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I.
Wenn allenthalben von «Weltunordnung» oder «Welt in Aufruhr» die Rede ist: Was ist eigentlich eine «Weltordnung»? So einfach die Frage klingt, so uneindeutig fallen die Antworten aus, nicht zuletzt in der wissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen. Grundsätzlich definieren lässt sich eine internationale Ordnung als die Art und Weise, in der Staaten miteinander umgehen. Sie beruht auf Übereinkommen und Einrichtungen, die diesen Umgang miteinander regeln.[1]
Je nach Forschungsrichtung richtet sich der Blick dabei auf unterschiedliche Ebenen: Der klassische Realismus geht davon aus, dass es in der Staatenwelt keine übergeordnete Regelungsinstanz gibt und folglich Anarchie herrscht. Entscheidend für das Verhältnis der Staaten zueinander ist demzufolge der Charakter und die Verteilung von Macht, die damit auch ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Dabei geht der defensive Neorealismus davon aus, dass Staaten in erster Linie Sicherheit suchen, während der offensive Neorealismus annimmt, dass sie nach Vormacht streben.
Liberale Internationalisten glauben demgegenüber an die Möglichkeit, die Anarchie der Staatenwelt durch internationale Kooperation und durch Verflechtung zwischen den Staaten zu überwinden. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich daher vorrangig auf Recht, Verträge und Organisationen. Während sie wie die Realisten von objektiven und rationalen Gegebenheiten ausgehen, zielt der Konstruktivismus hingegen darauf, dass Strukturen, Beziehungen und auch Akteure keine vorgegebenen Größen, sondern das Produkt sozialer Konstruktion sind. Konstruktivisten interessieren sich daher vorrangig für Wahrnehmungen, soziale Praktiken und Ideen.
Während die Wissenschaftspraxis der Internationalen Beziehungen dazu neigt, die Konkurrenz dieser Ansätze als Glaubenskämpfe zu betreiben, lassen sie sich tatsächlich und vor allem in historischer Perspektive gut ergänzen. Verwendet man sie nicht als theoretische Vorannahmen, sondern als analytische Instrumente, so weiten sie den Horizont. Sie eröffnen und schärfen den Blick auf unterschiedliche Faktoren, deren Bedeutung dann gegeneinander abzuwägen ist: Macht, Regeln und Institutionen sowie gegenseitige Wahrnehmungen und Ideen.
Internationale Ordnungen lassen sich nach verschiedenen Kriterien kategorisieren: Sind sie dicht oder eher locker gefügt? Beruhen sie auf bestimmten Machtverhältnissen oder auf vereinbarten Regeln? Ist ihr Geltungsbereich regional oder global? Und handelt es sich um eine allgemeine oder um eine sachspezifische Ordnung (wie etwa eine Handelsordnung)? Kyle M. Lascurettes und Michael Poznansky haben eine Typologie entworfen, mit der sie internationale Ordnungen nach zwei Kriterien sortieren: ihren Entstehungsbedingungen und ihrer Machtverteilung.[2] Ist die Ordnung das beabsichtigte Ergebnis geplanten Handelns, so lässt sie sich als «intentional» charakterisieren - das gilt für alle Produkte einer zum Abschluss gebrachten Friedenskonferenz. Stellt sie hingegen - wie die Ordnung nach 1945 - das unvorhergesehene Resultat kumulierter Interaktionen dar, wird sie «spontan» genannt. Wenn eine Ordnung von einem einzelnen Akteur (bzw. wenigen privilegierten Akteuren) ausgeht, wie es nach 1990 der Fall war, so wird ihre Machtverteilung als «konzentriert» bezeichnet. Beruht sie hingegen, wie das Mächtegleichgewicht des 19. Jahrhunderts, auf mehreren gleichberechtigten Spielern, so gilt sie als «zerstreut» (dispersed). Die Einteilung hilft Ordnungen zu unterscheiden; sie sagt aber nichts über ihre Güte oder Dauerhaftigkeit aus.
Dieser Typologie zufolge sind Ordnungen einer Balance of Power in ihrer Entstehung «spontan» und in ihrer Machtverteilung «zerstreut». Letzteres galt auch für die Pariser Ordnung von 1919/20, die im Hinblick auf ihre Entstehung allerdings «intentional» war. Das Gegenteil galt für den Ost-West-Konflikt: Er war «spontan» in der Entstehung und «konzentriert» in der Machtverteilung. Letzteres galt auch für die Ordnung von 1990, ihre Entstehung war demgegenüber allerdings «intentional».
Entstehungsbedingungen
Machtverteilung
intentional
spontan
konzentriert
hegemonial Warschauer Pakt Ordnung von 1990
zentralisiert Ost-WestKonflikt
zerstreut
verhandelt Westfälische Ordnung 1648 Wiener Ordnung 1815 Pariser Ordnung 1919/20
dezentral Balance of Power
Henry Kissinger hat in seinen Studien über die Wiener Ordnung von 1815 eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren einer Ordnung herausgearbeitet, die in der Politikwissenschaft bis heute geteilt wird: dass die Ordnung von Seiten der relevanten Akteure respektiert und nicht aktiv in Frage gestellt wird. Nur aus dieser allgemeinen Akzeptanz, so Kissinger ganz funktional, realistisch und zugleich konstruktivistisch avant la lettre, bezieht sie ihre Legitimität.[3] Das heißt aber auch: Wenn eine Ordnung von den relevanten Akteuren nicht akzeptiert und zudem aktiv in Frage gestellt wird, dann verliert sie ihre Legitimität und damit ihre Funktion.
Das Ende einer Ordnung liegt nicht automatisch in einzelnen Veränderungen oder Konflikten und nicht einmal in begrenzten Kriegen; selbst der Krimkrieg und die italienischen und die deutschen Einigungskriege setzten in den 1850er und 1860er Jahren die Wiener Ordnung von 1815 nicht außer Kraft. Umgekehrt führt auch die Ablehnung der Ordnung durch einzelne Spieler nicht zu ihrem Ende, wenn diese nicht gegen die Ordnung handeln. Das Ende einer Ordnung ist aber gekommen, wenn das gesamte System samt seiner Ordnungsprinzipien von entscheidenden Akteuren nicht nur grundsätzlich in Frage gestellt, sondern auch aktiv zurückgewiesen wird[4] - so wie Japan, Italien und das Deutsche Reich in den 1930er Jahren die Pariser Ordnung von 1919/20 bekämpften.
Die aktive Ablehnung durch relevante Akteure ist also eine Möglichkeit, wie das Ende einer internationalen Ordnung zustande kommen kann. Eine zweite liegt in den Auswirkungen von systemischen Schocks wie Wirtschafts- und Finanzkrisen oder von Kriegen oder Revolutionen wie etwa nach 1789. Und eine dritte Möglichkeit, das Ende einer Ordnung herbeizuführen, liegt in einem evolutionären Wandel von Machtbeziehungen, wirtschaftlichen Verhältnissen und gegenseitigen Wahrnehmungen, wie es im Hinblick auf China im 21. Jahrhundert der Fall war. Und natürlich können sich alle Faktoren auch miteinander verbinden.
Keine internationale Ordnung hat sich als ewig erwiesen. Vielmehr hat ihre Geltungsdauer seit dem Dreißigjährigen Krieg...
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