Schweitzer Fachinformationen
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Großmutter wusste sofort, dass etwas Schreckliches geschah. Hellrotes Blut mit kleinen dunklen Klümpchen. Sie spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten, als sie sich den Mund wieder und wieder mit Leitungswasser ausspülte, es in die glänzende Spüle spuckte, bis keine Spur mehr zu sehen war von dem Blut. Sie war doch schon so abgemagert. Niemand hatte etwas dazu gesagt auf dem Flughafen Zanderij. Nicht mal nach dem Abflug ihrer Enkelin. Niemand beachtete sie mehr. Kein Mensch sprach sie noch an auf der Straße. Sie, murmelnd zu der Heiligenfigur, vor der sie so lange kauerte, bis ihre Knie zu sehr schmerzten. Dann stand sie auf, steckte Münzen in den Opferstock, suchte eine Kerze aus, zündete sie an, stellte sie hin, sah in die Flamme und betete hörbar: Lass mein Blut anfangen zu fließen an diesem Ort und nicht mehr aufhören, bis ich gefunden werde. Die Christusstatue blickte auf sie herab. Blut auf der Brust. Blutstropfen an den Füßen. Blutige Wunden an den Händen. Um nicht wieder untröstlich weinen zu müssen, rückte sie weiter zur Statue des Heiligen Antonius von Padua, durch dessen Fürsprache alles Verlorengegangene wiedergefunden wurde. Bei ihm eine brennende Kerze für Heli, dazu ein Stoßgebet, und sie setzte sich auf eine Bank in seiner Nähe. Sie hörte die Schritte von Anderen, die, genau wie sie, ihre Not und ihren Dank bei einer der Heiligenfiguren abluden. Mit geschlossenen Augen saß sie. Falls ihr Leben an diesem Ort aufhörte, würde alles gut werden. Aber wenn der Tod sie zu Hause ereilte, fiele ihr lebloser Körper in die Hände von Wildfremden, die ihn aus der vertrauten Umgebung wegholen würden und an einen Ort bringen, wo keiner zu ihr dürfte. Und wenn sie dort wieder zu sich käme, weil ihr Körper doch noch nicht aufgab, wäre sie die Einzige, die sich schreien hörte. Und sobald sie diese Möglichkeit schmeckte wie Blut hinten in der Kehle, flossen ihre Tränen: fünf Kinder hatte sie zur Welt gebracht, alles gut geratene Erwachsene, die ihr sogar Enkel geschenkt hatten, warum, in Gottes Namen, saß sie also allein in der Kirche und war so gebrochen?
Dicht neben ihren Beinen stand eine Tasche, darin Brot, Schnittkäse, Butter und Tütchen mit getrockneten Zutaten für Hühnersuppe; Frisches war zu schwer geworden, um es bis zu ihrer Küche zu tragen. Ihr tägliches Leben hatte von jeher mit Essen zu tun gehabt: Lebensmittel beschaffen und ihre Lieben zu Hause versorgen. Es gab eine Zeit, da gingen Hausiererinnen herum mit ihrer Ware, und manche kamen regelmäßig an ihre Tür, um bei einem Glas Wasser einen Moment zu verschnaufen von den staubigen Straßen. Es waren Frauen aus Familien von Gärtnern und kleinen Viehzüchtern, sie wohnten außerhalb der Stadt. Über den Preis für einen kubi-Fisch, für ein schweres Huhn, eine Packung Eier wurde verhandelt, aber niemals über Obst, Gemüse, Milch. Große Freude hatte das Backen, Braten, Kochen ihr gemacht, denn alles, was aus ihrer Küche auf den Tisch kam, war jedes Mal wieder ein Fest für ihre Familie. Und dann waren Soldaten durch die Stadt gezogen, kreidebleich vor Erschöpfung oder knallrot von der Gluthitze, die sie nicht vertrugen. Irgendwo stand die Welt in Flammen. Vielleicht war Paramaribo ein Zufluchtsort. Nichts verstand sie vom Krieg, dabei hatte sie mit siebzehn einen Mann im Dienst des Militärs geheiratet. Bei ihr kam der Krieg in Form von Kastenbrot, Schokolade, Tabak ins Haus. Ihr Anton brachte keinen Schnaps von der Garnison mit, aber sie roch seine Fahne, wenn er redete. Sie weiß nicht mehr, wie es angefangen hat mit dem Entzweischneiden von Zigarren, und dann: abends, in der Abgeschiedenheit des Schlafzimmers, den Stumpen mit einem Streichholzflämmchen zum Brennen bringen, zwischen den Lippen daran ziehen, damit die Glut nicht erlischt, einatmenausatmen und zur Ruhe kommen. Der Nachttopf aus weißer Emaille war ihr Aschenbecher; ihr Spucknapf, als sie anfing, Tabak zu kauen, und nachts diente er ihnen oft als Pott: Der Vater ihrer Kinder ließ kurz vor Tagesanbruch noch geräuschvoll Wasser in den hohen Topf. Das war der Moment, in dem sie erwachte aus einem tiefen Schlaf und sofort aufstand, um den Nachttopf in die Kloschüssel auszuleeren, in einem abgetrennten Raum neben dem Badezimmer. So begann ihr Tag im Beinah-Morgenlicht der Tropen. Meistens blieb sie nach dem Ausleeren im gefliesten Gang zur Küche stehen, im Morgenmantel wartend, bis die Hähne im Stall krähten und ihre Tauben hingebungsvoll gurrten, und da: Auf dem Muschelsand unter den Kirschbäumen lagen einzelne dunkelrote Früchte. Kurz war sie in so einem Tag, Jahre-Jahre von da, wo sie jetzt vor sich hinträumte, und ein Anflug von Glück legte ihr ein Lächeln aufs Antlitz. Der Pfarrer, der sie ansprach und sagte, ihr Seelenfriede rühre ihn an, konnte nichts ahnen von den Schmerzen, die ununterbrochen an ihr nagten. Der Pfarrer wusste, dass sie dort sitzenblieb, ganze Zeitstunden lang. Er war stehen geblieben, nur kurz, um ihr einen »gesegneten Tag« zu wünschen. Sie hatte genickt, kurz zu ihm aufgesehen, um sich zu vergewissern, dass er es war: der neue Pater Overtoon, über den sich die Messdiener die ganze Zeit lustig machten, sogar bei der Familienmesse am Sonntag, zur schallenden Heiterkeit der Kinder. Er war weitergegangen, um auch anderen Betenden etwas zuzuflüstern, aber das Klappern seiner Holzpantinen auf dem Kirchenboden hallte nach in ihren Gedanken. Sie griff nach dem Rosenkranz um ihren Hals, wollte schon eine Perle fürs erste Gebet zwischen Daumen und Zeigefinger nehmen. Erst kam ihr noch ein tiefer Seufzer über die Lippen, bevor diese wie von selbst murmelten: Gegrüßet Seist Du Maria Voll Der Gnade Der Herr Ist Mit Dir . Das Murmeln würde erst wieder aufhören, wenn die Sirene um zwölf Uhr die Stille zerschnitt. Dann würde sie aufstehen, die Einkaufstasche nehmen, sich aus der Bank schieben und mit dem Gesicht zum Altar tief verneigen, zur Außentür gehen. Dort würde der braune Küster sie erwarten und ihr die Tür aufhalten, um sie hinauszulassen, denn die Kirche bliebe geschlossen für den Rest des Dienstags.
Auf dem Nachhauseweg mied sie die Straßen, die Viertel, wo Bekannte von ihr wohnten. Sprechen konnte schmerzhaft sein und sie zum Bluten bringen. Außerdem war es so heiß, so mitten am Tag, so mitten in der Stadt, dass sie meinte, Dampf vom Asphalt aufsteigen zu sehen. Sie schritt rasch aus, die Tasche fest in der linken Faust, damit sie den rechten Arm wie ein Ruder benutzen konnte. Sie musste quer durch die ganze Stadt und danach noch vorbei an einem feinen Vorort, bevor sie ihren Bungalow sah, margarinegelb, neben anderen ähnlichen Häusern. In ihrer Tasche steckten ein gefalteter breitkrempiger Strohhut und ein in seiner Hülle zusammengeknülltes Regencape aus Kunststoff. Ledersandalen einer bekannten Sportmarke trug sie, ihr zugesteckt von Enkelin Heli, die ins Ausland gegangen war; in diesem Schuhwerk spürten ihre Fußsohlen die Kiesel und andere Unebenheiten auf dem Gehweg nicht. Sie war an geschlossene Schuhe gewöhnt, aber die brannten bei der Hitze und wurden feucht vom Schweiß. Weshalb sie nie einen der kleinen Wilden-Busse nahm, wusste sie selbst nicht. Sie geht lieber ihren eigenen Weg. Früher hatte sie immer andere Frauen getroffen, die auch vom Einkaufen kamen; dann blieben sie kurz stehen, um zu plaudern und die schweren Taschen abstellen zu können. Damals war die Innenstadt noch nicht so gepflastert und asphaltiert und es gab Kanäle, die für Abkühlung sorgten. Außerdem lag das Haus, wo sie ihre Kinder großgezogen hatte, näher am städtischen Fluss und nicht in einem entlegenen Stadtteil. Unter einem Blechdach, wo Obst und Gemüse verkauft wird, bleibt sie stehen. Eine junge Frau mit glattem langem Haar watschelt hochschwanger zu ihr. Sie zeigt auf das, was sie mitnehmen möchte: Mangos mit roter Schale voll schwarzer Pünktchen, Bananen, auch wilden Spinat und zehn Limetten. Die Verkäuferin zwingt ihr kein Gespräch auf, packt unbeirrt Obst und Gemüse in eine Tüte, tritt näher, sieht zu, wie alles in der Einkaufstasche verschwindet, und wartet auf ihr Geld. Als sie sich bedankt und bezahlt, fällt ihr etwas ein: Tochter Louise will bei ihr vorbeischauen nach der Arbeit. Inzwischen ist die Tasche schwer. Trotzdem versucht sie, größere Schritte zu machen, um schneller zu sein. Hunger hat sie, aber keinen richtigen Appetit. Das Schlucken ist immer schwieriger geworden, sogar beim Suppe-Essen. Ihre Kräfte hatten in den letzten Monaten immer mehr nachgelassen, ohne dass sie wusste, was da passierte mit ihrem Körper, außerdem hatte sie keine Worte für ihre Beschwerden, mit denen sie zu einem Arzt hätte gehen können, im Militärspital. Einen Moment blitzt das Gesicht ihres Mannes auf. Es ist eher der Gedanke an das Spital, in dem er, nach kurzem Leiden, als pensionierter Unteroffizier gestorben war. Sie hatte ihn dort nicht besucht. Aber als man sie geholt hatte, als er eingeschlafen war, und sie ihn still, lächelnd sogar, tot...
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