Schweitzer Fachinformationen
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Kein Windhauch. Am späten Vormittag nahm die Schwüle noch zu. Stickig und heiß war es in Köln. Paulus Fletscher ging langsamer. Ehe er durchs Hahnentor schritt, nahm er den schwarzen Filzhut ab, im Mauerschatten trocknete er mit seinem Sacktuch das lederne Schweißband, dabei schnaufte er einige Male tief vor sich hin. »Wäre besser morgen gegangen. Der Termin in Müngersdorf eilt nicht. Morgen wär’s vielleicht frischer.« Er reihte sich in die Schlange der Fußgänger ein, die aus der Stadt nach Westen wollten.
»Nicht stehen bleiben.« Kein Befehl, auch keine heftige Bewegung, der Stadtsoldat in der rot-weißen Uniform ließ nur die Hand kreisen. »Wünsche einen guten Tag, Herr Advokat.«
»Gut? Wo uns der Krieg droht?«
»Draußen vielleicht. Aber nicht bei uns in Köln.«
»Wer’s immer noch glaubt …« Paulus Fletscher seufzte. »Wenigstens du hast es heute gut. Darfst im Kühlen stehen.« Er schob sich am geöffneten Schlagbaum vorbei.
»Schon recht, Herr Advokat«, rief ihm der Posten nach, »für September haben wir’s wirklich zu heiß.« Ohne sich umzudrehen, nickte Paulus Fletscher und sah auf der anderen Seite der Torzufahrt dem langen Stau entgegen. »Gütiger Himmel!«
Reisekutschen, mehr als gewöhnlich, dazwischen große Planwagen, Bauernkarren. Und die Wachposten ließen sich Zeit, prüften Passpapiere, wühlten in der Ladung und verlangten den Zoll. Wer schneller in die Stadt wollte, steckte den Rot-Weißen einige Stuber zu und musste dennoch warten. »Ist wie im Fegefeuer. Freikaufen kann sich da keiner mehr.« Der Advokat ging dicht an den Gespannen entlang, sah in die offenen Fenster der Reisewagen, lächelte den Fremden zu, kannte er ein Gesicht, so grüßte er mit einer leichten Verbeugung.
Er näherte sich einem Obstkarren. Das Zugpferd war unruhig, schabte mit dem Vorderhuf das Pflaster. Auf dem Bock lehnte der Bauer, die Kappe tief über den Augen, döste er vor sich hin. Paulus Fletscher runzelte die Stirn. Um den Mann herum schwirrten Wespen, schlimmer noch, über der hohen Lade stieg eine Wolke von den Obstkörben auf und fiel zurück, schwappte über die Seitenwände und umkreiste in zornigem Wirrwarr den Karren.
Einige der Viecher kamen gefährlich nahe. Das konnten keine Wespen sein, auch Bienen waren nicht so groß. Hornissen, glaubte er, ganz sicher. »He, Kerl!«, schimpfte der Advokat. »Wieso, verflucht, deckst du dein Obst nicht ab?«
Der Mann war noch nicht ganz wach. »Worum geht es, Herr?«
»Haben wir nicht schon Flüchtlinge genug in Köln?« Paulus Fletscher drohte aufgebracht zu den Körben hinauf. »Jetzt auch noch Hornissen. Du schleppst uns ganze Schwärme in die Stadt …« Insekten umsirrten seinen Kopf. »Weg!« Er riss den Hut ab, schlug nach den Angreiferinnen, entfachte ihre wilde Gegenwehr, er drehte sich auf dem Absatz, schlug heftiger, dabei schleuderte er einige gegen den Bauch des Zugpferdes. Gleich fuhr das Tier vor Schmerz hoch, stieg auf die Hinterhand, fiel zurück, ein Vorderhuf traf den Advokaten am Kopf, gefällt schlug er neben dem Speichenrad zu Boden. Wieder stieg der Gaul, gepeinigt, wilder noch, der hoch beladene Karren wankte.
Mit einem Sprung vom Bock rettete sich der Bauer, dann kippte der Wagen, stürzte das Pferd, und beide begruben Paulus Fletscher unter sich. Körbe fielen übereinander, auf dem Pflaster rollten Birnen und Äpfel.
»Mein Gaul!«, schrie der Bauer. »Helft, so helft doch!« Noch angeschirrt lag das Pferd auf der Seite, versuchte immer wieder, den Kopf zu heben. Männer eilten zur Unglücksstelle, halfen dem Tier.
Jetzt erst erinnerte sich der Bauer. »Wo ist der Herr?« Da sah er den Hut zwischen den Birnen, sah das Bein unter der Seitenlade, den zuckenden Fuß. »Jesses! O Jesses.« Zusammen mit einem Mann versuchte er, den Karren anzuheben. Vergeblich. Dabei zertraten sie das herumliegende Obst, waren mitten im sirrenden Schwarm. Aus Angst vor Stichen wich der Helfer einige Schritte zurück.
»Ich schaffe es nicht allein«, flehte der Bauer zu den Gaffern hinüber, »so kommt doch!«
Zwei andere Mutige wagten sich näher. Von weiter her kam ein junger Bursche gelaufen, überholte die Zögernden, war an der Unglücksstelle. Er packte nach der Seitenlade und wuchtete sie bis zur Hüfte hoch. »Zieht ihn raus!«, rief er. »Ich halt schon. Zieht ihn nur raus.«
Wespen surrten um seine krausen, dunklen Locken. Eine setzte sich auf die Wange des Burschen. Kopfschütteln. »Lass mich!« Ohne die Seitenlade loszulassen, blies er aus dem Mundwinkel nach ihr, konnte sie endlich vertreiben. Derweil zog und zerrte der Bauer den Verunglückten an den Schultern unter dem Wagen hervor. Jetzt griffen auch die beiden neuen Helfer zu. Gemeinsam schafften sie den Reglosen übers Straßenpflaster zur gegenüberliegenden Mauer.
Der Bursche spannte den breiten Rücken, hievte die Seitenlade weiter an, mit jedem Keuchen hob sich der Karren, Stück für Stück, noch ein letzter Ruck, dann kippte er zurück in die Waagerechte, stand wieder auf allen Rädern. Als wäre die Kraftanstrengung nichts, drehte sich der Bursche um und eilte zur Gruppe, die bei dem Verletzten stand. »Wie geht es ihm?« Niemand antwortete. Ein Mann kniete neben dem Reglosen, befühlte den Hals, behorchte die Brust.
»Was für ’n Glück, dass ein Arzt in der Nähe war«, flüsterte der Obstbauer dem Burschen zu. »Sieht schlecht aus für den armen Herrn.«
»Aber ich hab doch den Karren gehoben …«, sagte der Bursche, als müsste er sich verteidigen.
»Du hast alles getan.« Der Bauer fasste den Arm des Retters. »Wer bist du?«
»Arnold. Arnold Klütsch.«
»Bist ein guter Junge. Und stark …«
Ohne große Eile näherten sich zwei der Stadtsoldaten. Kurz besahen sie den Verletzten, der ältere von beiden beugte sich näher über das zerquetschte Gesicht. »Das ist der Advokat Fletscher. Hab doch gerade noch mit ihm gesprochen.« Er tippte dem Arzt auf die Schulter, der sah hoch und schüttelte den Kopf. Der andere Posten wandte sich an die Umstehenden. »Was ist passiert?«
Ein Unglück, alle konnten es bezeugen, redeten gleichzeitig.
Arnold Klütsch trat näher, starrte auf den Toten. »Unser Nachbar.« Er schluckte, wischte die Tränen aus den Augen. »Der Vater von meinem Freund.«
»Was sagst du? Du kennst den Advokaten?« Der ältere Stadtsoldat fasste ihn am Arm. »Dann weißt du auch, wo er wohnt. Du bleibst hier!« Er gab seinem Kollegen einen Wink. »Schick die Leute weiter. Jeder Auflauf so dicht vorm Tor ist untersagt. Und sorg dafür, dass der Bauer mit seinem Obstkarren verschwindet!« Er wandte sich an den Arzt. »Ist da nichts mehr zu machen? Ist der Advokat wirklich tot?«
»Schau doch hin. Eine Trage muss her.«
»So ein Jammer.« Der Rot-Weiße betastete die Rocktaschen des Toten und fand den Passierschein. »Ich wusste es. Und das bei dieser Hitze.« Er bettelte fast: »Auch nicht ein kleiner Funken Leben mehr?«
Der Arzt sah ihn prüfend an. »Stimmt etwas nicht?«
Mit dem Finger tippte der Posten auf das Papier. »Der Schein gilt für den Advokat Fletscher, für den lebendigen. Die Leiche darf damit nicht in die Stadt. Dafür muss ein neuer Passierschein ausgestellt werden. Und das dauert, und bei der Hitze sowieso noch länger. Können wir es nicht …?« Der Stadtsoldat schob Arnold Klütsch etwas zur Seite, ehe er sich zum Ohr des Mediziners reckte und flüsterte, bis der Arzt die Schultern hob. »Mir soll’s recht sein.«
Erleichtert seufzte der Posten. »Also dann. Schaffen wir den Verletzten in die Stadt!«
Arnold schüttelte den Kopf. »Jetzt lebt er wieder?«
»Frag nicht. Halt den Mund und hilf uns!«
Der Siebzehnjährige wischte sich die Augen. »Bis ich das begreife«, flüsterte er vor sich hin.
Wenig später wurde Advokat Fletscher auf einen leichten, zweirädrigen Karren gelegt. Da kein Zugtier vorhanden war, nahm Arnold die beiden Deichselholme unter die Achseln, und in Begleitung des Arztes zog er die Fracht an den wartenden Kutschen und Planwagen vorbei auf das Hahnentor zu. Am Schlagbaum prüfte der ältere Posten selbst die Passierscheine und winkte Karren und Begleitung weiter. Gleich übergab er den Wachdienst dem jüngeren, und noch im Schatten der dicken Mauern, doch innerhalb der Stadt, untersuchte der Arzt den Reglosen und stellte den Tod des Advokaten fest.
Der Stadtsoldat bedankte sich: »Doktor, das werd ich Euch wiedergutmachen.«
»Jeder hilft jedem.« Gemessenen Schritts entfernte sich der Mediziner.
»Und jetzt zu dir«, der Rot-Weiße wandte sich an Arnold, »wo steht das Haus von dem armen Teufel?«
»Bei uns um die Ecke. An der Großen Budengasse.«
»Da bringst du mich und den Advokat jetzt hin.« Er sah auf das blutverschmierte, zerstörte Gesicht. »Schlecht kann es so einem Studierten nicht gehen. Das gibt Wegegeld von der Familie. So verdien ich heute wenigstens etwas.«
Warum sagst du so was?, dachte Arnold und schüttelte den Kopf. Der Rot-Weiße verstand die Geste falsch und tätschelte den Arm des Jungen. »Du bekommst auch was davon ab. Wir teilen. Nur keine Angst.«
Um nicht die Fäuste zu ballen, packte Arnold fest nach beiden Deichselholmen. »Mir ist … Der Herr Paulus Fletscher war ein guter Mensch.« Er stürmte mit dem Karren über die Hahnenstraße in Richtung St. Aposteln.
Zwischen Gemüsegärten holte ihn der Rot-Weiße ein. »Langsamer, Junge, langsamer. Sonst fällt uns der Advokat noch von der Lade.« Mitfühlendes Lachen. »Nimm’s nicht so schwer. Du bist noch jung. Wer schon so oft wie ich den Tod gesehen hat, der nimmt es einfach.«
Das will ich nicht, dachte Arnold...
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