Schweitzer Fachinformationen
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Mein Leben
Ich habe Mörder, Vergewaltiger, Einbrecher und Drogendealer verteidigt. Während meiner Jahre als Pflichtverteidigerin habe ich eine Frau vertreten, die ihr Baby von einer Brücke geworfen hat, und eine Achtzigjährige, die ihren Ehemann regelmäßig mit der Bratpfanne verprügelte, wenn er es wagte, sich über ihre »Kochkünste« zu beschweren. Wie abscheulich auch immer das Verbrechen, wie groß die menschliche Verfehlung war, ich habe sie alle verteidigt. Stellen Sie sich die fürchterlichste Scheidung in der Geschichte der Menschheit vor - ich war diejenige, die die schlimmere Hälfte vertreten hat.
Was soll jetzt noch kommen?
»Du musst mir einen großen Gefallen tun«, sagte Joe Baynard, Richter am Familiengericht in Charleston, als er heute Morgen anrief.
Er ist neunundvierzig Jahre alt, nur ein paar Tage jünger als ich selbst. Abgesehen davon könnten wir nicht verschiedener sein, was - wenn ich darüber nachdenke - wohl der Grund dafür ist, dass ich mich damals in ihn verliebt habe. Und wahrscheinlich auch dafür, dass er inzwischen mein Ex ist.
»Keine pro bono mehr«, protestierte ich.
Ich hatte bereits sechs oder sieben Fälle auf dem Tisch, deren Gerichtstermine feststanden, Fälle, bei denen nichts weiter rausspringen würde als so gut wie kein Geld, dafür aber jede Menge Arbeit.
»Lass mich doch erst einmal den Fall schildern«, bat Joe.
Sein nuscheliger Ton verriet mir, dass er an den Fingernägeln kaute. Das tat er immer, wenn er aufgeregt war. Ich hörte, wie er die Schublade seines Schreibtisches aufzog, um den abgebissenen Splitter hineinzuwerfen.
»Eines Tages wird Betty dein Geheimversteck finden«, sagte ich. Betty ist seine Sekretärin.
»Was meinst du?«
»Die Fingernägel.«
»Ich leere die Schublade einmal in der Woche.«
»Das bedeutet dann wohl, dass sich selbst die hartgesottensten Kriminellen noch ändern können.«
Ich hörte, wie er die Lade schloss. »Ich brauche deine Hilfe, Sally.« Wie ich es hasste, wenn er so war. Sofort stellten sich die Schuldgefühle wieder ein. Warum konnte ich ihn nicht einfach verachten, wie jede andere normale Ex das getan hätte? »Abgesehen davon, dass du mir damit einen Gefallen tun würdest, geht es um einen ziemlich interessanten Fall«, versuchte er mich zu überzeugen.
»Das letzte Mal, als ich einen deiner >interessanten< Fälle übernommen habe, musste ich mir Geld leihen, um meine Kanzlei vor der Pleite zu bewahren.«
Diesen Fall würde ich niemals vergessen: Joe hatte mich als rechtliche Vertreterin für einen neunjährigen Jungen in einen Sorgerechtsstreit berufen, der sich zwei Jahre hinzog und schließlich nach monatelangen Anhörungen und einer sechswöchigen Verhandlung damit endete, dass der Vater, der meine Rechnungen hätte bezahlen müssen, spurlos verschwand.
»Diesmal ist richtig viel Geld drin«, sagte Joe. »Ich werde den Streitparteien eine ordentliche Gebühr aufs Auge drücken, damit derjenige, der den Hund vertritt, gescheit bezahlt wird.«
»Den Hund ?«
»Genauer gesagt . Es ist ein Schnauzer, ein Zwergschnauzer.«
»Machst du Witze?«
Ich hörte, wie er einige Papiere auf dem Schreibtisch hin und her schob. »Bestimmt nicht.«
»Seit wann haben Hunde einen Anwalt?«
»Dieser Hund braucht einen. Ich werde Betty bitten, die Akte zu kopieren, damit du dich einlesen kannst.«
»Joe«, ich versuchte, möglichst viel Nachdruck in meine Stimme zu legen, »ich vertrete keine Hunde. Ich verstehe noch nicht mal, weshalb .«
»Wenn ich mich nicht irre, hast du im Laufe deiner Karriere schon viele windige Hunde vertreten. Sehr viele sogar.«
»Haha.«
»Und dieser spezielle Hund ist wirklich charmant.«
»Ich mag keine Hunde.«
»Ich hab hier sogar ein Foto von ihm . Sehr süß. Also . Kann ich mit dir rechnen?«
»Erklär mir erst, warum ein Schnauzer einen Anwalt braucht.«
»Weil der Hund den Fall blockiert und der Fall das Gericht. Es wundert mich wirklich, dass du noch nicht davon gehört hast«, sagte Joe. Seine Stimme wurde leiser. »Ich habe langsam das Gefühl . die Kontrolle zu verlieren.«
»Geht es dir gut?«
»Können wir heute zusammen zu Mittag essen?«, flehte er.
»Ich glaube nicht, dass Susan damit einverstanden wäre.« Susan ist Joes Frau.
»Wir könnten uns etwas in mein Büro liefern lassen.«
»Das ist keine gute Idee.«
»Wir sind seit achtzehn Jahren geschieden. Glaubst du wirklich, dass es irgendjemanden auch nur im Geringsten interessiert, wenn wir zusammen essen, um einen Fall zu besprechen?«
»Susan vielleicht.«
»Glaub mir, auch Susan nicht.« Hörte ich da einen Hauch Verbitterung in seiner Stimme, oder bildete ich mir das nur ein? »Ich frage Betty, ob sie uns etwas bestellt. Bist du noch Vegetarierin?«
»Ja.«
»Sag mir einfach, was du magst.«
»Gemüse. Käse. Bohnen. Kein Fleisch.«
»Wie wär's mit einem dieser griechischen Salate von Dino's?«
»Okay. Das Dressing bitte extra.«
»Ich finde es toll, dass du Vegetarierin bist.«
»Du warst doch derjenige, der es immer als alberne Angewohnheit bezeichnet hat.«
»Aber für den Hund ist es gut .«
»Wie bitte?«
»Ich meine, für deine Beziehung zu dem Hund.«
»Ich habe keine Beziehungen zu Hunden.«
»Da würde mir der eine oder andere einfallen .«
»Welchen Unterschied macht es für den Hund, ob ich Vegetarierin bin?«
»Es ist ein Zeichen deines Respekts vor Tieren«, erklärte Joe. »Ich mache um halb zwei Mittagspause. Kommst du vorbei?«
»Ich bereite mich gerade auf eine Verhandlung vor.«
»Bitte, Sally.«
Das letzte Mal, dass er das Wort »Bitte« so ausgesprochen hat, war an dem Tag, als ich ihn verlassen habe.
Mein Lieblingsprofessor an der Uni sagte immer, das Wichtigste bei einer Zusammenfassung der juristischen Fakten für das Gericht sei die Kürze. »Fassen Sie sich kurz, ohne das Wesentliche außer Acht zu lassen«, das waren seine Worte. Richter hätten keine Zeit für überflüssige Informationen, egal wie interessant sie uns auch erschienen. Niemand habe Lust, sich durch einen Sumpf von »Darums« und »Dennochs« und verworrener Syntax zu kämpfen, deshalb sollten wir uns klar und deutlich und vor allem verständlich ausdrücken. »Wenn Sie die wichtigsten Stationen Ihres Lebens in ungefähr dreißig Worten zusammenfassen müssten«, fragte uns der Professor, »wie würden sie lauten?«
Sarah Bright, geboren in Columbia, South Carolina.
Bachelor magna cum laude, Universität South Carolina
Doktor d. Rechtswissenschaft, Juristische Fakultät, Universität South Carolina
Heirat mit Joseph Henry Baynard, Scheidung nach fünf Jahren
Das stimmt alles so weit, nur ein kleines Detail fehlt: der Nachmittag, an dem Joseph Henry Baynard die junge Sarah Bright, auch bekannt als Sally, mit dem Vorwand in sein Apartment lockte, Hilfe beim Lernen für Verfassungsrecht zu brauchen. Nur führte eben dieses Verfassungsrecht, gemixt mit ein bisschen Gin Tonic und einer Brise Beatles aus dem Gettoblaster, dazu, dass Sally und Joe sich wenig später erst tanzend, dann lachend in Richtung Joes Sofa, einem fadenscheinigen Ding, über das er ein Batiktuch gebreitet hatte, bewegten, auf dem sie kurz darauf erschöpft zusammenbrachen, noch ein wenig mehr lachten, dann ein wenig mehr küssten, um schließlich einstimmig festzustellen, dass sich Letzteres erstaunlich gut anfühlte. Spielt dieser Nachmittag in der Kurzzusammenfassung meines Lebens nicht eine ebenso große Rolle wie mein Geburtsort, meine Universitätsabschlüsse oder meine Karriere?
Assistenzpflichtverteidigerin
Partnerin bei Baynard, Baker und Gibson, Charleston, S. C.
Leitende Pflichtverteidigerin, Charleston County
Selbstständige Rechtsanwältin
Und was ist mit dem Nachmittag auf der Damentoilette von Baynard, Baker und Gibson, der altehrwürdigen Familienkanzlei von Joes Vater, der sie wiederum von seinem Vater übernommen hatte, als ich zusammengesunken mit dem Kopf auf den Knien den Schmerz, der schon den ganzen Tag in meinem Unterleib gewütet hatte, nicht mehr ignorieren konnte? Ich war mir nicht einmal richtig sicher gewesen, schwanger zu sein, also hatte ich den ganzen Morgen mein Bestes getan, nicht weiter darüber nachzudenken. Aber die Fehlgeburt war unbestreitbar und damit eine ganze Menge anderer Dinge, die ich erfolgreich verdrängt hatte: mein Versagen in der Firma (»Du hast ja nicht einmal versucht, dich anzupassen«, hatte Joe mir vorgeworfen) und als Ehefrau (»Eigentlich hast du mich nie heiraten wollen, oder?«).
Erst heute verstehe ich langsam, was wirklich im Leben zählt. Es sind all die Dinge, die man nicht über sich in den Alumni News oder der Lokalzeitung liest: die Liebe, das Glück, die Freude und die Verzweiflung. Die Verzweiflung, die uns jeden Tag auffordert, gegen sie anzukämpfen, um nicht wahnsinnig zu werden. Wenn ich heute sterben würde, könnte man meinen Nachruf morgen wahrscheinlich im Post and Courier finden. Am Ende wäre man sicherlich beeindruckt, was ich alles erreicht habe. Doch niemand, der meinen kurzen Lebenslauf lesen würde, hätte auch nur die leiseste Ahnung, was für ein...
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