Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein ungemütlicher Novembermorgen in Amsterdam, bedeckt, diesig und außergewöhnlich kalt. Laut Radio würde das Wetter in den nächsten Tagen kaum besser werden, und glaubte man den Meteorologen, stand nicht nur Holland, sondern ganz Westeuropa ein strenger Winter bevor.
Avram Kuyper schloss den obersten Knopf seiner Jacke, stellte den Kragen gegen den böigen Nordwind auf und beschleunigte seinen Schritt. Er konnte sich an Zeiten erinnern, in denen die Grachten zugefroren und die Menschen auf dem Eis spazieren gegangen oder Schlittschuh gefahren waren.
Ein dünnes Lächeln legte sich auf seine Lippen und erhellte für einen Moment das von tiefen Falten zerfurchte Gesicht mit dem grauweißen Haar und dem stoppeligen Dreitagebart. All die Monate, in denen er untergetaucht war, hatte er nur wenig an Amsterdam gedacht. Er hatte nicht einmal das Gefühl gehabt, etwas zu vermissen. Aber ausgerechnet die Erinnerung an die vereisten Kanäle wärmte ihm aus irgendeinem Grund das Herz.
Sein Lächeln verflog, als er sich klarmachte, warum er die Stadt so lange gemieden hatte. Er stand auf der Fahndungsliste der Polizei. Seine Stadtwohnung hatte er seit dem Sommer nicht mehr betreten, weil sie observiert wurde. Insofern war Amsterdam für ihn nicht nur ein Stück Heimat, sondern gleichzeitig auch eine Schlangengrube.
Seit seiner Rückkehr fühlte er sich verfolgt. Mehr noch: Er hatte das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Es gab keine konkreten Anhaltspunkte dafür, nur eine vage Ahnung. Aber seine Ahnung hatte ihn bisher selten im Stich gelassen.
Vielleicht hätte ich diesen Auftrag nie annehmen sollen!
Als Profi ließ er sich von Emotionen natürlich nicht ins Bockshorn jagen. Er hatte einen Auftrag angenommen, und den würde er erledigen. Doch diesmal würde er besonders vorsichtig sein.
Er war an diesem Morgen mit dem Bus in die Van Woustraat gefahren. Das letzte Wegstück legte er zu Fuß zurück. Der Trenchcoat und der Aktenkoffer ließen ihn in der Menge verschwinden, denn auf der gegenüberliegenden Seite der Singelgracht befand sich der Hauptsitz der Niederländischen Bank. Hier wimmelte es um diese Uhrzeit nur so vor Geschäftsleuten, die aussahen wie er. Sein Outfit machte Avram gewissermaßen unsichtbar - bei dem, was er vorhatte, musste er das auch sein.
Er schob seine Hornbrille auf der Nase zurecht und ging weiter. Im Einklang mit der Menschenmenge überquerte Avram die Oosteindebrücke. Anstatt in den Bankenkomplex abzubiegen, ging er jedoch weiter bis zur Flevoroute, wo er sich in einer Seitenstraße vergewisserte, dass das Auto, das er gestern Abend dort geparkt hatte, noch da war. Nicht auszudenken, wenn jemand heute Nacht sein Fluchtfahrzeug gestohlen hätte.
Mit dem Wagen war alles in Ordnung.
Avram legte die letzten Meter bis zum Ufer der Amstel zurück. Straße und Fußweg waren an dieser Stelle zwar genauso schmal wie fast überall in der Stadt, aber da der Fluss breiter als jede Gracht war, wirkte es hier viel weiträumiger als anderswo. Zudem tummelten sich hier kaum Menschen, da es sich um keine Durchgangsstraße handelte.
Mit strammem Schritt ging Avram an den roten Ziegelsteinbauten mit ihren kleinen, weißen Erkern vorbei, ohne von ihnen Notiz zu nehmen. Auch für das wundervolle herbstliche Flusspanorama hatte er keine Augen. Er achtete vielmehr auf die Autos, die in langen Reihen links und rechts der Straße parkten - ob jemand darin saß, der sich später womöglich an ihn erinnern konnte. Oder ob die wenigen Fußgänger, die sich hierher verirrt hatten, ihn bemerkten. Aber ihm kamen nur ein verliebtes Pärchen und eine alte Frau mit einem Dackel entgegen. Das Pärchen war mit sich selbst beschäftigt, die alte Frau sprach mit ihrem Hund. Auf Avram achtete niemand.
Er wechselte die Straßenseite. Nun befand er sich direkt am Kai. Fünf Hausboote hatten hier ihren festen Liegeplatz, aber nur drei davon wurden aktuell bewohnt. Zwei standen leer, obwohl sie möbliert waren. Vermutlich befanden sich ihre Besitzer auf Reisen. Eines der beiden Boote, das mittlere, hatte Avram gestern Nacht aufgebrochen, um sich zu vergewissern, dass es für seine Zwecke geeignet war.
Er sah sich ein letztes Mal unauffällig um. Immer noch schien es niemanden zu geben, der sich für ihn interessierte, weder hier noch auf der Torontobrücke, die weiter rechts von ihm über die Amstel führte. Rasch schlüpfte Avram durch die Tür und schloss sie wieder von innen.
Geschafft!
Er atmete durch und versuchte, ein wenig Spannung abzubauen. In all den Jahren war es ihm nicht gelungen, seine Aufregung abzulegen. Er konnte sie zwar besser kontrollieren als früher, aber sie war immer noch da. Weil jeder Auftrag anders war und jedes Mal etwas schiefgehen konnte.
Avram sah sich um. Der Raum war dämmrig, weil die schweren Vorhänge zugezogen waren und kaum Licht von draußen durchließen - einer der Vorteile dieses Verstecks. Auf den ersten Blick sah alles so aus wie in der Nacht. Vor allem wirkte das Hausboot verlassen. Aber Avram musste Gewissheit haben - nicht dass der Besitzer inzwischen zurückgekehrt war und nebenan schlief.
»Hallo? Ist jemand da?«, fragte er.
Keine Antwort.
Sicherheitshalber kontrollierte er die Kajüte, das Bad und die Besenkammer. Aber die Luft war rein.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Viertel nach acht. Noch eine halbe Stunde, vorausgesetzt, dass Sergej Worodins Pläne sich nicht geändert hatten.
Eigentlich hatte er Worodin schon gestern töten wollen. Zwei Kugeln in den Kopf, aus sicherer Distanz, sobald er das Haus verließ. Nach seinen Informationen hätte das um 10.00 Uhr der Fall sein sollen. Doch der Russe hatte am Donnerstag keinen Fuß vor die Tür gesetzt, und sein Haus war die reinste Festung: Alarmsensoren an allen Fenstern, eine gepanzerte Tür mit Sicherheitsschloss, sieben Außenkameras, Bewegungsmelder - das ganze Programm. Die Wände und das Dach hatte er mit Kevlareinsätzen verstärken lassen. Avram hätte eine Panzerfaust benötigt, um da durchzukommen.
Worodins Wagen, ein schwarzer Maybach, war mit der Widerstandsklasse VR14 ausgestattet und hielt ebenfalls nahezu jedem gängigen Geschoss stand. Solche Autos leisteten sich normalerweise nur Staatsoberhäupter, reiche Scheichs oder kolumbianische Drogenbarone.
Und Sergej Worodin, der Pate von Sankt Petersburg, der in Amsterdam sein zweites Zuhause gefunden hatte. Von hier aus steuerte er sein kriminelles Imperium in ganz Europa. In gewissen Kreisen ging sogar das Gerücht, dass sein Netzwerk bereits bis in die USA reichte.
Natürlich hatte Worodin sich dabei viele Feinde gemacht, insofern waren seine Vorsichtsmaßnahmen durchaus gerechtfertigt. Aus Sicherheitsgründen wusste auch so gut wie niemand über seine täglichen Termine Bescheid, nicht einmal seine engsten Mitarbeiter. Womit er wohl nicht rechnete, war, dass seine eigene Frau ihn tot sehen wollte.
Jekaterina Ivanovna Worodin war eine stolze Mittvierzigerin, schlank, groß, elegant und weltgewandt - aber für ihren Mann anscheinend nicht mehr attraktiv genug. In den letzten Jahren hatte er sich immer öfter jüngere Freundinnen zugelegt und sich dabei nicht einmal mehr die Mühe gemacht, es vor seiner Frau zu verheimlichen. Anfangs hatte Jekaterina Worodin noch versucht, sich dagegen zu wehren, doch nachdem ihr klargeworden war, dass er sich seine außerehelichen Vergnügungen nicht nehmen lassen würde, hatte sie sich mit der Untreue ihres Mannes arrangiert. Sie hatte ihren Stolz hinuntergeschluckt und weggesehen, nicht weil sie noch besonders viel für ihn empfand, sondern vielmehr weil ihr die Ehe mit dem Oberhaupt des Tschornej Janwar, einer Splittergruppe der russischen Mafia, ein luxuriöses Leben bescherte.
Doch neuerdings wollte Sergej Worodin die Scheidung, und er hatte seiner Frau unmissverständlich klargemacht, dass sie von seinem Vermögen keinen Rubel erhalten würde. Nicht einmal ihre achtjährige Tochter Ava wollte er ihr lassen. So war es zum Streit gekommen, bei dem der cholerisch veranlagte russische Mafia-Boss auch vor körperlicher Gewalt nicht haltgemacht hatte. Beim Treffen mit Avram hatten Jekaterina Worodin zwei Schneidezähne gefehlt, ihr Gesicht war von Blutergüssen und einer hässlichen Platzwunde auf der Stirn verunstaltet gewesen.
Voller Verbitterung hatte sie Avram ihre Geschichte erzählt, auch dass sie in weiser Voraussicht im Lauf der letzten Jahre ein kleines Vermögen beiseitegeschafft hatte. Einen Teil davon wollte sie jetzt dazu verwenden, um ihren verhassten Ehemann beseitigen zu lassen.
Kurz vor dem Streit hatte sie mitbekommen, dass Sergej Worodin sich an diesem Morgen mit Khaled Bashkir treffen wollte, einem islamischen Extremisten, der in dem Ruf stand, beste Kontakte zu Al-Qaida und anderen terroristischen Organisationen des Nahen und Mittleren Ostens zu unterhalten. Worodin wollte über Bashkir eine größere Waffenlieferung aus Russland in den Irak und in den Jemen abwickeln, und es ging darum, noch einige Details abzustimmen. Das Treffen war auf 8.45 Uhr terminiert, in Khaled Bashkirs Hotel, dem Intercontinental Amstel Amsterdam. Jekaterina Ivanovna Worodin hatte Avram auch verraten, dass ihr Mann nicht mit dem Auto dorthin fahren würde, sondern mit seiner Yacht. Denn trotz aller Vorsicht war er eitel genug, seinen Wohlstand gerne zur Schau zu stellen.
Natürlich war auch seine Yacht eine mobile Festung. Doch Avram witterte seine Chance auf einen tödlichen Treffer in der kurzen Zeit, die Worodin benötigen würde, um von der Uferpromenade zum...
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