1 Knapp entkommen
Eine Menschengestalt glitt vorsichtig und geräuschlos auf dem schmalen Dschungelpfad dahin. Mit der Geschmeidigkeit und Anmut einer Wildkatze nahm sie ihren Weg über Baumwurzeln und wucherndes Gestrüpp, bis ein schlammiges Sumpfloch ihren Schritt hemmte. Düster und unergründlich schimmerte das faulige, schwarze Wasser. Nur ein schmaler Baumstamm war als Brücke darübergelegt. Die Gestalt beugte sich vor und sah einen Augenblick ihr eigenes Gesicht auf dem dunklen Wasserspiegel.
Bomba, der Junge aus dem Dschungel, lächelte sich selbst zu, als wollte er sich Mut zusprechen. Seine blanken Zahnreihen schimmerten und bildeten einen starken Gegensatz zu der gebräunten Haut. Schnell und sicher balancierte er über das tückische Sumpfloch und trat wieder auf den Pfad. Der Urwald umgab ihn mit seiner grünen Undurchdringlichkeit, Papageien kreischten in der Ferne, und in ihr misstönendes Gekrächz mischte sich das aufgeregte Schimpfen der Affen. Etwas musste ihren Unwillen erregen. Vielleicht huschten Kopfjäger mit ihrer gelben Kriegsbemalung unter den Bäumen dahin. Vielleicht glitt auch der Jaguar durch das Unterholz, obwohl seine Jagdzeit noch nicht gekommen war.
Ein Laut ließ Bomba innehalten. Mitten in seinem geschmeidigen Wolfstrott blieb er lauschend stehen. Das Laubdach hielt die sengenden Strahlen der Sonne ab und schuf ein geheimnisvolles Halbdunkel um Bomba. Er stand da - umgeben von spitzblättrigen Palmen, von moosverhangenen Zypressen, von den hochragenden Fächern der Farne, von uralten Baumriesen und vom grünen Gewirr der Lianen - stand da im hitzedampfenden, feuchtwarmen Dschungel und lauschte.
Da! Wieder dieser Laut! Dieser harte, kurze Knall! Zwei unauslöschliche Erinnerungen knüpften sich für Bomba an das Geräusch. In einer sekundenschnellen Rückschau erlebte Bomba alles noch einmal. Er sah wieder, wie sein alter Beschützer Casson den wilden Jaguar mit dem Eisenstock - den Casson 'Gewehr' nannte - vom Baum heruntergeholt hatte.
Unvergesslich für Bomba. Auf einem Ast kauerte das Raubtier - auf jenem Baum, unter dem sich Bomba arglos zur Ruhe gesetzt hatte. Erst als er den Ausdruck von Entsetzen in Cassons Augen wahrnahm und seinen Warnruf horte, ahnte Bomba etwas von der Gefahr, die über ihm schwebte.
Geistesgegenwärtig sprang er auf - im gleichen Augenblick, als auch der Jaguar zum Sprung ansetzte. Er sah, wie Casson den Eisenstock an die Wange riss - da schoss eine Flamme aus dem Ende des Stockes und zugleich ertönte der peitschende Knall.
Von einer unvorstellbaren Kraft mitten im Sprung aufgehalten, wirbelte das Raubtier in der Luft herum und fiel zu Boden. Eine ausgestreckte Pranke streifte Bomba und ritzte seine Haut. Noch einmal streckte sich der Körper, ehe er still auf dem Waldboden liegenblieb.
Vorsichtig trat Bomba an das tote Tier heran. Von den Eingeborenen hatte er gelernt, das Wild mit Pfeilen zu erlegen. Nun suchte er nach einem Geschoss, das aus dem Tierleib ragen musste. Nichts dergleichen war zu sehen. Nur mitten auf der Stirn, in einem der schwarzen Flecke, die das rötlich-gelbe Fell am ganzen Körper übertupften, war ein kleines Loch zu erkennen. Eine schmale Blutspur führte von der Stirn bis zum halb geöffneten Rachen, aus dem die Raubtierzähne spitz und drohend herausragten. Noch im Tode behielt der Jaguar seinen Ausdruck von gefährlicher Wildheit.
Natürlich versuchte Bomba von Casson zu erfahren, was es mit dem seltsamen Sterben des Jaguars für eine Bewandtnis hatte. Sein Lehrer und Beschützer hatte aber einen seiner mürrischen Tage und gab keine Erklärung. Er zog Bomba in einer jähen Regung von Zärtlichkeit an die Brust, und nur daraus erriet der Junge, dass sein alter Freund von dem Zwischenfall erschüttert war.
Diese Erinnerung glitt vorüberhuschend durch Bombas Sinn, während er dem Schall des fernen Schusses nachlauschte. Er dachte auch an das Erlebnis mit der Riesenschlange, deren Haupt sich plötzlich vor ihm erhoben hatte. Der Schuss hatte die riesige Anakonda damals erschreckt und vertrieben. Aber es gab eine donnerähnliche Explosion, und der Eisenstock zersprang in viele Stücke. Casson fiel bewusstlos auf den Rücken, und Bomba musste den schweren Körper in ihre Wohnhütte schleppen. Mit Heilmitteln, deren Anwendung er den Eingeborenen abgesehen hatte, pflegte er Casson. Schließlich hatte sich der alte Mann erholt, aber seine Gedächtnisschwäche war zu vollkommenem Gedächtnisschwund geworden. Wenn Casson sich an etwas aus der Vergangenheit erinnerte, gab es flüchtige Augenblicke der Freude und Gesprächigkeit. Meistens hüllte sich der Alte jedoch in mürrisches Schweigen, und Bomba fühlte sich dann einsamer denn je.
Dies waren die Erinnerungen - die Bombas Gedanken durchzuckten. Das geschah traumschnell, während er vorgebeugt dastand und jenem Schall nachlauschte, der diese Erinnerungen wachgerufen hatte. Fast waren die Vorgänge seinem Gedächtnis entschwunden. Nun wurde alles wieder lebendig.
Wer konnte diesmal den geheimnisvollen Eisenstock benutzt haben? Der Knall war aus einer Entfernung von etwa einer halben Meile gekommen. Kein Eingeborener besaß eine Waffe dieser Art. Einsam und mit klopfendem Herzen stand Bomba in der düsteren Dschungelwelt, und die Gedanken jagten durch sein Gehirn.
Da war eine Sehnsucht in ihm - unbewusst, aber mit einer drängenden Kraft. Er suchte insgeheim nach Menschen seiner Art - nach Wesen, die wie Casson und er hellhäutig waren. Niemand hatte mit Worten diese Sehnsucht erzeugt. Sie war da: ein Teil von ihm selbst - ein Instinkt der Zugehörigkeit zu einer fremden, großen Welt, die nichts zu tun hatte mit Bombas Leben im Dschungel.
Er musste wissen, wer den Eisenstock besaß. Der Wunsch war stärker als jener Instinkt, der ihn gelehrt hatte, die ungeschriebenen Gesetze des Dschungels streng zu beachten. Eines dieser Gesetze lautete: Kümmere dich nur um deine eigenen Angelegenheiten. Es ist gefährlich, sich in das einzumischen, was bei anderen geschieht, und du bist dabei nie willkommen.
So hätte Bomba normalerweise einen weiten Bogen um den Ort geschlagen, von dem das Krachen herübergeschallt war. Er hätte sich tiefer in den Dschungel zurückgezogen, denn: wo die Stimme des eisernen Stockes ertönte, lauerte sicherlich Gefahr. Deutlich war in Bombas Gehirn die Erinnerung an den Eisenstock mit den Gedanken an beutegierige Raubtiere und Reptilien verbunden.
Trotzdem machte sich Bomba auf den Weg. Er huschte über den moosigen Boden des Urwaldes dahin. Gedankenlos und mit mechanischer Geschicklichkeit räumte er kleine Hindernisse beiseite: Äste, die faulig und morsch herabhingen - das widerspenstige Netz von klammernden Lianen - und stechende Dornenranken, die seine nackten Waden verletzten. Um ihn her wogte und schwebte der dumpfe, warme Dampfatem des Dschungels. Das monotone Klagen von Turteltauben in tiefen, vollen Tönen begleitete ihn. Immer noch zeterten die Affen irgendwo in der Ferne. Sie waren die Polizei des Dschungels. Sie kündigten den schleichenden Schritt der Wildkatzen an, und sie verrieten den Ort, an dem die Riesenschlange drohend lauerte: um einen Ast geringelt -- verborgen im Blattwerk des Gezweigs.
Bomba eilte weiter. Er balancierte über einen liegenden Baumstamm, benutzte mit Geschicklichkeit eine herabhängende Liane, um sich über ein Sumpfloch zu schwingen, und kam sanft und sicher auf beide Füße zu stehen. Die Sehnsucht beschwingte seinen Schritt. Vielleicht war auch ein wenig Neugierde dabei. Er wollte gern den Wunderstock wieder einmal in Tätigkeit sehen. Aber das war nicht das wichtigste. Viel schwerer wog dieses sanfte, drängende Empfinden in seinem Innern. Was war es? Mehr als Sehnsucht - mehr als Neugierde. Er liebte etwas, das er noch nicht genau bestimmen konnte: ein Leben mit den Hellhäutigen, zu denen er gehörte.
Bombas Aussehen hätte nicht so leicht verraten, dass er kein Eingeborener des Dschungels war. Er trug grobe, selbstgefertigte Sandalen an den Füßen, und um den Körper gewickelt ein primitives Lendentuch und ein Pumafell. Das war Geluks Haut - das Fell jenes Pumas, der versucht hatte, seine kleinen, zutraulichen Papageien Kiki und Woowoo zu fressen. Bei diesem Mordversuch hatte ihn Bomba überrascht und mit einem Pfeil erlegt.
Das war Bombas Kleidung. Sie unterschied ihn nicht sehr von den Eingeborenen. Auch seine Haut war braun getönt. Er war ein Junge von vierzehn Jahren - groß für sein Alter, kräftig und doch mit den anmutig leichten Bewegungen einer Wildkatze. Sein braunes, welliges Haar war es vor allen Dingen, das seine Abkunft von Weißen verriet. In natürlichen Locken fiel es ihm in die Stirn, und wenn Bomba mitunter fröhlich lachte, waren zwei Reihen prächtiger weißer Zähne zu sehen.
Dort, wo Bomba lebte, kamen sehr selten Weiße hin. Mit dem alten Naturforscher Cody Casson wohnte er im Herzen des Dschungels: am Amazonas. An seine eigene Vergangenheit hatte Bomba keine Erinnerung. Sein Beschützer Casson war in dieser Hinsicht auch sehr schweigsam. Früher hatte er ihm die Grundzüge einer Erziehung vermittelt, wie sie für das Leben weißer Männer nötig ist. Besonders in seinen Spezialgebieten Botanik und Naturgeschichte hatte Casson den Jungen unterrichtet. Doch dieser Unterricht hatte schon vor Jahren aufgehört damals, als die Geisteskräfte des Naturforschers bei der Explosion des Gewehres gelitten hatten.
Allzu viel wusste also Bomba nicht von der weißen Rasse, zu der er gehörte. Mit den Indianern in ihrer näheren Umgebung traten die beiden nicht oft in Verbindung, denn die Indianer mieden ihre Nähe. In ihrer abergläubischen Furcht schlossen sie aus dem seltsamen Benehmen des Naturforschers, dass er "ein Mann des Bösen" sein müsste.
Das war...