4 Schreckliche Kiefer
Ohne Zeit zu verschwenden, änderte Bomba sofort seinen Kurs. Er glitt in die Strömung und schwamm flussabwärts schräg auf das nahe Ufer zu. Noch konnte er hoffen, dass der Kaiman schliefe. Aber das Näherkommen des dunklen Fleckes und die sich dahinter teilende Kiellinie belehrten ihn bald, dass das furchtbare Reptil hellwach war. Beide schwammen sie zum Ufer auf den gleichen Punkt zu - der Kaiman und Bomba. Wer würde zuerst dort ankommen? Wenn ihm der Alligator den Rückweg ans Ufer abschnitt, war Bomba verloren, das wusste er.
Als Bomba Grund unter den Füßen fühlte, trennten ihn nur noch wenige Meter von dem aufgerissenen Rachen der beutegierigen Echse. Mit einem wuchtigen Stoß seiner Beine warf er sich in einer letzten Kraftanstrengung dem Ufer entgegen in das seichte Wasser. Ruckartig schnellte er auf. Jetzt waren seine Chancen in einem Kampf besser geworden. Er riss den Bogen von der Schulter und einen Pfeil aus dem Gürtel. In einer einzigen fließenden Bewegung war er Schussbereit. Der Pfeil verließ schwirrend die Sehne.
Auf dem Wasser lag der Widerschein der brennenden Hütte, und der Kopf des Alligators war ein gutes Ziel gewesen. Mitten in eines der tückischen schiefen Augen traf der Pfeil. Wie ein Delphin schnellte sich das Reptil hoch aus dem Wasser. Das Schwanzende peitschte durch die Luft und traf Bombas Bein.
Der Junge wurde wieder in den Fluss hinausgeschleudert. Seine Freude über den Sieg war jedoch im Augenblick so groß, dass er nicht auf den Schmerz achtete. Aber noch hatte der Fluss ihn nicht freigegeben. Von rechts näherte sich ein zweiter Kaiman. Wieder begann ein Wettschwimmen auf Leben und Tod. Diesmal war das Ufer jedoch näher. Als Bomba Grund spürte, rannte er durch das seichte Wasser an Land.
Auch diesmal war er keine Sekunde zu früh auf das rettende Ufer gekommen. Hinter ihm rauschte das Wasser gurgelnd auf. Dann hörte er das Zuklappen der schrecklichen Kiefer und ein böses, heiseres Bellen. Als er sich umwandte, hatte Bomba den Kopf des Alligators dicht vor sich. In ihrem Ansturm war die Bestie halb aus dem Wasser geklettert. Sie gab jedoch die Verfolgung auf. Ein Instinkt sagte ihr wohl, dass sie diese zweibeinige Beute auf dem Lande nicht erjagen konnte.
Im ersten Impuls hatte Bomba einen weiteren Pfeil auf die Sehne gelegt, doch seine Vorsicht mahnte ihn, seine Pfeile zu sparen, da er seine Geschosse wahrscheinlich nötiger brauchen würde. Eilig wandte er sich dem Buschstreifen zu, der zwischen dem Ufer und der Hütte lag.
Das brennende Blockhaus stand mitten auf einer Lichtung. Bomba war sicher, dass die Kopfjäger noch in der Nähe sein mussten, die die Hütte angezündet hatten. Sie würden aus sicheren Verstecken ihr Zerstörungswerk bewundern. Wenn Bomba jetzt über die Lichtung eilte, würde er ein gutes Ziel für ihre Pfeile sein.
Dennoch waren die Unruhe und Angst des Jungen so groß, dass er den gefährlichen Lauf wagen wollte. Er dachte an Casson und Pipina. Wären sie noch in der Hütte? Er musste versuchen, sie zu retten, koste es, was es wolle!
In vier gewaltigen Sprüngen war Bomba fünfzehn Meter weit auf die vom Feuerschein erhellte Lichtung gesprungen. Er ließ sich flach in das hohe Gras fallen. Hinter ihm bohrten sich mehrere Pfeile in den Boden. Bomba hatte also richtig vermutet. Er hatte die Zeitspanne ausgenutzt, die ihm die Verblüffung der Indianer gelassen hatte.
Ehe die Kopfjäger Zeit fanden, einen neuen Pfeil auf den Bogen zu legen, war Bomba wieder aufgesprungen und hatte im Zickzacklauf weitere fünfzehn Meter zurückgelegt. Seitlich von ihm ging der Pfeilregen nieder.
Sofort sprang Bomba auf und hetzte weiter. Doch diesmal war einer der Indianer schneller gewesen. Ein Pfeil streifte Bombas Fußknöchel, als er sich zu Boden warf. Wenn es ein Giftpfeil war, konnte das den Tod bedeuten.
Im Augenblick hatte er keine Zeit, sich um seine Verwundung zu kümmern. Vorwitzig hatte einer der Indianer seine Deckung hinter dem Buschwerk verlassen. Ein Pfeil war im Nu auf Bombas Bogen. Die Sehne straffte sich, und der Pfeil schnellte davon.
Drüben am Rande der Lichtung warf der Kopfjäger in einer grotesken Bewegung die Arme in die Luft. Er machte einen Sprung nach vorn und fiel mit einem Schrei auf das Gesicht.
Sie haben ihre Warnung, dachte Bomba. Sie wissen jetzt, dass ich schießen kann, und dass ich noch Pfeile besitze!
Bomba hatte einige Sekunden Atempause gewonnen. Er hatte jetzt eine Stelle erreicht, an der neben der Hütte niederes Buschwerk wuchs, und im Schutze dieser Sträucher kroch er weiter.
Wenn er geglaubt hatte, noch in die Hütte eindringen zu können, so musste Bomba jetzt seinen Irrtum einsehen. Heiß wehte ihm der Feueratem des Brandes entgegen. Das Blockhaus brannte lichterloh. Lebend konnte niemand mehr in der Hütte sein.
Bombas Kummer wurde für kurze Zeit so übermächtig, dass er alles ringsumher vergaß. Mit zusammengebissenen Zähnen starrte er auf die lodernden Flammen, die knisternd und prasselnd das Holz der Hütte zerfraßen. Das war sein neues Heim gewesen! Auch von hier hatten ihn jetzt die Kopfjäger vertrieben. Vielleicht waren Casson und Pipina dem Brande zum Opfer gefallen. Und vielleicht würde er selbst das nächste Opfer der mordgierigen Wilden sein.
Geräusche von der anderen Seite der Lichtung erregten Bombas Aufmerksamkeit. Die Kopfjäger griffen an! Gebückt traten sie aus der Deckung und eilten auf die Lichtung hinaus. Es war ein wüster, furchteinflößender Anblick. Die dunklen Gesichter wurden vom Feuerschein erhellt. Im flackernden Licht der Flammen huschten die Gestalten mit der gelben Kriegsbemalung dahin. Sie hatten sich einen Angriffsplan zurechtgelegt. Zuerst gingen sie in Reihe vor, dann schwärmten sie im Halbkreis aus. Wenn Bomba flüchten wollte, blieb ihm nur der Rückzug zum Wasser, aber dort war er in jedem Falle verloren. Erreichten ihn nicht die Pfeile der Kopfjäger, dann wurde er eine Beute der Alligatoren.
Überall boten sich Ziele für Bombas Pfeile. Doch die Zahl der Feinde war zu groß. Bomba schätzte, dass ihn mehr als zwanzig Kopfjäger angriffen. Aber er wollte sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Er war es gewöhnt, zu kämpfen, und er würde auch diesmal bis zum letzten Atemzuge die Machete schwingen.
Sein Pfeil sauste davon. Ein Krieger griff an seine bemalte Brust und versuchte den Pfeilschaft herauszuziehen. Vergeblich! Mit einem grellen Aufschrei stürzte der Wilde zu Boden.
Die Kopfjäger stürmten vorwärts. Unwillkürlich trat Bomba näher an die Hütte heran. Sofort änderten die Krieger ihre Angriffsrichtung. Jetzt drängten sie ihn auf das brennende Blockhaus zu. Jeder andere Fluchtweg war nun abgeschnitten.
Der nächste Pfeil durchbohrte den Hals eines Wilden. Mit einem röchelnden Stöhnen sank er zusammen. Seine Gefährten kümmerten sich nicht um ihn. Sie waren jetzt bis auf zehn Meter an Bomba herangekommen. Leicht hätten sie ihn mit ihren Pfeilen niederstrecken können - aber es war ihr Ehrgeiz, den Feind lebend zu fangen. Ein toter Gegner versprach kein Marterfest.
Bomba warf den Bogen fort und zog die Machete. Kampfbereit stand er da. Sein Blick war furchtlos und kühl. Vielleicht gab es noch eine Chance für ihn. Irgendeine Unachtsamkeit der Kopfjäger konnte ihm zu Hilfe kommen. Nie durfte man sich verlorengeben, bevor der Kampf zu Ende war.
Mit einem betäubenden Triumphgeheul sprangen die Wilden vorwärts. Sie waren jetzt dicht vor Bomba. Noch einen Schritt trat der Junge zurück - und im gleichen Augenblick warf ihn der Luftdruck einer Explosion zur Seite.
Eine scharfe Detonation krachte wie ein Donnerschlag gegen Bombas Trommelfell. Im Fallen sah er noch, wie die Eingeborenen ebenfalls zu Boden geschleudert wurden. Geschosse sausten pfeifend durch die Luft.
Der erste, der seine Geistesgegenwart wiederfand, war Bomba. Er erhob sich vorsichtig auf die Knie und lächelte unwillkürlich bei dem Anblick, der sich ihm bot.
Die Indianer waren im Rückzug. Vorsichtig krochen sie davon. Diesem Zauber waren sie nicht gewachsen! Unsichtbare Hände hatten sie ergriffen und zu Boden geschleudert! Wie sollten sie sich gegen Arme wehren, die sie nicht sehen konnten? Wie das Knattern eines Maschinengewehres folgten weitere Explosionen. Eines der Geschosse musste wohl einen Kopfjäger getroffen haben. Er sprang auf und rannte in wilder Hast davon. Nun waren auch seine Gefährten nicht mehr zu halten. Sie stürzten weiter und hielten erst an, als sie den Waldrand erreicht hatten.
"Böser Zauber!", grollte einer der Männer.
"Lufthände haben Naula ergriffen und zu Boden geschmettert!", beteuerte ein anderer.
"Menu auch!", rief ein dritter dazwischen.
"Alle unsere Krieger sind vom bösen Zauber zu Boden geworfen worden", meinte der Unterhäuptling. "Das kann nur das Werk des alten Zauberers sein! Nascanora weiß, warum er ihn töten will!"
"Und der junge Zauberer ist auch noch am Leben", schnatterte Naula erregt. "Da steht der kleine Teufel und grinst herüber!"
Der Unterhäuptling griff zornig nach Pfeil und Bogen. Doch ehe er schießen konnte, klatschte eines der geheimnisvollen Geschosse auf seine Brust. Mit einem Schmerzgeheul sprang der Unterhäuptling mindestens drei Meter rückwärts. Dann wandte er sich zur Flucht. Dieser letzte Beweis für die Zauberkräfte der Weißen war zu deutlich gewesen. Die Kopfjäger verschwanden im Urwalddickicht.
In der Hütte war der Munitionsvorrat für Bombas Revolver explodiert - das war die einfache Erklärung für den geheimnisvollen Vorgang. Diese Explosion zur rechten Zeit hatte Bomba davor bewahrt, in die Gefangenschaft der Kopfjäger zu geraten.
Doch Bomba...