Mein Reich ist nicht groß, aber es reicht aus. Ich kann meine Arme und Beine in alle Richtungen ausstrecken, ohne an Grenzen zu stoßen. Ich kann mich auf den Bauch drehen oder auch mal auf den Rücken. Ohne Platzmangel. Das ist doch schon was.
Mein Reich ist saftig grün und es riecht nach Kindheit. Ich liege im Gras. Nein, es sprudelt nirgendwo kühles Quellwasser hervor, kein Bach plätschert zu meinen Füßen und auch keine Bienen summen herum. Vor mir liegt bloß eine Bushaltestelle, die letzte im Ort. Dann führt die Landstraße hinaus. Leicht ansteigend. Ich habe auch keine flauschige Decke ausgerollt, nur mein Rad etwas achtlos neben mich gelegt. Schnell musste es gehen. Kein Cowboy würde so mit seinem Pferd umspringen. Aber hey, bin ich ein Cowboy? Nein, ein Randonneur. So nennen sich die Fernfahrer auf dem Rad, die Radwanderer in der französischen Sprache. Und verdammt noch mal, jeder Randonneur kann auch einfach mal genug haben von seinem Drahtesel. Natürlich ist so ein Fahrrad das beste Stück eines jeden Teilnehmers, und die meisten Rouleure reden mit ihrem Fahrrad. Regelmäßig. Geben ihm Namen. Zärtliche, liebevolle, welche mit viel Fantasie, die nach Kraft und Abenteuerlust klingen, vielleicht auch martialische. Alles ist dabei. Meins heißt einfach "Noah". Das steht so auf dem Rahmen, weil . na ja, der Hersteller hat es so genannt. Und mir fiel da nichts Besseres mehr ein. Warum sollte man auch jemanden, der schon "Noah" heißt, noch umbenennen? Krampfhaft gegen diesen Namen ankämpfen? Also ein anderer Vorname geht da schon mal gar nicht. Klar, "White Beauty" wäre so eine Möglichkeit. Schließlich ist der Rahmen weiß. Oder "White Lady". Aber ist dieses Fahrrad überhaupt weiblich? Es heißt ja schließlich "Noah". "White guy?" Ach, du Scheiße. "Rakete" oder "Aero-Blitz" kämen auch nicht mehr infrage, da bin ich längst rausgewachsen. Und "Slow Rider" soll es bitteschön auch noch nicht sein, so weit bin ich noch nicht. "Rider in the Storm"? Viel zu lang. Und so blieb es irgendwie bei "Noah". Notgedrungen. Verordnet sozusagen. Ich würde nicht so weit gehen zu behaupten, dass dies unsere Beziehung belastet. Aber es schweißt sie auch nicht auf so innige Weise zusammen, wie ein selbstgegebener Name es durchaus könnte.
Auf jeden Fall bin ich momentan ziemlich kaputt und brauche eine erste richtige Pause. Um "Noah" geht es da nicht, es geht um mich. So lasse ich das Rad nicht gerade fallen, aber ich lege es sehr bestimmt einfach auf die Wiese, für viele ein Frevel am Gefährt(en). Für mich nicht. Wir sind eine Zweckgemeinschaft, das Rad und ich. Wir werden beide an unsere Grenzen kommen und wir sind beide gespannt, wer diese zuerst erreichen wird. Am ersten Grenzstein liege ich schon mal vorne. Diese Wiese ist für mich der erste Grenzstein, das habe ich so beschlossen. Während ich also versuche, meine Knochen aufzurichten, mich durchzustrecken, dreht sich das Hinterrad von Noah noch ein wenig weiter. Es rollt noch nach. Als wenn er noch weiterkönnte. Angeber!
Ich bin bei Kilometer 442, kurz hinter der Ortschaft Loudéac. Loudéac ist einer der Kontrollpunkte auf dieser Radfernfahrt, die von Paris nach Brest führt, nur um dann direkt in Brest wieder umzukehren nach Paris. Wer das schafft, hat am Ende etwas mehr als 1.200 Kilometer auf dem Tacho.
Jeder Teilnehmer hat dafür maximal 90 Stunden Zeit. Gestartet wird alle 15 Minuten in Gruppen von etwa 300 Radfahrern, sonntagnachmittags in Rambouillet. So heißt der Startort außerhalb von Paris. Es gibt allerdings auch einige Teilnehmer, die felsenfest davon überzeugt sind, diese Tour schneller fahren zu können. Wer das von sich glaubt, braucht erst Montagfrüh zum Start zu kommen, muss die Fahrt dann allerdings in 84 Stunden schaffen. Dass heißt, jeder der diese Variante wählt, darf eine Nacht mehr schlafen, bevor es losgeht, hat dafür am Ende aber sechs Stunden weniger Zeit zum Radfahren. Und dann gibt es noch eine Option für alle, die besonders ambitioniert sind: Wer glaubt, diesen Radmarathon in 80 Stunden zu schaffen, darf schon Sonntagsmittags ran. Das verspricht natürlich relativ freie Straßen, weil diese Starter vorneweg fahren dürfen. Allerdings sitzt ihnen dann nicht nur ständig der große Pulk all derer im Nacken, die später starten, sondern auch die Zeit. Natürlich läuft ihre Uhr nicht schneller, aber viel schneller ab. 80 Stunden - da darf unterwegs nicht viel schiefgehen.
Das ist so eine Rechenaufgabe, die alle im Vorfeld für sich beantworten müssen. Für mich klangen 90 Stunden irgendwie logischer als 84 oder gar 80 Stunden. Etwas mehr auf der Habenseite, es könnte ja hinten raus eventuell noch elementar wichtig werden. Denn wer nur ein bisschen Kopfrechnen kann, dem wird sofort klar, dass selbst 90 Stunden für 1.200 Kilometer auf dem Fahrrad nicht so wahnsinnig viel Zeit sind. Sagen wir mal so: für Rumtrödeln, Albereien oder ausgedehnte touristische Spaziergänge am Rande der Strecke bleibt da kaum Raum. Es geht ums Fahren. Es geht um das Treten, um das Vorankommen. Es ist ein "immer weiter". Aber mit ein bisschen Verstand weiß auch jeder, dass es ohne Pausen nicht geht und eigentlich auch nicht ohne Schlaf. Das wollen manche Teilnehmer nicht wahrhaben und pedalieren erst einmal so lange wie möglich. Sie reizen es aus, bis zum bitteren Ende. Dieses Radfahren, ohne zu Schlafen. In den wenigsten Fällen geht das gut. Der Schlaf gewinnt. Normalerweise. Denn die Müdigkeit ist ein ganz harter Hund, vor allen Dingen an Tag 2 oder 3. Und erst die Nächte! Doch so weit bin ich noch nicht. Ich bin ja erst an Tag 1.
Und ich bin schon jetzt froh, dass ich zu zweit bin. Sozusagen. Denn an meiner Seite fährt Stefan, ein treuer Gefährte. Schulter an Schulter oder Vorderrad an Hinterrad. Auf dieser Fahrt oder im Training. So geht das im Prinzip seit Monaten, funktioniert gut und macht vieles - zumindest etwas - leichter. Vor allen Dingen in den Nächten. Allein durch einen finsteren Wald? Allein auf einer dunklen Landstraße? Allein einen Platten flicken, wenn es regnet? Allein frieren, wenn vielleicht noch ein paar Hundert Kilometer vor einem liegen? All das klingt für mich nicht gerade vergnügungssteuerpflichtig. Natürlich sind Stefan und ich auch schon mal ein paar Nächte zusammen gefahren. Um ganz genau zu sein: eine einzige. Also Singular. Wir sind eine Nacht zusammen durchgefahren. Und eine halbe. Vielleicht. Zur Vorbereitung auf Paris-Brest-Paris. So toll ist das nämlich gar nicht, eine Nacht auf dem Rennrad durchzumachen. Dafür sind wir aber viele Tage gefahren. Wenn ich das mal so überschlage, sind wir wahrscheinlich mehr als 5.000 Kilometer gemeinsam geradelt. Das sind mehr als nur ein paar Stunden. Und da wir ja auch viel rumgekommen sind, seitdem irgendwas in unseren Köpfen ständig nach Paris-Brest-Paris rief, kommen da noch einmal viele Stunden obendrauf. Zum Beispiel im Auto, wenn wir zu den einzelnen Veranstaltungen angereist sind. In Belgien sagt uns inzwischen jeder Name auf einem Autobahnschild etwas. Da sind wir durchgefahren, da haben wir umgedreht, ab dort hatten wir Rückenwind. Mann, da hat es geregnet! Und dort war die Hölle ganz nah. Wir standen gemeinsam vor dem Geburtshaus von Eddy Merckx, sind die Mauer von Geraardsbergen hochgefahren - was für Erlebnisse. Außerdem noch die ganzen Zwischenübernachtungen vor den oft wahnwitzig frühen Startzeiten oder die Übernachtungen nach der Zielankunft. Die Sitze im Auto, die Betten im Budget Hotel, Übernachtungen im Altersheim, übernächtigte Heimfahrten - haben wir alles ausprobiert. Waschen am Straßenrand oder auch mal ganz ohne Waschen am Straßenrand, da kommt man sich schon näher. Lassen Sie jetzt mal kurz Ihre Lebenspartner außen vor und überlegen sich, mit wem Sie so viel Zeit verbringen wollten. Oder könnten. Mit allem, was dazugehört. Das sind nicht nur die tollen Ausblicke, die Glücksmomente, die Reistörtchen in einer belgischen Bäckerei oder die Sonnenaufgänge - nein, auch das Fluchen, wenn wir uns mitten in der Nacht verfahren haben, wenn das Ziel einfach nicht näherkommt. Wenn mindestens einer von uns sich fragt: Was mache ich da eigentlich? Oder wenn der andere so zittert, dass ihm fast der Lenker aus der Hand gleitet, weil gerade der dritte Hagelschauer bei zwei Grad über Null niedergegangen ist. Oder wenn der dritte Platten auf einer Tour die gemeinsame Freude am Erlebnis doch ein wenig ins Wanken bringt. Wenn der eine Hunger hat und der andere Rücken. Wenn der eine nicht mehr weitermachen will, der andere ihm aber sagen muss, dass da jetzt weder Bus noch Bahn fahren, sondern dass das Rad die einzige Möglichkeit ist, aus dieser misslichen Lage wieder rauszukommen. Ja, es wurde geschrien und geschimpft. Geweint und gelacht, Letzteres vor allen Dingen über uns selbst. Wie bekloppt wir doch sind. Einmal, in den Niederlanden, hatten wir uns in den Kopf gesetzt, diese lächerlichen elf Kilometer zum Start ganz locker auch noch mit dem Fahrrad zu fahren. Um dann weitere 235 Kilometer bei der Elfstedentocht zu fahren, jener...