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»Das ist aber ein großes Paket«, meinte die junge Frau hinter dem Schreibtisch vor der ausladenden Holztür. Ein neckisches Lächeln spielte um ihre Lippen.
Grant Mercer warf einen Blick auf den Karton in seinen Händen. »Ich bin hier, um Mr Lawson zu sehen«, antwortete er und ignorierte ihre Bemerkung.
Sein unfreundlicher Tonfall ließ sie stutzen, und einen Moment lang hatte er das Gefühl, er sollte sich dafür entschuldigen, dass er so schroff gewesen war, doch dann entschied er sich dagegen. Offen gesagt war ihm schlicht egal, was sie oder irgendjemand von ihm hielt.
»Ihr Name?«, fragte sie, und blickte ihn nach wie vor ernst an. »Sir?«
Er war es mehr als gewohnt, weibliche Aufmerksamkeit zu erregen, wo immer er war, aber es fühlte sich nach wie vor nicht normal an. Durch sein gutes Aussehen - dichtes blondes, welliges Haar, am Hinterkopf zu einem lockeren Knoten gebunden, und tiefgrüne Augen, die stets verrieten, was er gerade empfand - hatte er nie Mangel an Frauen gehabt, wenn er eine wollte. Doch ein Playboy zu sein war nie sein Ding gewesen. Zwar hatte er in der Vergangenheit einiges an Erfahrung gesammelt, aber eigentlich war er eher introvertiert und blieb für sich, wenn möglich.
»Grant Mercer.«
Ihr Gesicht leuchtete auf. »Oh, er erwartet Sie schon, Mr Mercer. Gehen Sie ruhig hinein.«
»Danke.« Grant balancierte den großen Karton auf seinen Armen, fasste dann nach dem Türgriff und betrat das luxuriöse Büro des Filmproduzenten.
Ein Mann mit kurzem braunen Haar und einem Anflug von Bartschatten am Kinn saß an einem großen gläsernen Schreibtisch, hinter sich eine ganze Wand aus Fenstern mit Blick über Los Angeles. Der Mann hob den Kopf und lächelte ihm zu. »Grant Mercer?«
Grant nickte und platzierte seinen Karton auf einen Stuhl in der Nähe. »Das bin ich.«
»Ben Lawson«, stellte der Mann sich vor, stand auf, kam um den Schreibtisch herum auf Grant zu und gab ihm die Hand. »Wie war Ihr Flug von Neuseeland?«
»Tatsächlich überraschend angenehm.« Obwohl das in Wirklichkeit mehr damit zu tun hatte, dass er Neuseeland hinter sich ließ, als damit, dass er nun in den USA war.
»Gut.« Ben deutete auf einen Polsterstuhl seinem Schreibtisch gegenüber. »Machen Sie es sich bequem. Möchten Sie einen Scotch? Whiskey?«
Grant zuckte mit den Schultern. »Was immer Sie haben.« Er wusste, dass er nicht der umgänglichste Typ war, aber er hatte eindeutig vor, für seinen Boss sein bestes Benehmen an den Tag zu legen. Der Mann zahlte ihm eine hohe sechsstellige Summe für kaum einen Monat Arbeit, also wenn das bedeutete, dass er sein übliches Stirnrunzeln gegen ein Lächeln tauschen musste, würde er das verdammt noch mal tun. Er brauchte diesen Job weit dringender, als er zugeben wollte.
Ben nahm eine Glasflasche von einem Barwagen an der Wand. »Also Scotch.«
Eine Minute später kehrte er an den Schreibtisch zurück und reichte Grant das Glas. Grant trank einen Schluck und stellte das Glas dann auf den Tisch, während Ben sich wieder setzte.
»Also, Kiss Me, Kate.« Ben öffnete eine Schublade, holte einen großen Stapel Dokumente heraus und reichte sie Grant. »Hier ist eine Kopie des aktuellen Drehbuches.«
Der Projekttitel stand quer auf der ersten Seite, und Grant blätterte kurz durch und überflog einige der Dialoge. »Das ist ein richtiger Klassiker. Eine moderne Version dieses Musicals wird überwältigend.«
Ben nickte. »Sehe ich genauso. Um ehrlich zu sein, ist es auch ein bisschen ein Leidenschaftsprojekt für mich. Der Schlüssel allerdings, um diesen Film zu einem Hit zu machen, wird die Filmmusik sein. Vor allem wenn man bedenkt, dass wir das Ganze live aufführen werden.«
»Und da komme ich ins Spiel«, antwortete Grant und lächelte zum ersten Mal, seit er den Fuß auf amerikanischen Boden gesetzt hatte. Musik war das, worin er glänzte, und als einer der begehrtesten Filmkomponisten in der Branche hatte er keinen Zweifel daran, dass er diesen Film zu einem Glanzstück machen würde. »Die Melodien und Texte sind ja schon durch die klassische Version und die Broadwayshow vorgegeben, aber wir werden sie mit modernen Beats und Instrumenten unterlegen. Sie werden zu ganz neuen Songs.«
»Darauf zähle ich.« Ben drehte seinen Bildschirm herum, damit Grant daraufblicken konnte. »Ich zeige Ihnen ein paar Aufnahmen von unseren Castingsessions. Die Hauptrollen sind bereits besetzt, und wir arbeiten gerade an der Besetzung der übrigen Figuren. Innerhalb eines Monats werden wir so weit sein, mit den offiziellen Proben zu beginnen.«
»Also brauchen Sie bis dahin die komplett fertige Musik dazu?«
»Denken Sie, dass Sie das hinkriegen?«, fragte Ben. »Die Hintergrundmusik ist sekundär, daher können wir damit bis zur Vorproduktion warten, aber die Songs müssen fertig sein für die Schauspieler und Schauspielerinnen. Die Texte haben sie allerdings schon parat, da sie angewiesen wurden, die klassischen Versionen zu proben.«
»Das ist kein Problem«, versicherte Grant und deutete dann auf den Karton, den er mitgebracht hatte. »Tatsächlich habe ich mehr als die Hälfte startklar. Die Notenausgabe ist schon bereit. Ich würde sehr gern so bald wie möglich mit den Hauptrollen anfangen, um die Schwachstellen abzuarbeiten.«
»Perfekt.« Ben zeigte auf den Bildschirm und klickte »Play« auf das Video, das er aufgerufen hatte. »Das ist unsere weibliche Hauptrolle, Simone Reynolds.«
Aus dem Lautsprecher drang eines der klassischen Lieder aus der Originalversion, ein sanftes und bezauberndes Stück, das durch die Frau, die es sang, noch schöner wurde. »Ihre Stimme ist verblüffend«, meinte Grant. Er fühlte sich von der Stimme angezogen. Es sprach für die Sängerin, die sie besetzt hatten, denn ihr Talent war unvergleichlich.
»Nicht wahr?« Ben sprang zu einer anderen Stelle im Video, begierig, mehr ihres Stimmumfangs bei einem weiteren Lied zu hören. »Sie hat erst vor zwei Wochen den dritten Platz bei American Voice gewonnen. Doch auch wenn sie nicht Erste geworden ist, war sie eindeutig der Publikumsliebling.«
Grant musste zugeben, dass er ein paar Folgen der Staffel im Onlinestream gesehen hatte, und sie war auch seine Favoritin gewesen. Sie sah nicht nur atemberaubend aus und war eine unglaubliche Sängerin, sondern ihre feurige Persönlichkeit war in jeder Szene durchgeschimmert, und das war genau die liebenswerte Persönlichkeit, die die Zuschauer begeisterte. »Das ist tolle PR für den Film.«
Ben nickte. »Der Film ist jetzt schon Gesprächsthema, daher hoffen wir, dass das die Quoten hochtreibt. Doch um offen zu sein, ist Simone die jüngere Schwester meiner Frau.«
Grant schmunzelte, aber die eventuelle Klüngelei konnte er dem Mann nicht vorwerfen. Simone passte eindeutig perfekt für die Rolle und hatte die passende Stimme dazu. Mit ihrem Stimmumfang konnte er definitiv arbeiten, und er war jetzt schon aufgeregt zu sehen, wie weit er sie bringen konnte. »Ich verurteile niemanden. Zumal die Frau wirklich singen kann.«
»Genau«, antwortete Ben. »Kommen Sie. Wir gehen runter ins Studio, und Sie können sich kennenlernen. Sie sollte gerade mit ihrem Stimmtrainer arbeiten.«
Grant stand auf und wollte seinen Karton mit den Notenblättern aufheben.
»Lassen Sie ihn hier. Meine Sekretärin soll ihn in Ihr Büro bringen. Sie werden Ihre Einrichtung lieben - voll eingerichtetes Büro, Studio, schalldichte Kabine, alle möglichen Instrumente, das komplette Programm.«
»Ich kann es kaum erwarten, es zu sehen«, antwortete Grant. Zwar verfügte er über ein traumhaft eingerichtetes Studio in seinem luxuriösen Haus an den Klippen in Neuseeland, wo er die meisten seiner Stücke komponierte, aber es hatte etwas für sich, mit Spitzenequipment zu arbeiten, das ihm eine große Produktionsfirma wie diese bieten konnte. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er für dieses Projekt nicht in Neuseeland hatte bleiben können, selbst wenn er gewollt hätte.
Er versuchte, die Gedanken an diese Dämonen zu verdrängen. Er hatte keine Zeit, daran zu denken, was zu Hause auf ihn wartete.
»Ich bringe Sie nach dem Treffen mit Simone hin«, bestätigte Ben und geleitete ihn aus dem Büro. »Lydia, können Sie Mr Mercers Sachen in sein Büro schaffen?«
Die junge Empfangsdame sprang auf und lächelte Grant zu. »Natürlich, Mr Lawson. Alles, was Mr Mercer braucht.«
Ben schmunzelte, als sie in den Aufzug stiegen. »Ich denke, Sie werden in Hollywood viel Spaß haben, Grant.«
Der grinste, schüttelte aber den Kopf. »Nein, das ist nicht mein Stil.«
»Gut«, antwortete Ben. »Ich mag einen Mann, der seine Arbeit priorisiert. Keine Ablenkung.«
Ironischerweise war die Suche nach Ablenkung der ganze Grund dafür, dass er den Job überhaupt angenommen hatte. »Genau.«
»Allerdings habe ich so meine Frau kennengelernt. Mein erstes Projekt hier bei Shepherd Films, und sie war eindeutig eine Ablenkung«, scherzte Ben, doch sein verliebter Gesichtsausdruck genügte, dass Grant würgen wollte.
»Haben Sie jemanden, der zu Hause auf Sie wartet?«, fragte Ben.
Grant schüttelte den Kopf. »Nur einen Bonsai, den ich bei einem Nachbarn in Pflege gelassen habe, und eine Ex-Frau, die mit meinem besten Freund und allem, was ich besitze, durchgebrannt ist.«
Noch während die Worte aus seinem Mund kamen, wurde ihm klar, wie armselig das klang, aber es war zu spät, um den Satz zurückzunehmen.
Ben räusperte sich. »Das klingt . tut...