekomme sie nie zu Gesicht, weil ich nicht die Zeit habe, stundenlang auf der Terrasse zu sitzen. Worüber habt ihr eigentlich gestritten?»
«Ach, das übliche. Ich nehme nicht genug Rücksicht auf dich. Ich lade dir zuviel Arbeit auf, weil ich gern Gäste habe. Ich dulde, daß die Kinder Freunde mitbringen, obwohl ich weiß, wie überlastet du bist. Ich selbst bin indolent. Dann lassen meine Manieren zu wünschen übrig. Ich stehe nicht auf, wenn du ins Zimmer kommst. Ich frage dich nicht, was du zu trinken wünschst, und ich sehe zu, wie du dir selber einschenkst.»
Ruth seufzte tief auf.
«Was möchtest du denn trinken?» fragte Hubert grinsend.
«Einen Eimer Champagner. Bloß geht das nicht, weil ich soviel nicht vertrage. Gib mir einen Fingerhut Klaren, und dann laß uns spazierengehen. Großmutter ist in ihrem Zimmer und hat ihren Tee. Die Kinder kommen erst zum Abendessen. Wir haben eine Stunde Zeit.»
«Und deine Zeichnerei?»
«Eilt nicht. Ich habe keinen Termin.»
Die Generalin, Dorothea Wossilo, geborene Rechtern, war von Ruth in ihr Zimmer gebracht worden. Wie immer, sobald sie allein war, glitten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie sah verwischte Bilder, auf denen die Gesichter unscharf waren wie auf sehr alten Fotografien. Sie versuchte, ihren Sohn vor sich zu sehen, diesen schwierigen einzigen Sohn, der sich gegen die Familie und die Tradition aufgelehnt hatte, der sich weigerte, Offizier zu werden, und als Gefreiter an einem Frontabschnitt kämpfte, an dem sein Vater eine Division kommandierte. Der Bruch kam, als er die zwei Jahre ältere Krankenschwester heiratete, diese Anna Oberbichler, die von einem armseligen Bauernhof nahe der slowenischen Grenze stammte. Keine fünf Monate nach der Heirat war Jesko gefallen. Nein, sie konnte sein Gesicht nicht heraufbeschwören. Auch nicht das seines Vaters. Dorothea drehte sich zur Seite und blickte auf die Fotografien auf dem kleinen Tisch. Es half nichts. Aus den Bildern wurden keine lebendigen Menschen. Nur diese Anna Oberbichler, von der es allein das Hochzeitsfoto gab, sah sie. Ein junges, trotziges Gesicht, einen weichen Mund, der härter wurde, je länger sie den Forderungen des Generals zuhörte, das Kind fest an sich gedrückt. Nein, hatte sie damals gesagt, nein, niemals! Dorothea erinnerte sich, neben ihrem Mann gestanden zu haben, kaum beachtet von dieser jungen Person, die ihre Schwiegertochter war und die letzte Wossilo auf dem Arm hielt. Sie wußte nicht mehr, ob sie damals gern eingelenkt hätte. Sie glaubte es nicht. Dorothea schüttelte den Kopf. Sie war zu alt, sich noch etwas vorzumachen: Sie hätte nicht eingegriffen.
Erst als sie nach dem Krieg ganz allein war, begann sie, nach Anna Wossilo und ihrem Kind zu suchen.
Für die alte Frau im Sessel verschoben sich die Bilder. Aus Anna wurde Ruth mit den braunen Haaren und ängstlichen braunen Augen, die dennoch sehr klar blickten. Sie wollte damals nicht bei geschlossener Tür schlafen; sie verlangte nach Licht und mußte hören können, was um sie geschah. «Papperlapapp», sagte Dorothea und machte die Tür zu. Ruth schrie oder weinte nicht; sie bekam denselben harten Mund wie ihre Mutter und machte die Tür wieder auf. Dorothea gab erst nach, als Friedrich, ihr und Jeskos alter Freund, der General Friedrich von Hortmann, begütigend auf sie einredete. «Dorothea, hab doch Mitleid mit dem Kind. Denkst du nie an deinen Sohn?» Sie hörte endlich, was der Freund nicht hatte aussprechen wollen, und ließ Ruth gewähren. Als die Kleine sieben wurde, verlor sich allmählich die Angst aus ihren Augen.
In der Geborgenheit ihres Zimmers schloß Dorothea die Augen, um besser sehen zu können. Sie war mit Ruth im Park. Das Mädchen blieb vor zwei Hunden stehen, die sich paarten. Sie sah aufmerksam zu. Dorothea wußte nicht, was tun. Sie wartete ab. Das gelang ihr nach einem Jahr mit Ruth bereits besser. Endlich drehte das Kind sich um. «Bei Hunden gefälld mir das», sagte sie in breitem Sächsisch. «Bei Menschen siehd es gomisch aus.»
«Hast du das denn schon gesehen?»
«Ofd. Im Bark. Wir haben uns rangeschlichen. Bei Hunden isd es ordendlich, bei Menschen isd es ein Gewurschdel mit den Gleidern . vielleichd wenn sie Fell hädden.»
Als Dorothea es Friedrich erzählte, lachte der. «Du hast dir ein weises, welterfahrenes und unglaubliches Kind aus diesem Heim geholt.»
Für den alten General blieb Ruth das unglaubliche Kind.
Dorothea wurde in die...
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