Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Buenos Aires, 18. Juni 2004
Elena klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sich die Tür öffnete und Ramón ihr, noch im Schlafanzug, gegenüberstand. Er grüßte sie verdutzt, und während er sich unschlüssig über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn strich, glitten seine Augen erstaunt über Elenas Gepäck. Bevor Elena etwas sagen konnte, erschien Conchita hinter Ramón im Türrahmen. Sie erfasste die Situation blitzschnell. »Elena, du bist zurück! Wie es aussieht, kommst du gerade vom Flughafen.« Mit einer Handbewegung bedeutete sie Ramón, Elena mit dem Gepäck zu helfen. »Komm rein, Elena. Bienvenido!«
Elena bedankte sich. Sie konnte kaum noch die Augen aufhalten und fragte: »Habt ihr ein Plätzchen, wo ich ein paar Stunden schlafen kann?«
Conchita lotste die übernächtigte Elena in eine kleine Kammer im Erdgeschoss der Tanzschule, die sie gemeinsam mit Ramón betrieb. »Ich freue mich so sehr, dass du zurück bist! Ist das Jahr tatsächlich schon um?«, sagte sie, während sie ein Klappbett aus einer Ecke holte.
»Ja, fast. Elf Monate – also eine Ewigkeit.«
»Elf Monate in der Fremde und du sprichst von einer Ewigkeit. Du bist und bleibst eben eine typische porteña – jeder Tag fernab des Río de la Plata ist ein Tag zu viel!«
Während sie Conchita mit den Laken half, beeilte sich Elena zu erklären: »Es tut mir leid, dass ich hier in aller Frühe aufkreuze …«
»Mach dir keine Gedanken«, versicherte Conchita sofort. Sie ließ sich keine Verwunderung darüber anmerken, warum Elena nicht gleich zu Caridad, ihrer Geliebten, zurückkehrte, sondern half ihr, sich halbwegs in der Kammer einzurichten.
»Ach, Conchita, danke. Du weißt, wann immer ich etwas für euch tun kann, lass es mich wissen«, sagte Elena, froh, dass Conchita ihr jegliche Frage zu ihrem unerwarteten Auftauchen ersparte.
»Vergiss es. Du bist uns nichts schuldig.« Conchita tat das Thema mit einer ungeduldigen Handbewegung ab. Doch dann glitt ein spitzbübisches Schmunzeln über ihr Gesicht. »Das heißt, mir schon … Erinnerst du dich an dein Versprechen, bevor du nach Las Palmas geflogen bist?«
Elena blickte sie einen Moment ratlos an, dann zauberte die Erinnerung für einen Moment alle Müdigkeit fort. Mit dem Selbstbewusstsein einer Frau, die um ihr gutes Aussehen weiß, warf sie sich in Pose und blickte Conchita tief in die Augen. »Mein erster Tango in Buenos Aires gehört dir.«
»¡Exacto! Und wehe, mir kommt zu Ohren, dass du dich nicht an dieses Versprechen gehalten hast.« Nicht minder von sich überzeugt, reckte Conchita ihr Kinn und drohte Elena mit dem Finger. »So und jetzt: buenas noches. Wenn du irgendwann ausgeschlafen hast, möchte ich die ganze Geschichte von Las Palmas, deiner Tante und deiner Suche haarklein erzählt bekommen.«
Elena wachte auf. Die Liege war schmal und durchgelegen, das Zimmer kühl und winzig. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Doch das bläulichgraue Licht eines Herbstnachmittags und das Geschrei der Vögel ließen keinen Zweifel: Sie war zurück in Buenos Aires. Sie streckte sich. Rücken und Beine schmerzten immer noch. Fünfundzwanzig Stunden Reise, davon achtzehn in der Luft, waren kein Vergnügen. Sie blieb eine Weile im Bett sitzen. Nun war sie wieder zu Hause. Sie fröstelte. Die Milde der kanarischen Inseln schien Lichtjahre entfernt. Buenos Aires hatte sie wieder. Ihre Suche nach Spuren ihrer Tante Marí in Las Palmas war beendet. Sie hatte mehr erfahren, als sie bei ihrem Aufbruch zu hoffen gewagt hatte. Einige neue Details aus Marís Leben ließen nun ahnen, wieso Marí trotz ihres großen Talents als Künstlerin erfolglos geblieben war. Wenn auch nicht alle Fragen zu Marís Schaffen und ihrem frühen Tod geklärt waren, so hatte sie dennoch viel erreicht während ihrer Zeit auf Gran Canaria. Elena seufzte und schwang mühsam die Beine aus dem Bett. Dass sie überhaupt so weit gekommen war, hatte sie vor allem einem Menschen zu verdanken: Inés. Elena strich sich mit der Hand über das Gesicht und drückte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Inés. Eine süße Erinnerung an eine Zeit, die nun vorbei war. Von diesem Tag an würde sie ihr Leben in Buenos Aires wieder aufnehmen. Und das begann mit dem Wiedereinstieg in ihren alten Job. So schnell wie möglich wollte sie mit Ramón besprechen, ab wann sie wieder in seiner Tanzschule unterrichten konnte. Sie blickte auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Eine gute Zeit, um Ramón und Conchita zu suchen, etwas zu essen und vor allem zu duschen. Danach würde sie zu Caridad gehen. Sie hatte sie selten genug angerufen im vergangenen Jahr. Was sie in ihrem alten Zuhause erwartete, wusste sie nicht. Die beiden letzten Male, die sie mit Caridad telefoniert hatte, hatten sie mehr beunruhigt als jedes verkrampfte Gespräch zuvor. Beim ersten Telefonat hatte Elena wie immer zu ergründen versucht, wie es Caridad ging und ob in ihrem Alltag alles glatt lief. Statt der ausweichenden Antworten, die Caridad sonst stereotyp und stoisch herunterleierte, hatte sie plötzlich ihrer Wut über Elenas Fürsorge Luft gemacht. Sie hatte sie angeschrien und mit Vorwürfen überhäuft. Als Elena einige Wochen später wieder anrief, hatte sie es mit einer ungeduldigen Caridad zu tun gehabt. Noch bevor Elena ihre üblichen Fragen hatte stellen können, hatte Caridad entnervt erklärt, ja, es ginge ihr blendend, mit der Arbeit käme sie gut voran, und wenn Elena zurück sei, könne sie sich selbst davon überzeugen. Noch nie zuvor hatte sie von Caridad gehört, es ginge ihr blendend. Was immer es bedeuten mochte – ausgeschlafen und geduscht konnte sie Caridad besser gegenübertreten. Elena schwang sich vollends aus dem Bett und suchte ihre Sachen zusammen.
Sie fand Ramón vor der Tanzschule, wo er gerade eine Gruppe japanischer Touristinnen und Touristen verabschiedete. Die Tangobegeisterten stiegen, sich höflich verbeugend, in den wartenden Bus. Strahlend nahm Ramón Elena in die Arme und drückte sie herzlich. »Ausgeschlafen?«, fragte er. »Schön, dass du wieder hier bist.«
»Ausgeschlafen, geduscht und hungrig. Ich bin froh, wieder hierzusein und euch anzutreffen, als wären nur ein paar Tage vergangen.«
»So, wie du vor mir stehst, kommt es mir nicht viel länger als drei, vier Wochen vor.«
Ramón winkte sie in den kleinen stickigen Raum, der ihm als Büro diente, und holte seinen Kalender hervor. Er runzelte die Stirn und kaute, während er hin und her blätterte, auf einem Kuli. Elena wurde unsicher. Als sie ihn von Las Palmas aus angerufen hatte, schien alles klarzugehen. Er hatte ihr versichert, dass sie nach ihrer Rückkehr wieder bei ihm unterrichten könne. Ramón hatte mühelos einen Ersatz für sie gefunden, als sie damals aufgebrochen war. Die Konkurrenz war groß, denn es gab viele talentierte Tangotänzerinnen und -tänzer, die mit Freude in einer Tangoschule für Touristen arbeiteten, wo eine vergleichsweise gute Bezahlung lockte – auch wenn der Unterricht tänzerisch meist keine Herausforderung bot.
»Ché, wie gesagt, ich möchte dich natürlich wieder einstellen …« Elenas Nervosität stieg beim Klang seiner verhaltenen Stimme.
»… aber im Moment habe ich für alle Kurse jemanden …«
»Oh, ich hatte gedacht, es geht klar …«
»Als du aus Las Palmas angerufen hast, hatte ich nicht alle Termine und die Besetzung parat. Ich dachte, ich könnte dich gleich wieder einsetzen …«
Elena zuckte die Schultern, sie mochte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen. Die Rückkehr in ihre Heimat lief alles andere als glatt. Sie hatte Ramóns Zusage für verlässlich gehalten und mochte sein Blättern im Kalender nicht weiter mit ansehen. »In Ordnung, Ramón, ich hatte dich am Telefon zwar so verstanden, als könnte ich hier problemlos wieder anfangen …« Sie gab sich keine Mühe, ihren Ärger zu verbergen, und fuhr kühl fort: »Aber offenbar habe ich mich geirrt. Ich mache mich dann mal auf, mir was anderes zu suchen.«
Ramón blickte auf und sah Elena erstaunt an. »Was bist du denn so grantig?«, fragte er. »Ich habe dir doch zugesagt, dass du hier auf jeden Fall wieder anfangen kannst. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich das nicht täte – ganz abgesehen von dem Ärger, den mir Conchita machen würde. Das Problem ist nur, du warst nicht ein ganzes Jahr fort, sondern nur elf Monate. Manuel, deine Vertretung, hat einen Jahresvertrag, der erst Ende Juli ausläuft. Er macht seine Sache gut, aber ich möchte lieber wieder mit dir zusammenarbeiten, Elena. Leider geht das erst ab August. Tut mir leid, ich habe das damals am Telefon nicht so schnell überblickt.«
Elena fiel ein Stein vom Herzen. Also alles halb so schlimm, sie musste sich keinen neuen Job suchen. Glücklich strahlte sie Ramón an, doch dann kam sie schnell auf den Boden der Tatsachen zurück. Sechs Wochen ohne Arbeit. Zehn Wochen bis zu ihrem ersten Gehalt. Ihr Erspartes aus Las Palmas würde schnell dahinschmelzen.
Der Fahrer des colectivo tat Elena den Gefallen und hielt zwischen zwei Haltestellen. Ein Fahrgast half ihr, das Gepäck aus dem Bus zu hieven, und ehe Elena sich’s versah, stand sie vor ihrem Zuhause. Das zweistöckige Wohnhaus mit seiner bröckeligen mattgrünen Fassade und den verrosteten Balkonen sah aus wie eh und je. Das Schild zu Alfonsos Werkstatt war immer noch dasselbe, und als sie durch den Torbogen in den Hinterhof trat, stieg ihr der altvertraute Geruch von Gummi und Öl in die Nase. Elena schleppte ihr Gepäck über das holprige Pflaster. Zu dieser Zeit war Caridad sicher in der Werkstatt am anderen Ende des Hofes, wo sich auch Alfonsos Ersatzteillager befand....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.