1. KAPITEL
Ein Peitschenknall, und zwölf Löwen hoben ihre Vordertatzen in die Luft. Ein zweiter, und sie sprangen von einem Hocker auf den nächsten. Geschmeidig und fließend, in perfekter Übereinstimmung. Nur mit der Stimme und einigen sparsamen Handzeichen hielt die Dompteuse die kräftigen goldenen Körper in Bewegung.
»Gut gemacht, Pandora.«
Kaum hörte sie ihren Namen, sprang die massige Löwin zu Boden und rollte sich auf die Seite. Ein Tier nach dem anderen folgte ihrem Beispiel, bis alle zwölf leise knurrend und schnaubend ausgestreckt in der Mitte der Manege lagen.
»Und … Kopf hoch!«
Die Tiere gehorchten, während die Dompteuse die Reihe abschritt. Dann warf sie die Dressurpeitsche beiseite und legte sich mit einer anmutigen Bewegung quer über die warmen Körper. Der Löwe in der Mitte, eine afrikanische Großkatze mit beeindruckender Mähne, ließ lautes Gebrüll hören und wurde dafür mit einem ausgiebigen Kraulen hinter den Ohren belohnt.
Die Dompteuse erhob sich, klatschte in die Hände, und alle Löwen standen auf. Dann, indem sie den Namen jedes einzelnen Tieres rief und mit einem schlichten Wink der Hand, schickte sie alle durch den Gittergang zurück in ihre Käfige.
Ein Löwe blieb zurück, kam auf die junge Frau zu und rieb die prächtige dunkle Mähne an ihrem Bein wie eine Hauskatze. Mit einer schnellen Handbewegung zog die Dompteuse eine Kette unter der Mähne hervor und schwang sich auf Merlins Rücken. So ritt sie eine Runde durch die Manege und auf den Hinterausgang zu, wo der Wagen mit den Käfigen stand.
»Also, Duffy?« Jolivette Wilder, von allen nur Jo genannt, schloss sorgsam die Käfigtür. Dann drehte sie sich um und fragte erwartungsvoll: »Was denkst du? Sind wir bereit, auf Tour zu gehen?«
Duffy war ein kleiner, rundlicher Mann mit schütterem braunen Haar und unzähligen Sommersprossen im Gesicht. Mit seinem offenen Lächeln und den fröhlichen blauen Augen wirkte er wie ein gealterter Chorknabe, doch sein Verstand war hellwach und messerscharf. Er war der beste Manager, den der Circus Colossus je gehabt hatte.
»Morgen geben wir in Ocala unsere Eröffnungsvorstellung. Also solltest du besser bereit sein«, erwiderte er mit sonorer Stimme und nahm den Zigarrenstummel aus dem linken Mundwinkel, um ihn in den rechten zu stecken.
Jo lächelte nur und machte einige Lockerungsübungen. »Meine Katzen sind mehr als bereit, Duffy. Es war ein langer Winter. Wir müssen alle wieder an die Arbeit.«
Duffy runzelte die Stirn. Er war nur wenige Zentimeter größer als die Löwenbändigerin, die ihn mit ihren großen mandelförmigen Augen unverwandt anschaute. Grün waren diese Augen, smaragdgrün, umrandet von dichten schwarzen Wimpern. Im Moment schauten diese Augen amüsiert, aber Duffy hatte auch schon einen ängstlichen und schrecklich verlorenen Ausdruck in ihnen gesehen.
Er steckte die Zigarre noch einmal in den anderen Mundwinkel und paffte, während Jo einem der Helfer Anweisungen gab.
Er musste an Steve Wilder denken. Jos Vater war der beste Dompteur weit und breit gewesen. Seine Tochter konnte genauso gut mit den Raubkatzen umgehen wie er, wenn nicht sogar besser. Dabei hatte sie das Aussehen ihrer Mutter geerbt – zierlich, der dunkle, leidenschaftliche Typ.
Jos Mutter war eine berühmte Trapezkünstlerin gewesen, eine zarte Frau mit großen grünen Augen und schwarzem glatten Haar, das ihr bis zur Taille fiel. Und ihre Tochter war ihr beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten.
Jos Brauen waren fein geschwungen, die Nase klein und gerade, hohe Wangenknochen, volle Lippen. Ihre Haut war von der Sonne Floridas leicht gebräunt und verlieh ihr ein exotisches Aussehen. Sie besaß eine Schönheit, die durch ihr enormes Selbstvertrauen und die lebhafte Art noch gesteigert wurde.
Jo hatte das Gespräch mit dem Tierhelfer beendet und hakte sich jetzt bei Duffy unter. Dieses Stirnrunzeln kannte sie. »Hat jemand gekündigt?«, fragte sie, während sie gemeinsam zu Duffys Bürowagen gingen.
»Nein.«
Nur selten antwortete Duffy so einsilbig. Doch da sie ihn seit Jahren kannte, hob sie nur eine Augenbraue und hielt ihre Zunge im Zaum.
Überall auf dem Gelände wurde geprobt. Vito, der Seiltänzer, gab seiner Darbietung den letzten Schliff auf einem Drahtseil, das zwischen zwei Bäume gespannt war. Die Mendalsons riefen sich Kommandos zu, während die Jonglierkeulen durch die Luft flogen. Die Dressurpferde wurden in ihre Ställe zurückgebracht. Jo erblickte eines der Stevenson-Mädchen, das auf Stelzen balancierte. Die Kleine war jetzt sechs, aber Jo erinnerte sich noch genau daran, wie sie zur Welt gekommen war.
In jenem Jahr durfte Jo zum ersten Mal allein im Löwenkäfig arbeiten. Sechzehn war sie damals gewesen und hatte noch ein ganzes Jahr warten müssen, bevor sie auch vor Publikum auftreten durfte.
Ein anderes Zuhause als den Zirkus hatte Jo nie gekannt. Sie war während der Winterpause geboren worden und im Frühjahr im Wagen der Eltern zum ersten Mal mit auf Tour gegangen – wie auch jedes darauffolgende Jahr. Von ihrem Vater hatte sie die Faszination und das Talent für die Arbeit mit den Großkatzen geerbt, von ihrer Mutter die Grazie und Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen.
Inzwischen war es fünfzehn Jahre her, dass sie die Eltern verloren hatte, doch das Erbe würde ihr immer bleiben. Als Kind hatte Jo mit Löwenbabys gespielt, war auf Elefanten geritten und hatte mit Schellen an den Füßen getanzt. Sie lebte in einer Welt der Fantasie, war ständig unterwegs, zog von einem Ort zum anderen.
Jo sah auf die Narzissen, die vor dem Büro des Colossus-Winterquartiers wuchsen, und lächelte. Sie selbst hatte sie gepflanzt, damals, als sie dreizehn und endlos verliebt in einen Artisten gewesen war.
Sie erinnerte sich auch gut an jenen Mann, der ihr damals Ratschläge für das Setzen der Zwiebeln und für gebrochene Herzen gegeben hatte. Als sie an Frank Prescott dachte, wurde ihr Lächeln traurig.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr bei uns ist«, murmelte sie und stieg mit Duffy in den Wagen.
Der Bürowagen war nur spärlich möbliert mit einem Schreibtisch, metallenen Aktenschränken und zwei abgenutzten Stühlen. Poster bedeckten die Wände, Poster, die das Wunderbare, das Einzigartige, das Unglaubliche versprachen – tanzende Elefanten, fliegende Menschen, Löwen, auf denen man reiten konnte. Akrobaten, Clowns, unbesiegbare Männer und gigantische Damen brachten die verzauberte Atmosphäre der Zirkusarena in den engen Büroraum.
Als Jo zu der schmalen Tür schaute, folgte Duffy ihrem Blick. »Ich erwarte eigentlich, ihn jeden Moment zu sehen, wie er durch die Tür gestürmt kommt, voller Begeisterung für irgendeine neue, verrückte Idee.«
Duffy machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, die sein ganzer Stolz war. »Wirklich?«
Mit einem Seufzer ließ Jo sich rittlings auf einem der Stühle nieder, faltete die Arme auf der Rücklehne und stützte das Kinn darauf ab. »Er wird uns allen fehlen. Ohne ihn wird es nie mehr das Gleiche sein.« Plötzlich schaute sie mit wütendem Blick auf. »Er war doch noch kein alter Mann, Duffy. Ein Herzinfarkt ist etwas für alte Männer.« Düster starrte sie vor sich hin. Frank Prescotts Tod war so ungerecht.
Frank war Anfang fünfzig gewesen, und immer hatte ihm ein Lachen auf den Lippen gelegen. Ein Mann von unverfälschter Herzlichkeit, endloser Güte und Wärme. Jo hatte ihn von ganzem Herzen geliebt und ihm bedingungslos vertraut. Die Trauer um ihn war nahezu schlimmer als die um ihre Eltern. Solange sie denken konnte, war Frank das Zentrum ihres Lebens gewesen.
»Es ist jetzt fast sechs Monate her.« Duffys Stimme klang rau, als er ihr einen Becher Kaffee reichte.
»Ich weiß.« Sie nahm den Becher entgegen und hielt ihn mit beiden Händen, um sich zu wärmen. Der frühe Märzmorgen war noch kühl. Resolut schüttelte sie die düstere Stimmung ab. Frank würde nicht wollen, dass man sich seinetwegen grämte.
Jo starrte in den Kaffee und nippte vorsichtig. Wie erwartet schmeckte er scheußlich. »Stimmt es, dass wir die gleiche Route nehmen wie letztes Jahr? Dreizehn Staaten.« Lächelnd beobachtete Jo, wie Duffy zusammenzuckte und hastig seinen Kaffee hinunterstürzte. »Du bist doch nicht abergläubisch, oder?« Dabei wusste sie, dass er immer ein vierblättriges Kleeblatt in seiner Brieftasche trug.
»Pah!«, schnaubte er verächtlich, lief aber unter den Sommersprossen vor Verlegenheit rot an. Er stellte seinen Becher ab und ging um den Schreibtisch herum, um sich zu setzen. Als er die Hände über dem zerfledderten Kalender verschränkte, wusste Jo, dass er jetzt zum Geschäftlichen kommen würde. »Morgen um sechs sollten wir in Ocala ankommen«, setzte er an, und pflichtschuldig nickte Jo. »Bis neun müssen die Zelte aufgebaut sein.«
»Die Parade ist dann um zehn vorbei, und um zwei kann die Matinee-Vorstellung beginnen«, ergänzte sie lächelnd. »Duffy, ich soll doch hoffentlich nicht wieder während der Parade eine kleine Dressurnummer vorführen, oder?«
»Ich denke, wir werden gutes Publikum haben«, wich er geschickt einer Antwort aus. »Bonzo sagt, wir werden auch gutes Wetter bekommen.«
»Bonzo sollte besser seine Stürze und das Stolpern üben.« Argwöhnisch beobachtete sie, wie Duffy auf seiner erkalteten Zigarre kaute. »Also los, sag schon, was anliegt.«
»In Ocala wird jemand zu uns stoßen, zumindest für eine gewisse Zeit.« Er schürzte die Lippen, während sein Blick auf...