1 Der rasende Strom
Tamuras Stimme war erloschen. Im Wirbel des schwarzen Stromes waren der Vulkan und die Jaguarinsel versunken. Nur ein wogender Berg von Rauch und Nebelwolken verriet die Stelle, wo sich die Katastrophe abgespielt hatte.
Tamura, der große, zornvolle, feuerspeiende Tamura, war vom Fluss verschlungen worden. Die wilden, brodelnden Wassermassen hatten das Leben auf der Insel in den Sog der Vernichtung gezogen. In einer einzigen Nacht war die Schlacht zwischen den Feuergeistern Tamuras und den Dämonen des feuchten Elementes ausgetragen worden. In einer einzigen Nacht hatte Tamura seine Macht in diesem Teil des Amazonasdschungels verloren. Er war hinabgerissen worden in die Tiefe des schwarzen Flusses. Noch schien Tamura in der Umschlingung des Wassers zu kämpfen. Die Erde bebte, als wollte sich das mächtige Haupt des Vulkans aus der tödlichen Umklammerung der gurgelnden Wasser befreien und von neuem über die kochende Oberfläche des Flusses steigen.
Doch der Kampf war bereits entschieden. Bomba wusste es. Er stand in der Nähe des Ufers und sein Blick glitt sinnend über das brodelnde Wasser. Noch schimmerte die Erregung der miterlebten Katastrophe in den braunen Augen des Dschungeljungen. Es war unfassbar für den Menschenverstand, dass ein Stück der Erde - mit Wäldern, Hügeln, Menschen und Tieren - unvermittelt der Vernichtung preisgegeben sein sollte.
Wenn auch Bombas Geist den Untergang der Jaguarinsel nicht wahrhaben wollte, sein Blick erhielt immer neue Bestätigungen dafür. Körper von Menschen und Tieren trieben wie Treibholz im Wasser dahin. Mehr als einmal wollte Bomba in einem Impuls der Hilfsbereitschaft herbeispringen und einen der braunen Menschenleiber dem feuchten Element entreißen. Doch dann sah er, dass der Tod bereits seine Arbeit vollendet hatte. Es waren nur noch entwurzelte, seelenlose Körper, die unter ihm in dem schaumigen Wasser weiterglitten - entwurzelt und tot wie die Baumriesen, die aus der Oberfläche des schwarzen Flusses dahingewirbelt wurden.
Die Erde bebte immer noch. Ein plötzlicher Stoß schleuderte den Dschungelboy zu Boden, und er krallte unwillkürlich die Finger um die Wurzeln eines Baumes. Ein tiefes, ächzendes Aufstöhnen hallte durch den Dschungel im Rücken des Jungen. Bäume sanken mit berstendem Geräusch nieder, und es grollte donnergleich.
Wie aus einem riesigen Geysir schossen Dampffontänen dort aus dem Fluss empor, wo die Jaguarinsel gewesen war. Auch dem Kraterrand des versunkenen Vulkans entquollen immer noch glühende Lavamassen. Sie erzeugten sprühenden, heißen Wasserdampf und ließen den Fluss aufkochen wie einen gigantischen, übersprudelnden Kochtopf.
Mit Schaudern dachte Bomba daran, dass er selbst von den abergläubischen Bewohnern der Jaguarinsel dem Vulkan hätte zum Opfer gebracht werden sollen. Als die Stimme Tamuras am vorigen Tage und am Abend ertönt war, hatten die Eingeborenen auf der Jaguarinsel das Naturgeschehnis mit dem Erscheinen Bombas in Zusammenhang gebracht. Sie hatten geglaubt, der Gott des Vulkans wollte seine Unzufriedenheit mit der Ankunft des Fremden auf diese Weise zum Ausdruck bringen.
Während Bomba noch wie gebannt auf die Dampfwolken über dem Fluss starrte, spürte er, wie sich der Boden unter ihm gleitend bewegte. Der schwarze Fluss warf seine Wassermassen gegen das Ufer. Die Erde zitterte unter dem Ansturm des gierigen Elementes. Zentimeter um Zentimeter wurde der Boden unter Bombas Körper in den Fluss gezogen.
Mit aller Kraft schnellte sich der Dschungelboy rückwärts. Er sah ein Bündel Schlingpflanzen von einem Baum herabhängen und klammerte sich instinktiv daran. Keinen Augenblick zu früh! Erdreich und Pflanzenwuchs unter ihm versanken mit einem gurgelnden Laut im Wasser. Der schwarze Fluss leckte gierig um den Stamm des Baumes, der Bomba gerettet hatte.
Gewandt und schnell klomm der Dschungelboy an den Lianenseilen empor. Er ergriff einen Ast, balancierte auf ihm entlang und schnellte sich federnd in die Luft hinaus. Seine Hände bekamen ein anderes Lianenseil zu fassen. Weit pendelte das grüne Tau hin und her. Bomba ließ sich los und fiel wie eine Raubkatze mit Händen und Füßen zugleich auf festen Boden nieder.
Im Wald jedoch war der Aufenthalt noch gefahrvoller als in der Nähe des Ufers. Dicht vor Bombas Füßen stürzte ein Baum zu Boden. Ein unheilverkündendes Rauschen ging durch die Wipfel. Der Junge rannte weiter und wurde mehr als einmal unsanft zu Boden geschleudert. Er änderte jetzt seine Laufrichtung und wandte sich wieder dem Strom zu.
Besser war es, in Ufernähe das Ende des Erdbebens abzuwarten - besser, als im Dschungel von fallenden Bäumen erschlagen zu werden, dachte Bomba. Keuchend und erschöpft hielt er inne. Wieder hatte er das gleiche Bild vor Augen: brodelndes, dunkles Wasser - Bäume und Sträucher, die auf der Flut dahintrieben - und Tiere, deren Köpfe immer von neuem von den Wogen überspült wurden.
Hilflos trieben die Jaguare und Pumas im Strom dahin. Verzweifelt versuchten sie, das Ufer zu erklimmen. Sie krallten sich fest und wurden in das Wasser zurückgerissen. Der Anblick der stummen, leidenschaftlichen Kämpfe um das Leben erfüllte Bomba mit einem Gefühl der Dankbarkeit.
Viele Lebewesen waren in der vergangenen Nacht zum Untergang verurteilt worden. Nur ihn hatte das Schicksal verschont. Das war wie ein Fingerzeig für Bomba. Er hatte noch eine Aufgabe - eine große und schwere Arbeit lag vor ihm. Was ihm auf der Jaguarinsel nicht geglückt war, wollte er jetzt von neuem versuchen.
Ich werde Japazy finden, dachte Bomba. Von ihm werde ich das Geheimnis meiner Herkunft erfahren. Er war nicht auf der Insel, also muss er noch leben, setzte Bomba sein stummes Selbstgespräch fort. Ihn hat das Schicksal ebenso verschont wie mich. Wo immer er sein mag: ich werde ihn finden.
An einem Baum gelehnt stand Bomba da, und zum ersten Male nach der Katastrophe fand er Zeit, an seinen alten Gefährten Cody Casson zu denken. Als der Dschungelboy aufgebrochen war, um Japazy auf der Jaguarinsel aufzusuchen, hatte er noch keine Gewissheit über Cassons Schicksal gehabt. Sein alter Beschützer und Gefährte hatte sich nach der Flucht vor den Kopfjägern im Urwald verirrt, und trotz tagelanger Suche war es Bomba nicht gelungen, eine Spur des Greises zu finden.
Nun bestand nur noch die Hoffnung, dass der alte Naturforscher von den befreundeten Araos gefunden worden war. Vielleicht treffe ich Cody Casson gesund und wohlbehalten wieder, wenn ich in das Dorf der Araos komme, dachte Bomba. Doch der Junge wusste, dass dieser Gedanke nicht viel mehr als eine schwache Illusion war.
Ein Geräusch lenkte Bombas Aufmerksamkeit ab. Es war ein leiser Schrei gewesen - ein Hilferuf aus Menschenmund. Wieder drang der Ruf an das Ohr des Dschungeljungen.
"Hilf mir!"
Die Stimme kam vom Fluss her.
"Hilf mir! Ich ertrinke!"
Hastig huschte Bombas Blick über das tosende Wasser. Er sah einen Baumstamm, der schnell auf ihn zugetrieben wurde. Braune Finger waren zu sehen, die sich am glitschigen Stamm festzuhalten versuchten. Ein Kopf tauchte aus dem Wasser empor. Das angstverzerrte Gesicht eines Eingeborenen erschien augenblickslang vor Bombas Augen - dann überschüttete eine neue Woge den Ertrinkenden.
Als der Baumstamm wieder auftauchte, griffen die Finger des Eingeborenen mehrere Male vergeblich zu, ehe sie Halt fanden. Wie lange würde der Mann diesen Kampf noch aushalten?
Bomba überlegte nicht lange, sondern ließ einen hellen Ruf erschallen. Er sprang zum Ufer hinab, glitt aus und wäre beinahe selbst in den Fluss gestürzt. Seine Finger bekamen ein Lianenseil zu fassen. Er legte sich flach auf den Bauch und glitt noch näher an das Ufer heran. Seine Beine ragten auf das Wasser hinaus.
"Halte dich an meinen Füßen fest!", schrie Bomba.
Das war die einzige Möglichkeit, wie er dem Ertrinkenden Hilfe bringen konnte. Der Mann begriff das Vorhaben sofort und stieß sich mit einer verzweifelten Anstrengung vom Baumstamm ab. Seine Hände griffen einmal ins Leere, dann bekam er mit der Linken Bombas Fuß zu fassen. Er klammerte sich in Todesangst fest. Bomba fühlte, wie sich die Fingernägel in seine Haut bohrten, aber er achtete nicht darauf. Vorsichtig zog er sich Zentimeter um Zentimeter die Böschung hinauf.
Würde das Lianenseil die doppelte Belastung aushalten? Wenn dieser natürliche Strick riss, waren sie beide verloren. Hinter sich hörte Bomba das Stöhnen des Eingeborenen. Alles wurde jedoch übertönt vom Brausen und Gurgeln des Wassers.
Näher und näher glitt Bomba an den Stamm eines jungen Baumes heran. Jetzt war es soweit: seine Finger schlossen sich um die Rinde - ein schneller Ruck - und beide waren gerettet!
So, wie er ihn vom Tode des Ertrinkens bewahrt hatte, blieb der Eingeborene vor Bomba liegen. Er war so erschöpft, dass er minutenlang keine Bewegung machte. Nur der Atem kam rasselnd aus der Brust. Bomba hatte Gelegenheit, den Geretteten ungestört zu betrachten. Es war ein langer, dürrer Mensch mit einem scharfgeschnittenen Profil. Ein Ausdruck von wacher Intelligenz unterschied seine Züge von üblichen Gesichtern.
Der Mann schien die prüfende Betrachtung seines Retters jetzt zu spüren. Er blickte auf. Noch beunruhigten Angst und Entsetzen den Schimmer seiner dunklen Augen. Doch das Licht der Dankbarkeit glomm aus den Tiefen des Blickes empor. Sein Mund öffnete sich und in der gutturalen Sprechweise der Eingeborenen sagte er:
"Dir gehört mein Leben, Herr! Du hast Gibo gerettet! Du hast ihm das Leben geschenkt. Gibo ist dein Sklave!"
Dankbarkeit ist eine seltene Tugend - in der Zivilisation nicht weniger als im Dschungel. Ein warmes Gefühl der...