3 Um Sekundenbruchteile
Flüchtig erkannte Bomba die Umrisse von etwa einem halben Dutzend brauner Gestalten. Er ließ sich noch tiefer in den Schatten zurücksinken und wartete. Sie waren in großer Überzahl, das hatte er jetzt festgestellt. Nur ein Teil der Suchenden war in unmittelbarer Nähe. Wenn es zum Kampf kam, konnte er sich vielleicht zutrauen, zwei oder drei der Wilden zu überwältigen. Die übrigen würden sich auf ihn stürzen und ihn fesseln. Sein Ende würde Qual und Tod sein.
Doch Bombas tapferes Herz kannte kein Aufgeben vor dem Kampf. Sollten ihn die Kopfjäger angreifen! Sollten sie versuchen, gegen seine kleine Festung vorzugehen. Vorerst hatte er den Vorteil der günstigen Lage für sich.
Bomba hörte, wie die Wilden sich vorwärtsarbeiteten. Sie waren noch einige Yards von seinem Versteck entfernt. Ihre Stimmen klangen verdrossen. Das lange Suchen hatte sie ermüdet. Sie erkannten nicht die geringe Bodenunebenheit, die den Anfang der Grube verriet. Für ihre Augen lag der Stamm flach auf der Erde, und sie machten sich nicht die Mühe, sich niederzukauern, um den schmalen Eingangsspalt zu entdecken.
"Er ist verschwunden wie ein Geist!", hörte Bomba die wütende Stimme eines der Wilden sagen.
"Kein Wunder!", rief ein anderer. "Es war dieser Teufelsjunge, der mit dem weißen, alten Zauberer in der Hütte zusammengelebt hat. Meine Augen sind gut. Ich habe ihn deutlich gesehen! Er ist mit bösen Geistern im Bunde. Vielleicht haben sie ihn schon längst durch die Lüfte fortgeführt, und wir suchen hier noch am Boden herum."
"Er ist nicht hier", grollte ein dritter. "Das ist sicher! Gehen wir!"
Bomba lauschte mit angehaltenem Atem. Freude wollte sich in sein Herz schleichen, aber im nächsten Augenblick wurde er enttäuscht. Eine gebieterische Stimme rief:
"Geht weiter hinein! Sucht genau!"
Murrend gehorchten die Krieger. Ihre Schritte näherten sich noch weiter dem Versteck. Ihr keuchender Atem verriet, wenn sie ein Hindernis von Zweigen zur Seite schoben und sich hindurchzwängten. Bombas Hand spannte sich um den Revolverkolben.
Mit einem Male erscholl dicht bei seinem Versteck ein entsetztes Geschrei. Einer der Kopfjäger stieß einen schrillen Warnruf aus, und die Zweige krachten und knackten bei der eiligen Flucht.
"Schlangen!", wiederholte sich der Entsetzensruf wie ein Echo. "Schlangen! Schlangen!"
In kopfloser Flucht verließen die Wilden das Gebiet des umgestürzten Baumes. Sie eilten über die Lichtung davon, und das Geräusch ihrer Füße wurde leiser.
Bomba lächelte matt. Er wusste mit einem Male, wovor die Kopfjäger geflüchtet waren: vor dem Leib der toten Jaracara. Zuvor hatte er den Körper über den Rand der Grube geworfen, und nun musste wohl einer der Suchenden auf den Schlangenleib getreten sein. In der Angst hatte er nicht näher hingeschaut, und seine Panik hatte alle mitgerissen.
So war also die Giftschlange, die ihn mit dem Tode bedroht hatte, zu seiner Retterin geworden! Noch glaubte der Junge nicht an sein Glück. Er lag ganz still in der Grube und lauschte. Doch die Schritte näherten sich nicht wieder.
Lange verharrte Bomba noch in seinem Versteck. Sehr vorsichtig kroch er dann hervor und lugte durch das Gezweig. In nachmittäglicher Ruhe und Verlassenheit träumte der Dschungel. Wie fröhliche, bunte Farbtupfen gaukelten Schmetterlinge durch die zitternde Luft, und die nähere Umgebung bot ein Bild der Schönheit und des Friedens.
Da glühten farbenprächtige Orchideenblüten im Dickicht. Aus dem Grase ragten seltsame, schimmernde Lilienarten hoch empor, und die schlanken, spitzen Palmblätter neigten sich in sanften Bogenlinien dem Boden zu.
Als Bomba sich aufrichtete, sah er seinen Freund Doto von einem Baum herabhangeln. Von einem Wipfel aus hatte der Affe das Geschehen verfolgt. Jetzt konnte er sich nicht genug damit tun, seine Freude auszudrücken. Er rieb sich an Bomba, betastete ihn immer wieder mit seinen Händen und schnatterte fröhlich und zärtlich zu dem Jungen hinauf.
"Sind sie fort, Doto?", fragte Bomba mit einer deutenden Geste. "Die bösen Männer - fort? Ja, Doto?"
Der Affe verstand ihn sofort. Mit beiden Armen machte er rudernde Bewegungen in der Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren.
Bomba nickte zufrieden. Die Wilden waren jetzt hinter ihm. Jeder Schritt entfernte ihn mehr und mehr aus ihrer gefahrbringenden Nähe.
"Doto ist mein guter Freund", sagte Bomba und streichelte den Kopf des Affen. "Wenn Doto mich nicht niedergerissen hätte, wäre ich jetzt tot. Der Pfeil des Kopfjägers hätte mich in den Rücken getroffen."
Doto schlang beide Arme um den Jungen, als verstände er jedes Wort und als wollte er zum Ausdruck bringen, dass er jederzeit von neuem für Bomba sein Leben einsetzen würde. Mit einem sehr menschlichen, rührenden Ausdruck von Zuneigung schaute er zu Bomba auf, und seine Lippen murmelten Laute, die wie sanfte, zutrauliche Kosenamen klangen.
"Ich weiß es -", flüsterte Bomba liebevoll. "Ich weiß, dass Doto mein bester Freund ist. Aber jetzt muss ich zu Casson. Ich darf mich nicht aufhalten. Der Nachmittag ist schon da. Verstehst du, Doto: ich muss gehen. Du wirst im Baumwipfel wachen, und wenn sich eine Gefahr nähert, dann warnst du mich!"
Als der Junge sich jetzt entfernen wollte, war Doto durchaus nicht einverstanden. Es bedurfte großer Überredungskunst, um ihn davon zu überzeugen, dass er nicht mitkommen konnte. Immer wieder deutete Bomba in die Zweige hinauf und wies dann in die Richtung, in der die Kopfjäger verschwunden waren.
Doto hatte ihn verstanden. Er nickte ernsthaft und klatschte in die Hände. Jetzt hatte er wenigstens eine Aufgabe; er musste darüber wachen, dass die Kopfjäger seinen Freund Bomba nicht überlisteten. Noch einmal umarmte er den Jungen. Dann schwang er sich auf einen Baum und verschwand in der Höhe.
Bomba hatte wertvolle Zeit verloren. Die Sonne senkte sich bereits dem westlichen Horizont entgegen, und er war noch ziemlich weit von seinem Ziel entfernt. Auf einem Pfad kam der Junge jetzt schnell voran. Er lief mit leichtem, unhörbarem Raubtierschritt und übersprang Hindernisse, ohne sich lange aufzuhalten.
Nach einer weiteren Stunde hatte er das vertraute Gelände in der Nähe seiner früheren Wohnstätte erreicht. Da waren die bekannten Dschungelpfade - das Wasserloch mit dem Baumstamm darüber - und dort drüben die Anhöhe, auf deren Gipfel ein morscher, ausgehöhlter Baumstamm stand. Das war Bombas Spielplatz als kleiner Junge gewesen.
Mit einem Gefühl der Rührung und Trauer trat der Junge auf die Lichtung hinaus und eilte dorthin, wo von der Hütte nur noch verkohlte Balkenreste übrig waren. Hier hatte er mit Casson viele Jahre verlebt. Er war herangewachsen zu einem großen, kräftigen Jungen, der den alten Gefährten jetzt besser beschützen konnte als jeder andere.
Während Bomba bei den Überresten der Hütte stand, dachte er an die Angriffe der Kopfjäger. Einmal hatten die Wilden in der Nacht mit Brandpfeilen das Blockhaus anzünden wollen. Bombas Urwaldfreunde waren als Retter erschienen, und ein Tropenregen hatte den Brand gelöscht. Aber der Rachedurst der zurückgeschlagenen Kopfjäger hatte sie immer wieder in diese Gegend geführt. Schließlich musste Bomba seinen alten Gefährten an einen sicheren Platz bringen. Dann hatte sich seine Vorsicht als sehr richtig erwiesen, denn beim nächsten Besuch auf der Lichtung war die Hütte vollkommen zerstört und verbrannt gewesen. Die Kopfjäger hatten an dem Bauwerk ihre ohnmächtige Wut gestillt. Aber sie hatten Casson und Bomba nicht überlistet!
Während Bomba dastand und der Vergangenheit nachtrauerte, gelobte er sich im Stillen, die Hütte wiederaufzubauen, sobald die Gegend von den Kopfjägern nicht mehr unsicher gemacht wurde. Zu viele Erinnerungen verbanden ihn mit dem Platz, als dass er ihn für immer aufgegeben hätte.
Das Murmeln des Flusses drang leise an sein Ohr und erinnerte ihn an die Gegenwart. Er musste weiter! Es war nicht die rechte Zeit, um wehmütigen Gedanken nachzuhängen. Rasch eilte er zum Ufer hinunter.
Lange brauchte er nicht zu suchen. Das Kanu war noch in dem Versteck, wo er es vor seiner Wanderung zum 'Laufenden Berg' zurückgelassen hatte. Das war eine große Erleichterung für ihn, weil er sich sonst erst ein primitives Floß hätte Zusammenzimmern müssen.
Bomba löste das Kanu von der Vertäuung, stieß sich vom Ufer ab und trieb das Boot in die Mitte des schmalen Flusses. Die Strömung nahm das schlanke Fahrzeug auf und trug es schnell Flussabwärts. Mit kräftigen Paddelschlägen beschleunigte Bomba die Fahrt. Die Ufer mit dem hohen Schilf und den überhängenden Zweigen moosbehangener Bäume glitten rasch vorüber. Hin und wieder stieg ein exotischer Wasservogel aus dem Ufergras auf und flatterte über den silbern blinkenden Wasserspiegel dahin. An einer seichten Uferbank trank ein Tapir; beim Anblick des Bootes verschwand er schnell im Gebüsch.
Zum ersten Male hatte Bomba Muße, über seine zurückliegende Reise nachzudenken. Gefahren waren auf dem Wasser schnell zu erkennen, und während er dahinglitt, schweiften seine Gedanken in andere Gefilde.
Der sterbende Jojasta hatte ihn an die geheimnisvolle Sobrinini verwiesen. Sie wusste angeblich mehr von Bartow und Laura - den beiden Namen, die Casson immer nannte, wenn seine Erinnerung etwas deutlicher wurde und Bilder der Vergangenheit verschwommen in sein Gedächtnis traten.
Bomba fragte sich auch, ob der Name Sobrinini vielleicht in Casson eine versunkene Erinnerung wachrufen würde. Vielleicht gelang es dem alten Manne dann, selbst das Geheimnis von...