Schweitzer Fachinformationen
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Als die Kälte ihr langsam in die Knochen kroch, wachte Mercuria auf. Die Seidendecke war vom Bett geglitten. Die Vorhänge wehten im leichten Wind, und über den Dächern bimmelte eine kleine Glocke. Inzwischen kam es seltener vor, dass sie mitten in der Nacht hochschreckte, aber ganz hatten die Albträume nicht aufgehört.
Früher hatte sie wie ein Stein geschlafen, ganz gleich ob nach getaner Arbeit einer ihrer Freunde, Favoriten oder Kunden neben ihr gelegen hatte oder nicht.
Über die Schlafgewohnheiten dieser Herren hätte sie ein Buch schreiben können: Die einen wälzten sich hin und her, die anderen lagen regungslos da wie die Mumien; es gab die Nimmersatten, die noch im Schlaf ihre Hände nicht bei sich behalten konnten, und die Reumütigen, die sich irgendwann in ihre Ehebetten zurückstahlen, nur um am nächsten Tag schon wieder vor ihrer Tür zu stehen; es gab die Ungenierten, die meinten, sie hätten gleich das ganze Bett bezahlt, und sich unter den Laken breitmachten wie die Kuckucksküken im Nest des Wirtsvogels; es gab die Anschmiegsamen mit ihrem Klammergriff und die Verschämten, die so weit vor ihr zurückwichen, dass sie bald auf den Boden kullerten. Einige von denen hatten am Abend zuvor noch schnell das Kruzifix über dem Bett mit einem Tuch verhängt, um ihre Gelüste nicht unter den Augen des Erlösers zu stillen, während sie ihren Beichtkindern bei jeder Gelegenheit damit drohten, dass dem Herrn nichts verborgen bliebe. Manche schnarchten, dass die Scheiben klirrten, oder sie murmelten im Traum vor sich hin, andere waren so still, dass Mercuria schon nach dem Pulsschlag getastet hatte. Einer war tatsächlich mal neben ihr dahingeschieden, ein hochbetagter Mönch aus einem nahe gelegenen Kloster. Du liebe Güte, das war ein Zirkus gewesen, im Morgengrauen waren zwei seiner Mitbrüder erschienen, die genau gewusst hatten, wo der Schlawiner zu finden war; der Abt machte seine Kontrollrunde, und dem konnten sie ja schlecht erzählen, wo der alte Lustmolch mal wieder die Nacht verbracht hatte. Dass er tot war, das hatte denen natürlich nicht ins Konzept gepasst, und von seiner Angewohnheit, sich in Frauenkleidern aus dem Klausurbereich zu stehlen, hatten sie nichts gewusst. Also hatte Mercuria ein Hemd hervorgekramt, das ein anderer Kunde eine Woche zuvor auf der Flucht vor seiner an die Haustür hämmernden Frau bei ihr liegengelassen hatte, ein ziemlich großes Hemd, das sie dem Mönch trotz der Leichenstarre ganz bequem über die morschen Knochen hatten ziehen können. Wie gesagt, ein Buch hätte sie über diese Zeiten schreiben können.
Mercuria zog die Decke wieder hoch, aber der Schlaf wollte nicht zurückkehren. Der Wind spielte mit dem fahlen Mondlicht Verstecken in den Vorhängen, und die Glocke bimmelte unbeirrt weiter. Was gab es um diese Zeit eigentlich zu läuten?
Sie stand auf und trat ans Fenster. Der Mond beleuchtete das schöne neue Pflaster im Innenhof. Die Zweige der Blumen in ihren Kübeln rekelten sich in alle Richtungen. Die Rosen mussten dringend zurückgeschnitten werden.
Sie zog das Nachthemd über den Kopf und kleidete sich an. Es hatte keinen Sinn, sich wieder ins Bett zu legen und das wimmelnde Schlangenbündel von Erinnerungen zu bändigen. Wann immer diese Erinnerungen an jenen Tag vor über drei Jahren sie heimsuchten, hatte Mercuria sich mit irgendwelchen Verrichtungen abgelenkt, aber weil sie ja schlecht mitten in der Nacht an den Pflanzen herumschneiden konnte, beschloss sie, einen Spaziergang am Fluss zu machen und sich vom Rauschen und Gluckern des Wassers an den Brückenpfeilern einhüllen zu lassen.
Den Palazzo Farnese umrundete sie an der Westseite, um nicht an der Ecke vorbeizumüssen, wo es passiert war. Seit drei Jahren mied sie diese Stelle wie ein mit angespitzten Pfählen gespicktes Loch.
Auf das Wasser war Verlass. Kühl und gleichgültig zog der Fluss dahin. Eine schwimmende Mühle dümpelte als konturloser Koloss im Strom und zerrte an der leise klirrenden Kette. Die Glocke bimmelte immer noch vor sich hin. Je näher Mercuria der Engelsbrücke kam, desto vernehmlicher wurde sie. Vielleicht lag irgendein Würdenträger im Sterben.
Mercuria passierte den Palazzo Altoviti. Bindo Altoviti, auch ein ehemaliger Favorit, verschwenderisch wie ein Pharao war der gewesen, hatte sie mit Gold und Perlen zugeschüttet und auf Knien angefleht, das mit dem Ruhestand noch einmal zu überdenken; es hätte wohl nicht viel gefehlt, und er hätte in seinem toskanischen Gehauche noch einen Heiratsantrag hinterhergeschoben, aber dem alten Farnese war in den letzten Jahren seines Pontifikats offenbar der Heilige Geist erschienen und hatte ihn einen Blick ins Fegefeuer werfen lassen. Pünktlich zum Konzilsbeginn hatte der Papst auf einmal die Daumenschrauben der Moral angezogen; Bindo Altoviti musste fürchten, dass ihm mit einer solchen Mesalliance die Kredite bei der Kurie platzten, und so platzte stattdessen der Heiratsantrag, falls Bindo sich wirklich mit entsprechenden Gedanken getragen hatte. Ja gesagt hätte Mercuria ohnehin nicht.
Als sie vor der Engelsbrücke angekommen war, begriff sie, woher das Geläut kam: vom Gefängnis bei Tor di Nona. Da stand eine Hinrichtung bevor. Natürlich! Die ganze Stadt hatte ja von nichts anderem gesprochen die letzten Tage. Hatte Gianangelo Medici also tatsächlich ernst gemacht.
Am Eingang des Gefängnisses rumste es zweimal, als schwere Riegel an die Seite geschoben wurden. Auf dem Pflaster glomm Fackelschein auf, wurde stärker, erreichte die gegenüberliegende Hauswand und tanzte über das Mauerwerk.
Da kamen sie. Du liebe Güte, wie viele Knüppelmänner hatte der Gouverneur denn da zur Nachtschicht verdonnert? Rechnete der ernsthaft damit, dass noch irgendjemand einen Finger rühren würde, um Carlo Carafa und seine Verwandtschaft vor dem Galgen zu bewahren?
Nachdem an die zwanzig Bewaffnete aus dem Tor gequollen waren und sich zu einem Zug formiert hatten, erschien ein Priester mit einem verhängten Vortragekreuz.
Und dann kam er: Carlo Carafa. Zwischen zwei Bütteln schleppte er sich aus dem Tor, die Ketten an seinen Füßen klirrten, und die vor dem Bauch gefesselten Hände hatte er gefaltet, als ob das Beten ihm jetzt noch helfen könnte. Sein Kopf war unbedeckt, selbst das Kardinalsbirett hatten sie ihm also weggenommen, um ihm zu zeigen, dass er, der jahrelang den ganzen Kirchenstaat das Fürchten gelehrt hatte, inzwischen nichts weiter war als ein Verbrecher, dem gleich die Schlinge um den Hals gelegt werden würde.
Langsam kam die Prozession auf sie zu. Im Fackelschein sah Mercuria sein Gesicht: Den Bart hatte er sich zur Feier des Tages noch einmal gestutzt, und auch sonst sah er nicht aus, als hätte er sich im Kerker mit den Ratten um schimmeliges Brot gezankt. Vielleicht war er ein bisschen blass, aber das konnte man im Fackelschein ja nicht so genau beurteilen. Seine Gesichtszüge drückten vor allem Fassungslosigkeit aus, tiefste Erschütterung darüber, dass dieser Papst, der ihm seine Wahl verdankte, es tatsächlich gewagt hatte, ihn, Carlo Carafa, den Neffen und Staatssekretär seines verstorbenen Vorgängers, fallenzulassen.
Das Läuten erstarb mit ein paar letzten verirrten Schlägen des Schwengels gegen den Glockenkörper. Jetzt waren nur noch die Schritte der Büttel, das Klirren der Ketten und das Gemurmel des Priesters zu hören, untermalt vom immergleichen Rauschen des Wassers.
Die Spitze des Zuges bog auf die Brücke ein. Die Knüppelmänner warfen Mercuria einen misstrauischen Blick zu, als rechneten sie damit, dass sie sich gleich wie ein Greif auf den Verurteilten stürzen und ihn mit sich in die Lüfte reißen würde. Es war grotesk: Üblicherweise geleiteten zwei oder vier von ihnen am helllichten Tag die Todeskandidaten durch aufgebrachte Menschenmengen zum Galgen; hier dagegen war eine halbe Armee unterwegs, um eine einzige Zuschauerin auf Abstand zu halten, die wie verloren im Mondlicht auf dem Platz vor der Brücke stand. Vielleicht hielten sie sie auch für eine Unheilsbotin, abergläubisch wie sie waren, oder für einen Racheengel, der sich auf den Gefangenen werfen würde, um ihn zu erdolchen; es gab sicherlich genug Leute in der Stadt, die das liebend gern getan hätten.
Für einen kurzen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Mercuria war dem Kardinal das eine oder andere Mal auf einem Fest begegnet, aber sie hatte sich von ihm ferngehalten. Carlo Carafa war ein jähzorniges, gewalttätiges Schwein; jeder wusste, was der auf dem Kerbholz hatte. Mercuria kannte die Gerüchte und die Geschichten von anderen Frauen, und abgesehen davon hatte sie es ihm angesehen, denn diese Sorte von Kerlen war ihr seit frühester Jugend vertraut. Außerdem war sie schon gar nicht mehr im Geschäft gewesen, als sein Onkel ihn aus dem Krieg geholt und vom Söldner zum Kardinal gemacht hatte.
Carlo Carafa war so sehr mit seinem Selbstmitleid und dem Entsetzen über seinen tiefen Sturz beschäftigt, dass es seinem Gesichtsausdruck unmöglich zu entnehmen war, ob er sie ebenfalls erkannte. Einen Augenblick später war er auch schon vorbei.
Ein Dutzend Büttel sicherte das Ende des Zuges. Ohne ein Wort überquerten sie die Brücke und hielten vor der Torbastion. Ein Kommando schallte über den Fluss, eine Antwort wurde zurückgebrüllt, dann öffnete sich das Tor, verschluckte die ganze Prozession, und der Spuk war vorbei.
Mercuria stand allein auf dem weiten Platz. Der Fluss rauschte vor sich hin, und plötzlich kam es ihr vor, als gäbe es in der ganzen Stadt nur noch sie. Hinter den Dächern des Borgo ragte der Apostolische Palast auf....
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