Schweitzer Fachinformationen
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Das, was sie unten im Dorf abfällig »die Siedlung« nannten, war eine Ansammlung kleiner, neuer Häuser, in der üblichen Bauweise der Sechzigerjahre.
Nüchtern betrachtet waren es Spießerhäuser, nach strenger Zweckmäßigkeit auf dem Reißbrett entworfen. Unten gab es ein Wohnzimmer mit einer Essecke, einen schmalen Eingangsbereich mit bunten Glasbausteinen neben der Haustür und eine kleine Küche mit einer Durchreiche. Oben, in der Dachschräge, waren zwei weitere Zimmer, die als Schlaf- und Kinderzimmer genutzt wurden. In beiden Stockwerken gab es ein Bad.
Des Weiteren hatten sie einen Keller, in dem die Vorräte gelagert wurden.
Der einzige Luxus, den sich diese Häuser leisteten, war ein großes, lang gestrecktes Wohnzimmerfenster mit Blick auf die Landschaft. Dahinter lag eine mit Natursteinen gebaute Veranda, auf der die Familien bei schönem Wetter ihre Feierabende verbrachten. Von ihr führte eine Böschung in die darunterliegenden Gärten hinab.
Zur Zeit des Einzugs der ersten Familien waren alle Grundstücke von einer nackten braunen Lehmschicht bedeckt. Überall, wohin man auch sah, war es braun. Braune Brocken aufgehackter Erde in frisch angelegten Beeten, dampfend vor Feuchtigkeit, wo früh in der Dämmerung die Väter, lange bevor sie zur Arbeit mussten, unter den wachen Augen der Mütter, die hinter den Scheiben der Schlafzimmerfenster standen, den Samen für die Möhren und Kartoffeln einbrachten, die die Familien als Grundnahrungsmittel brauchten, um über die Runden zu kommen, da der Lohn am Anfang nicht reichte, um gleichzeitig die Schulden für das Haus abzubezahlen und die Familie zu ernähren.
Karge Einrichtung der Küche, karge Einrichtung des Wohnzimmers. Putzlappen zu einer Front zusammengeknüllt außen vor Fensterbrettern als Schutz gegen den Regen, Putzlappen auch in dicken Schichten vor der Haustür und davor unsere schweren, klobigen Schuhe mit der dicken Lehmschicht unter den Sohlen.
Neben dem Haus die ewige Baustelle der Garage, die viele Jahre nicht fertig werden sollte, verflucht von der Mutter als ewig offene Wunde, die all den Dreck wieder hineinspülte ins Haus und Anlass für Streitigkeiten prinzipieller Natur gab.
Der Vater schaffte es offenbar nicht oder wollte es nicht schaffen, endlich den Eingangsbereich des Hauses fertigzustellen. Der versank noch immer in einem Chaos aus Werkzeugen und Baumaterialien. Überall waren Lachen halb getrockneten Mörtels, Stapel teilweise aufgeplatzter Zementsäcke, hässliche graue Steine aus Waschbeton, deren Anblick immer wieder ein Kopfschütteln bei der Mutter hervorrief, weil sie schon so oft weggeräumt worden waren, aber auf rätselhafte Weise immer wieder den Weg zurückfanden, um alles zu verschandeln. So entstand bei ihr der Eindruck einer Sisyphusarbeit, die sie immer mehr verärgerte, wütend machte und am Schluss fast verzweifeln ließ, bis endlich, nach Jahren, doch noch die Zeit gefunden wurde, die Garage fertig zu bauen.
Das durchgesessene hellblaue Sofa, noch aus der Aussteuer der Großmutter stammend und mindestens fünfzig Jahre alt, wurde, obwohl es so unansehnlich war, fast mit Ehrfurcht behandelt, weil es einen so langen Weg hinter sich hatte, von Schlesien bis hierher, und eine so alte Geschichte besaß, die unzähligen Stoff für Erzählungen abgab, wenn man nur danach fragte. Der knarzende Kinderhocker, auf dem schon mein Vater und dessen Vater gesessen hatte und auf dem nun ich sitzen durfte, ebenfalls voller Geschichten. Das goldgerahmte Portrait des Urgroßvaters im schwarzen Frack und weißen, spitzenbesetzten Manschetten, das über dem Esstisch hing, sein heller, freundlicher Blick, der immer auf einem zu ruhen schien, ganz gleich, von wo aus man zu ihm hinsah, legte wohl am deutlichsten Zeugnis davon ab, aus welcher Familie meine Mutter ursprünglich kam - Fabrikbesitzer waren sie gewesen. Wie viel Wert sie insgeheim auf diese längst verlorenen bürgerlichen Wurzeln und deren Traditionen legte, kam in Eigenheiten bei den abendlichen Tischgesprächen der Eltern zum Ausdruck. Wenn der Vater etwa glaubte, über banale Alltäglichkeiten aus seinem Berufsleben berichten zu müssen, dann unterbrach ihn die Mutter mit einer gewissen versöhnlich gemeinten Arroganz, indem sie mit der silbernen Zuckerdose in ihren Händen spielte und ihn fragte, ob er sich noch erinnern könne, woher sie diese habe, was sie dann zum Anlass nahm, in sentimentalen Erinnerungen an ihre Jugendzeit zu schwelgen, die, trotz der Benimmregeln, die man ihr auferlegt, und dem strengen Regiment, das ihr Vater geführt hatte, sehr schön gewesen sei.
Diese sehr selten geführten, leicht versnobten Gespräche schafften es für ein paar Stunden, mit Alkohol untermauert, darüber hinwegzutäuschen, in welchem Dreck man tatsächlich feststeckte, und dienten obendrein als erotische Stimulation, indem sie den Vater daran erinnerten, wie hübsch die Mutter einst in jungen Jahren gewesen war.
Die Mutter war sich dessen bewusst, spielte dabei unablässig mit den Händen und brachte durch diese alten Geschichten mit gurrender Stimme das Maximum ihrer noch vorhandenen Östrogene in Aufruhr. Der Vater konterte scherzhaft ihre Erzählungen mit genauen historischen Widerlegungen, um sie zu ärgern. Pedantisch, wie er war, hatte er alle Ereignisse seines Lebens stichwortartig in seinen Tagebüchern festgehalten und konnte sie jederzeit nachschlagen. Er brachte dabei seine nicht weniger bürgerliche Herkunft ins Spiel, um sich in deren Glanz zu sonnen, und behauptete sogar, wenn die Mutter irgendwann, wie immer, auf das erste Verliebtsein zu sprechen kam, dass seine anfängliche Absicht eine Zweckheirat gewesen war, was die Mutter jedes Mal empörte, aber gleichzeitig auch entflammte.
Diese Gespräche waren insofern besonders delikat, als sie nur an den Freitagabenden stattfanden, wenn der Vater nach einer Woche aus Nürnberg, meist verspätet, zurückkam und von der Mutter bereits sehnlichst erwartet wurde, was sie aus Stolz aber immer gut verheimlichen konnte. Die aufgeladene Stimmung war dann meist labil und konnte jederzeit in Streit und gegenseitige Anwürfe umschlagen, die dann den Rest des Abends verdarben. Nur wenn es dem Vater glückte, aufgrund besonderer Sensibilität, Nachsicht und Toleranz gegen die ständig aufflackernden Animositäten und Eifersüchteleien von ihrer Seite das Wiedersehen in eine harmonische Richtung zu lenken, konnten solche Gesprächskabinettstückchen gelingen.
Am Anfang waren es drei Häuser am Hang, deren Bauende auf den Spätherbst 1963 datiert worden war. Eines davon war unseres. Da der Architekt sich verkalkuliert hatte, war der Rohbau noch nicht einmal halb fertiggestellt, als im September die ersten, starken Regenfälle einsetzten. Die Baugruben füllten sich über Nacht mit einem hüfttiefen schwarzen Brackwasser. Am Anfang versuchten wir das Wasser abzupumpen, mit einer Pumpe, die wir eigens mitgebracht hatten und die so schwer war, dass wir sie kaum bis zum Rand der Grube schleppen konnten. Bevor mein Vater Vertreter wurde, fuhren wir jeden Nachmittag, wenn er mit der Arbeit fertig war, wieder hinauf auf die Hut zu unserem Grundstück, selbst bei strömendem Regen, und unternahmen verzweifelte Versuche, das Wasser abzupumpen. Bis heute höre ich ihn, wie er »Pumpen!! Pumpen!!« rief, wie ein Seemann, dessen Kahn im Sturm unter Wasser ging. Wir Kinder taten, klitschnass, was wir konnten, aber wirklich voran kamen wir nicht. Das Grundwasser blieb.
Rätselhafterweise stieg es sogar immer höher, selbst wenn es nicht regnete. Der Architekt, der sich nur noch sehr selten blicken ließ, mutmaßte, dass sich Risse im Beton gebildet hätten, durch die das Grundwasser hindurchdrang, und schob es auf die Tektonik der Hanglage. In dem Teil des Rohbaus, der schon überdacht war und dessen leere Fensterhöhlen an nichts Gutes gemahnten, lag ein Geruch von feuchtem Mörtel, den wir immer inhalierten, sobald wir im Inneren herumgingen, während wir uns behutsam in den einzelnen, kahlen Räumen umsahen.
Diese Ecken, um die man in dem verlassenen Bau gehen musste, hatten etwas Unheimliches. Besonders der Weg zur Kellertreppe, die in ebenjenem dunklen, schlammigen Wasser endete. Überall konnte man auf etwas stoßen, einen Wurf junger Katzen, die sich dort eingenistet hatten, oder auf den Kadaver eines größeren Tiers, das im Wasser ertrunken war und aufgebläht und reglos an der Oberfläche schwamm. Man konnte Frösche quaken hören in den verschleimten, dunklen Ecken unten im Wasser, in das die Betonwände metertief hineinragten. Wir starrten in diese toten Winkel, in denen es gluckerte oder sich irgendetwas unter der Oberfläche bewegte, folgten den Luftblasen und ihren Emanationen auf dem schwarzen Wasser und interpretierten alles Mögliche an kindlichem Schrecken hinein, von Kröten mit Edelsteinen als Augen bis zu weißen Lurchen mit spitzen Zähnen, die nur darauf warteten, dass wir ins Wasser fielen, um uns aufzufressen. Die Väter hingegen starrten schweigend und wie gelähmt vor sich hin. Der Regen dauerte nun schon Monate an, und es sah nicht danach aus, als würde er jemals aufhören. Sie hatten ihr ganzes Geld in diese Grundstücke und den Bau ihrer kleinen Häuser gesteckt, und nun machte das Wetter alles...
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