2 In Todesnot
Über Bomba war nur der dünne Baumwipfel und der Tropenhimmel. Der nächste Ast war etwa neun Yards entfernt. Bis dort hinüber hätte auch der kräftigste Affe nicht springen können - und so war kein Fluchtweg offen!
Das Zischen der Schlange klang jetzt noch näher. Das dichte Laubwerk verbarg den Körper, aber das Rascheln der Blätter verriet die Stelle, von wo die Schlange emporgekrochen kam.
Bombas Hand tastete unwillkürlich dorthin, wo der Revolver im Gürtel stak. Das wäre das sicherste Verteidigungsmittel gewesen. Im gleichen Augenblick erinnerte sich Bomba jedoch an die Kopfjäger auf der Lichtung. Der Schall des Schusses würde sie sofort herbeilocken. Aus der Gefangenschaft der Schlange würde er in die Gefangenschaft der blutdürstigen Wilden kommen. Da zog er den offenen Kampf mit dem Reptil vor. Also war er nur auf die Schnelligkeit seiner Hand, auf sein Selbstvertrauen und auf die Schärfe seiner doppelschneidigen Machete angewiesen.
Jetzt entdeckte Bomba zum ersten Male die Bewegungen des Schlangenkörpers. Die Blätter des Astes unter ihm hoben und senkten sich in wellenförmiger Bewegung. Dort bahnte sich der Schlangenleib seinen Weg zu ihm hin.
Das Laubwerk teilte sich, und der dreieckige Kopf mit seinem Schuppenmuster hob sich empor. Mit einem bösartigen, hypnotisierenden Glitzern richtete sich der Schlangenblick auf sein Menschenopfer. Es war so, als wollten die schmalen Augen jede Bewegung ihrer Beute lähmen - als wollten sie den Mut und die Lebenskraft zum Erlöschen bringen, um dann um so leichter den Todesbiss anzubringen.
Bomba war erregt und erschreckt, aber er gab den Kampf nicht verloren, noch bevor er begonnen war. Er zog seine Machete und erwartete den ersten Angriff. Da er nichts anderes als das Leben im Dschungel kannte, war er daran gewöhnt, seinen Körper gegen alle möglichen Gefahren zu verteidigen. Schon andere Kämpfe gegen Giftschlangen hatte er bestehen müssen. Vielleicht war ihm auch diesmal das Glück hold.
Die Schlange war jetzt in gleicher Höhe mit ihm. Zwischen zwei eng beieinander wachsenden Dornenästen glitt sie sehr langsam auf ihn zu. Auch sie wusste, dass ein Kampf bevorstand. Ihre Bewegungen waren vorsichtig und bedächtig. Nur die blitzschnell hin- und hergleitende, gespaltene Zunge verriet die Erregung des Reptils.
Die Chancen waren gegen Bomba. Er musste sich weiter und weiter auf dem Ast zurückziehen. Nur noch zwei Yards maß die Entfernung zwischen ihm und dem Giftrachen. Die Schlange hielt inne und rollte ihren Leib zwischen den beiden Ästen ringförmig zusammen. Aus dieser Stellung würde sie den Kopf zum tödlichen Angriff vorschnellen lassen, und dieser Angriff würde so schnell kommen, dass es dagegen kaum eine Abwehr gäbe.
Bomba war es gewöhnt, alle Hilfsmöglichkeiten der Umgebung mit auszunutzen. Diese gefahrerprobte Denk- und Kombinationsfähigkeit hatte ihm mitunter in Kämpfen das Leben gerettet, wo es sonst aussichtslos erschienen wäre, gegen die tierische Kraft und Überlegenheit zu siegen. Jetzt entdeckte er die seltsame Lage des Schlangenkörpers auf den beiden Ästen - und er fasste sofort einen Entschluss.
Noch weiter glitt der Junge auf dem Ast zurück. Jetzt bog er das Ende jenes Astes, auf dem der Schlangenleib ruhte, soweit wie möglich nach unten. Dann ließ er ihn plötzlich hochschnellen. Der zähe und elastische Zweig federte empor und prallte an den höher gelegenen Ast. Die Schlange wurde so zwischen den beiden Ästen eingeklemmt, und die spitzen Dornen drangen in ihren Leib.
Die natürliche Falle hielt. Mit peitschenden Bewegungen versuchte sich die Schlange aus den Dornenzähnen des Baumes zu befreien. Ein schreckenerregendes Zischen der Wut kam aus dem Rachen des Untiers, und es drehte und wand seinen Schuppenleib. Da die beiden Äste so dicht übereinander aus dem Stamm wuchsen, bohrten sich die einmal in den Schlangenkörper gedrungenen Dornen nur noch tiefer hinein.
Jetzt schien sich die Jaracara, die gefährliche Giftschlange, an ihren Feind zu erinnern, der sie in diese Lage gebracht hatte. Sie wandte den Kopf herum und stieß ihn blitzschnell in Richtung des Jungen vor. In ohnmächtiger Wut wiederholte sie ihre Angriffe. So sehr sie sich auch reckte: die Stöße waren um einen halben Meter zu kurz. Das Gift aus den Fangzähnen spritzte gegen das Pumafell auf der Brust des Jungen, aber der Kopf sank immer wieder zurück.
Allmählich erschöpfte sich die Kraft der Jaracara. Noch einmal richtete sich der schwarze Hals mit dem hässlichen Kopf empor und stieß vorwärts. Dann fiel der Kopf ermattet zur Seite - und auf diese Chance hatte Bomba gewartet. Als die Aufmerksamkeit der Schlange sekundenlang erlahmte, schnellte der Arm des Jungen vor und trennte mit einem Hieb der Machete den Kopf vom Rumpf des Reptils.
Schon als das Schlangenhaupt längst zwischen den Zweigen hindurch zu Boden gefallen war, wand sich der Leib noch in der Dornenfalle der Äste. Bomba wischte seine Machete an den Blättern ab und glitt dann an dem toten Schlangenkörper vorüber in die Tiefe.
Eile war nötig. Die Schlangen pflegten meist paarweise zu jagen. Die Gefährtin der Jaracara konnte in unmittelbarer Nähe sein, und Bomba hatte kein Verlangen nach einer zweiten Schlangenbegegnung an diesem Tage.
Während er schnell und gewandt hinabglitt, huschte der aufmerksame Blick des Jungen über jeden Zweig. Aber er sah nichts. Dann dachte Bomba wieder an die Menschen auf der Lichtung. In der Aufregung des Kampfes hatte er sie vergessen. Er stieg noch einmal höher hinauf und hielt Ausschau. Die Weißen waren noch an Bäume gefesselt, aber das Mahl der Wilden schien beendet zu sein. Sie standen beieinander und beratschlagten. Bald würden sie wahrscheinlich aufbrechen.
Bomba hatte den Abstieg schon wieder begonnen, als sein Blick eine zweite Rauchsäule wahrnahm. Diese Lichtung war nicht weit von der anderen entfernt. Aber ein eisiger Schreck durchfuhr den Jungen, als ihm klar wurde, wie nahe die Rauchsäule bei seiner eigenen Hütte in die Höhe stieg.
Casson! Sein alter Lehrer und früherer Beschützer war in Gefahr! Seit Jahren war der Alte nur noch ein Schatten seiner selbst. Krank, an Gedächtnisstörungen leidend und lebensmüde - war der alte Mann für den Jungen keine Hilfe mehr, sondern nur noch eine Last. Aber Bomba liebte Cody Casson.
Jetzt hatte kein anderer Gedanke mehr Platz im Gehirn des Jungen, als der, seinem alten Gefährten zu Hilfe zu eilen. Bomba war sicher, dass die zweite Rauchsäule ebenfalls von einem Lagerfeuer der Kopfjäger stammte. Und wenn es den Wilden gelingen sollte, vor ihm bei der Hütte zu sein, dann war der alte Forscher verloren.
Als Bomba den Boden erreicht hatte, nahm er seinen Bogen und die Pfeile auf und eilte davon. Nur im Vorübergehen warf er noch einen Blick voller Abscheu auf das Schlangenhaupt. Der Rachen war geöffnet, die spitzen Zähne schimmerten drohend, und die Augen schienen ihn noch im Tode mit einem hasserfüllten, glasigen Blick anzustarren.
Im Laufen dachte Bomba an die Gefangenen auf der Lichtung. Sein Herz fühlte sich zerrissen von zwei Pflichten. Auch sie hatten seine Hilfe nötig: die drei Männer und die blonde Frau, die in der Gewalt der Kopfjäger waren. Ohne ihn waren sie zweifellos verloren. Aber er konnte ihnen im Augenblick keine Hilfe bringen. Noch näher stand Cody Casson seinem Herzen. Der Junge schwor sich, den Gefangenen zu Hilfe zu eilen, sobald Casson außer Gefahr war. Er sagte sich das im Laufen immer wieder, um den Schmerz zu betäuben, der sein Inneres durchdrang. Weiße in der Gefangenschaft der Kopfjäger! Und dazu noch eine Frau! Er musste auch ihnen helfen!
Als Bomba durch den Dschungel eilte, flatterten Kiki und Woowoo, seine beiden Papageienfreunde, heran. Auch Doto, der Affe, hangelte sich durch das Gezweig und eilte an seine Seite. Aber der Junge hatte keine Zeit, sich um seine Freunde zu kümmern. Er gab ihnen das durch Gesten und Worte zu verstehen, und sie blieben betrübt zurück.
"Ein andermal!", rief der Junge ihnen zu. Er winkte und eilte weiter. Wahrscheinlich würden sie ihn nun heimlich begleiten, wie sie das oft zu tun pflegten. Aber er hatte keine Zeit, darauf zu achten.
Bomba schlug ein noch rascheres Tempo an. Bald stieg Rauchgeruch in seine Nase, und er wurde vorsichtiger. Sein Schritt war unhörbar. Wenn man seine Bewegungen sah, mochte man an eine Raubkatze denken, die ihr Opfer beschleicht. Die Muskeln spielten unter der gebräunten Haut. Jeder Schritt, jede Geste zeugte von der natürlichen Anmut und Kraft eines Wesens, das seinen Körper vollendet beherrscht.
Stimmengewirr drang an Bombas Ohr. Der Junge ließ sich zu Boden fallen und glitt mit schlangenartiger Geschmeidigkeit durch das Unterholz. Bald war er nahe genug, um die Stimmen aus nächster Nähe zu hören. Vorsichtig teilte er den Blättervorhang und spähte hindurch.
Mehr als zwanzig Eingeborene waren auf der Lichtung zu sehen. An einer schwarzgebrannten Stelle im Gras lagen Fleischreste und Knochen. Das Mahl war beendet, und die Kopfjäger rüsteten zum Aufbruch. Sie nahmen ihre Speere und ihre Bogen und schnatterten in der Eingeborenensprache aufgeregt miteinander. Ihre Gesichter verhießen nichts Gutes.
Aber wo war Nascanora, ihr Häuptling? Bomba ließ den Blick von einem Gesicht zum anderen gleiten, ohne das narbige Gesicht des riesigen Indianers entdecken zu können. Dieser Häuptling der Kopfjäger, den Bomba seinerzeit beim Kampf verwundet hatte, war sicherlich der erbittertste Feind, den der Junge kannte. Wo dieser baumlange Wilde war, musste auch für Bomba Gefahr sein.
Hier jedoch erwiesen die Kopfjäger einem anderen Manne ihre Ehrerbietung. Auch dieser Häuptling war groß und kräftig...