Schweitzer Fachinformationen
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packte meine Tante meinen Koffer, ich bekam ein Schild um den Hals gehängt »Ich fahre nach Betzigau« und wurde in einen Zug gesetzt. Mein Onkel hatte meinem Vater mitgeteilt, dass ich einen schlechten Einfluss auf seine Kinder ausüben würde und dass ich deshalb nicht mehr bei ihnen wohnen könnte. Also schickte mein Vater mich in ein Kinderheim nach Betzigau.
Ich war sehr froh, aus Baumholder wegzukommen. Die Menschen da verstanden mich überhaupt nicht, und ich verachtete sie.
Es war spannend, allein Zug zu fahren. Das Schild nahm ich sofort ab, als der Zug abfuhr. Nur wenn ich umsteigen musste, hängte ich es mir wieder um. Dreimal musste ich umsteigen, und jedes Mal holte mich eine Frau von der Bahnhofsmission aus dem einen Zug und setzte mich in den anderen.
Im Kinderheim ging es mir gut. Ich ging dort zur Schule, bekam gute Zeugnisse, und alle mochten mich. Vielleicht hätten mich die Kinder nicht gemocht, wenn sie, wie ich, immer im Heim gewohnt hätten. Aber es war ein Erholungsheim für Stadtkinder, die alle vierzehn Tage wieder abfuhren. Jedes Mal wenn Neue kamen, war ich »der Alte«. Ich kannte tolle Verstecke und jeden Weg. So fragten mich alle Kinder, und ich war sehr wichtig. Und ich habe wirklich ein Jahr lang keine Schläge bekommen! Ich war gern im Kinderheim.
Mein Vater hat mir nie geschrieben.
Kurz nach meinem neunten Geburtstag rief mich die Heimleiterin zu sich. Sie erzählte mir mit strahlendem Gesicht, dass ich wieder nach Hause dürfe.
»Was soll ich denn zu Hause?«, fragte ich ganz unglücklich.
»Dein Vater hat mir einen Brief geschrieben, dass nun alle seine Kinder wieder zu ihm kommen sollen«. Die Heimleiterin war ganz gerührt.
»Wenn die wüsste«, – dachte ich, aber ich sagte nichts über meinen Vater, denn das ging sie ja nichts an. Ich war immer stolz darauf gewesen, meinen Kummer allein zu tragen. So konnte ich mich erwachsen fühlen.
Drei Wochen später saß ich wieder in einem Zug, meinen Koffer hatte ich selbst ins Gepäcknetz gehoben. Eine Frau wollte mir dabei helfen, aber ich habe sie nur wütend angeguckt, und schon setzte sie sich wieder. Diesmal hatte ich kein Schild um den Hals, aber einen Zettel, auf dem ich mir ganz genau aufgeschrieben hatte, wann ich umsteigen musste, und auf welchem Bahnsteig der Zug abfahren würde.
So gegen Abend kam ich in Essen an. Das war eine große Stadt! Ich hatte mir Essen ganz anders vorgestellt. Hätte ich gewusst, dass es eine so große Stadt ist, dann hätte ich mich richtig gefreut. Jetzt aber nahm mir die plötzliche Überraschung die Luft. Als mein Vater mich auf dem Bahnsteig entdeckte und zwei meiner Geschwister mit Geschrei auf mich zukamen, da bekam ich ein warmes Glücksgefühl. Ich liebte in diesem Moment meinen Vater, meine Geschwister – ich liebte die ganze Welt!
Mein Vater hatte jetzt ein Haus in einem Vorort von Essen. Ich fand alles wunderbar!
Meine anderen beiden Geschwister und ein Dienstmädchen warteten mit dem Abendessen.
Ich kam zur Haustür rein, und es roch nach Dampfnudeln. Nun war ich richtig voll vor Glück. Alle guckten mich an, alle fragten mich nach dem Heim, und ich kam mir vor wie einer, der von einer Forschungsreise zurückgekommen ist, obwohl alle schon geglaubt hatten, er sei auf seiner Fahrt ins Unbekannte getötet worden. Ich war der Wichtigste, und mein Vater war noch nie so freundlich zu mir gewesen wie an diesem Abend.
Am nächsten Tag merkte ich noch so ein bisschen, dass sie sich über meine Heimkehr freuten. Nach drei Tagen war ich dann nichts Besonderes mehr.
Dann begann ich die Gegend auszukundschaften. Man brauchte nicht weit zu laufen, um in einen Wald oder auf Felder zu kommen. Die Straße, in der wir wohnten, war nicht sehr breit, hatte aber an den Rändern schöne Bäume mit nicht zu dicken Stämmen. Die Straße war ungefähr einen Kilometer lang, und ich seufzte über die Aufgabe, die ich mir selbst gestellt hatte: Ich hatte beschlossen, auf jeden Baum zu klettern, der in unserer Straße stand, erst dann könnte ich mich als Herr der Straße fühlen.
Nach dem Mittagessen ging ich also zum oberen Straßen Anfang und kletterte auf den ersten Baum. Ich kann gut klettern, das hatte ich im Kinderheim gelernt. Ganz lässig stand ich kurze Zeit später im ersten Baum unserer Straße. Ich konnte nicht viel sehen, da er voll von Blättern war, aber das war ja auch nicht wichtig. Bevor ich den nächsten Baum in Angriff nahm, ritzte ich mit meinem Taschenmesser ein »T« in eine Astgabel des Baumes. Wieder unten auf der Straße, betrachtete ich den Baum als mein Eigentum.
Das ist so ein Wunsch von mir. Ich möchte mal ein Land besitzen, das nur mir gehört. Dann möchte ich da leben, ganz friedlich und nur mit Freunden, wenn ich bis dahin die richtigen gefunden habe. Aber bis ich mir mal so ein Land leisten kann, träume ich immer davon. Oder ich mache so etwas wie damals. Damals beteiligte ich mich einfach an den Straßenbäumen. Ich wusste schon, dass solche Bäume allen gehören, aber ich wollte sie ja nicht wegnehmen, sondern nur mit anderen Augen ansehen als die Leute, die immer durch unsere Straße gehen.
So kletterte ich hoch, ritzte mein »T« in eine Astgabel, und wieder unten angekommen, gehörte der Baum mir.
Der sechste Baum machte mir etwas Schwierigkeiten, da sein Stamm zu dick war. Als ich endlich oben auf einem Ast saß, brannten die Innenseiten meiner Oberschenkel wie Feuer. Ich hatte sie mir aufgescheuert. Beinahe hätte ich geheult. Aber damit wollte ich erst gar nicht angefangen, und so pustete ich auf meine Wunden und biss die Zähne aufeinander.
Mühselig ritzte ich mein »T« in den Baum, diesmal wurde es ein richtiger Buchstabe. Der Abstieg war schlimm. Die Rinde scheuerte an meinen Wunden. Ich stöhnte und ging nach Hause wie ein Cowboy, der fünf Tage lang ohne Pause geritten ist. Nachdem das Dienstmädchen den Dreck aus den Schrammen gewaschen hatte, tat sie mir Jod auf die offenen Stellen. Nun fand ich, dass ich lange genug männlich meine Schmerzen ertragen hatte und weinte vor mich hin. Ach, es brannte schlimmer als Sonnenbrand, den ich wegen der roten Haare sehr oft bekomme. Aber anstatt mich zu bedauern, sagte das Dienstmädchen wütend, es geschähe mir ganz recht! Warum müsste ich mich auch wie ein Straßenjunge aufführen! Ich war beleidigt. Wie kam dieses Dienstmädchen dazu, mir so etwas zu sagen? Mir, einem Pfarrerssohn! Erst überlegte ich, ob ich sie schlagen sollte, aber den Gedanken ließ ich ganz rasch wieder fallen, da sie mich bestimmt bei meinem Vater verpetzt hätte. So sagte ich nur: »Das geht dich gar nichts an! Mach du nur deine Arbeit ordentlich!« Ich hatte sehr viel Verachtung in meine Stimme gelegt. Da holte sie aus und gab mir eine Ohrfeige. Sofort sah ich meine Chance, ihr eins auszuwischen, fing fürchterlich an zu heulen und lief zu meinem Vater. Der guckte ganz erschreckt von seinem Schreibtisch und fragte, was los sei. Ich erzählte ihm, dass dieses gemeine Dienstmädchen mich völlig grundlos geschlagen hatte.
Kaum war ich fertig und hoffte, dass mein Vater nun aufspringen und dem Dienstmädchen kündigen würde, da kam sie ohne anzuklopfen auch ins Studierzimmer, und mein Vater fragte freundlich, was denn los gewesen sei. Sie erzählte ihm von meinen schmutzigen Beinen, meine Wunden erwähnte sie gar nicht; und dass ich unverschämt zu ihr geworden sei. Ja, ich hätte die Frechheit gehabt, ihr zu sagen, sie solle sich nicht um meine Angelegenheiten kümmern, sondern ihre Arbeit ordentlich machen. Da wurde mein Vater wütend, aber nicht auf sie, sondern auf mich! Er schmiss mich aus dem Studierzimmer und rief mir nach, dass er mir, wenn ich nicht schon eine bekommen hätte, eine Ohrfeige geben würde.
Wieder war ich enttäuscht von meinem Vater. – Da wird sein Fleisch und Blut von einem Dienstmädchen geprügelt, und er verteidigt seinen Sohn nicht, sondern beschimpft ihn auch noch und gibt dieser Person Recht! Ich drohte innerlich, dass ich ihn irgendwann auch nicht verteidigen und in Schutz nehmen würde.
Jetzt war ich schon nicht mehr wütend auf das Dienstmädchen, sondern nur noch enttäuscht von meinem Vater. Am nächsten Tag brannten meine Beine fast gar nicht mehr, und ich wollte meine Bäume weiter besteigen. Aus Rücksicht auf meine noch nicht ganz verheilten Wunden nahm ich heimlich zwei Unterhemden aus der Schublade und versteckte sie unter meinem Hemd.
Als ich zu dem Baum kam, der jetzt an der Reihe war, band ich mir die beiden Unterhemden um meine Oberschenkel. Ich sah aus wie ein Torwart, dem die Knieschützer hochgerutscht waren. Jetzt machte das Klettern richtig Spaß, und ich kam gut voran. Gegen Abend hatte ich bestimmt schon dreißig Bäume bestiegen und wollte gerade befriedigt nach Hause gehen, als mein großer Bruder vorbeikam. Er hatte immer noch Pickel, aber ich ärgerte ihn nicht mehr damit, weil er mich einmal verhauen hatte, als ich ihn deswegen ausgelacht habe.
Also, er blieb stehen und fragte mich, was ich denn für komische Lappen um die Beine hätte.
»Tücher, was denn sonst?« Da stürzte sich mein Bruder auf mich, und ehe ich mich’s versah, hatte er mir ein Unterhemd vom Bein gerissen. Er machte ein so entsetztes Gesicht, als ob ich jemanden ermordet hätte, dann stöhnte er wichtigtuerisch auf und sprach: »Das ist ja der Gipfel« – mein Bruder redet immer so geschraubt –, »jetzt zerstörst du auch noch unsere Kleider!«
Ich fing an zu lachen.
»Dir wird das Lachen schon vergehen, komm erst mal nach Hause!« Das sagte er und lief weg.
Jetzt erst merkte ich, dass mein Bruder mich verpfeifen...
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