1. KAPITEL
Der Kater lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen und die Vorderpfoten über der weißen Brust gekreuzt. Das orangefarbene Fell schimmerte in den letzten Strahlen der Abendsonne. Der Schlüssel in der Wohnungstür ließ ihn zwar aufhorchen, aber das Geräusch brachte ihn nicht aus der Ruhe. Er öffnete nur träge die Lider, als er die Stimme seines Frauchens vernahm, schloss sie aber gleich wieder, als er feststellte, dass sie nicht allein war. Sie hatte wieder diesen Mann mitgebracht, für den er keine sonderlich große Sympathie hegte. Also döste er lieber weiter.
»Aber Ruth! Es ist noch nicht mal acht Uhr. Draußen ist es sogar noch hell.«
Ruth legte den Schlüssel auf das zierliche Queen-Anne-Tischchen neben der Eingangstür und drehte sich lächelnd um. »Donald, ich sagte doch schon, dass ich heute früh zu Bett gehen will. Das Dinner war wirklich nett. Ich bin dir auch dankbar, dass du mich überredet hast, doch noch auszugehen.«
»Nun, in diesem Fall .« Mit einer geschickten Bewegung zog er sie in seine Arme. »Lass mich dich auch dazu überreden, den Abend noch ein wenig zu verlängern.«
Ruth ließ sich den Kuss gefallen. Sie genoss auch die leichte Wärme, die prickelnd über ihre Haut lief, doch als er sie enger an sich drücken wollte, entzog sie sich ihm. »Donald.« Ihr Lächeln war unverändert heiter und leicht, wie vor dem Kuss. »Du solltest jetzt wirklich gehen.«
»Nur noch ein letzter Drink vor dem Schlafengehen«, murmelte er und küsste sie erneut, leicht, lockend.
»Nicht heute Abend.« Entschieden machte sie sich aus seinen Armen frei. »Ich muss morgen früh zum Training, Donald. Und den ganzen Tag habe ich Proben, und dann findet morgen auch noch die Anprobe statt.«
Er drückte einen flüchtigen Kuss auf ihre Stirn. »Weißt du, es wäre einfacher für mich, wenn es da einen anderen gäbe, aber diese Leidenschaft fürs Tanzen .« Er zuckte resigniert die Schultern, bevor er sich zur Tür wandte. Verlor er etwa sein Charisma?
Ruth Bannion war die erste Frau seit über zehn Jahren, die ihn so konstant und vor allem so erfolgreich auf Abstand hielt. Er fragte sich, warum er dennoch immer wieder zu ihr zurückkam. Jetzt öffnete sie ihm die Tür und komplimentierte ihn mehr oder weniger hinaus, wenn auch mit einem Lächeln. Doch ein letzter Blick, bevor die Tür ins Schloss fiel, beantwortete seine Frage: Sie war mehr als nur schön. Sie war einzigartig.
Noch immer ein kleines Lächeln auf den Lippen, verschloss Ruth die Tür und legte die Sicherheitskette vor. Sie genoss die Gesellschaft von Donald Keyser. Er war ein gut aussehender Mann, groß und dunkel. Sein Witz war geistreich, sein Humor trocken, und zudem besaß er einen erlesenen Geschmack. Sie bewunderte ihn für sein Talent als Designer, trug sogar einige seiner Kreationen, und sie konnte sich in seiner Gegenwart entspannen - wenn sie die Zeit dafür fand. Natürlich war ihr klar, dass Donald eine intimere Beziehung mit ihr vorgezogen hätte.
Die Entscheidung dagegen war Ruth leichtgefallen. Sicher, sie mochte Donald. Aber mehr auch nicht. Er hatte schon bewiesen, dass er sie oft zum Lachen bringen konnte, aber sie bezweifelte ernsthaft, dass er sie auch zum Weinen bringen könnte.
Sie drehte sich um; ihre Wohnung lag in der Dämmerung vor ihr. Plötzlich verspürte Ruth einen Stich des Bedauerns. Und dann überkam sie ein Gefühl von Einsamkeit, jäh und völlig unerwartet.
Sie warf einen Blick in den goldgerahmten viereckigen Spiegel, der in der Diele hing. Er war eines der ersten Stücke, die sie für diese Wohnung gekauft hatte. Das Spiegelglas war alt, und sie hatte einen lächerlich hohen Preis bezahlt, obwohl die obere rechte Ecke schwarz angelaufen war. Es hatte ihr sehr viel bedeutet, den Spiegel dort an die Wand zu hängen - in der eigenen Wohnung, in ihrem eigenen Zuhause. Nachdenklich betrachtete sie sich im schwindenden Licht.
Heute Abend hatte sie ihr Haar offen gelassen, es floss ihr über die Schultern und hing bis über ihre Ellbogen hinunter. Mit einem ungeduldigen Kopfrucken schüttelte sie es zurück. Dicht und seidig schwarz fiel es auf ihren Rücken. Ihr Gesicht war schmal und grazil wie ihre Figur, aber es war durchaus nicht ebenmäßig. Dazu war ihr Mund zu voll, ihre Nase zu klein und ihr Kinn ein wenig spitz. Die braunen Augen unter den dunklen Brauen erinnerten an Katzenaugen. Ein exotisches Gesicht, so hatte man es ihr schon oft gesagt. Doch sie selbst sah keine Schönheit darin. Sicher, mit dem richtigen Make-up und im entsprechenden Licht sah sie faszinierend aus, das wusste sie. Aber das war etwas anderes - eine Illusion, eine Rolle, die mit Ruth Bannion nichts zu tun hatte.
Mit einem Seufzer wandte Ruth sich vom Spiegel ab und ging zu dem mit Plüsch bezogenen viktorianischen Sofa. Jetzt, da sie allein war, hüpfte Nijinsky von der Fensterbank, reckte sich, gähnte ausgiebig und kam dann auf leisen Pfoten angetappt, um sich auf Ruths Schoß zusammenzurollen. Und während sie ihrem Kater abwesend die Ohren kraulte, fragte sie sich im Stillen, wer Ruth Bannion wirklich war.
Vor fünf Jahren war sie eine sehr unerfahrene, aber sehr ehrgeizige Studentin gewesen, die eine neue Phase ihres Lebens in New York begonnen hatte. Dank Lindsay, dachte sie mit einem Lächeln. Lindsay Dunne, Lehrerin, Vertraute, Idol - die beste klassische Ballerina, die Ruth je gesehen hatte. Lindsay hatte Onkel Seth überredet, Ruth nach New York kommen zu lassen. Wenn Ruth jetzt an die beiden dachte, erfüllte sie ein warmes Gefühl. Inzwischen waren sie verheiratet und lebten mit ihren Kindern in Connecticut. Jedes Mal, wenn Ruth sie dort besuchte, fühlte sie die Liebe und das Glück noch wochenlang danach. Nie hatte sie zwei Menschen gesehen, die besser zueinander passten oder verliebter ineinander waren. Nun, außer vielleicht ihre Eltern.
Selbst nach sechs Jahren schlug eine Welle der Trauer über ihr zusammen. Den tragischen Verlust dieser intelligenten, lebenslustigen und herzlichen Menschen hatte sie nie wirklich verwunden. Ihr Tod war der Auslöser gewesen, der sie dahin gebracht hatte, wo sie heute war.
Seth Bannion war ihr Vormund geworden. Der Umzug in die kleine Küstenstadt in Connecticut hatte sie beide mit Lindsay zusammengeführt. Lindsay war es gewesen, die Seth klargemacht hatte, dass Ruth besseres und intensiveres Training brauchte. Ruth wusste, wie schwer es für Seth gewesen war, sie nach New York gehen zu lassen; sie war schließlich erst siebzehn gewesen. Seth hatte Bedenken gehabt, Ruth in ein Leben ziehen zu lassen, von dem er wusste, welche Härten und Anforderungen es bereithalten würde. Doch die Liebe für seine Nichte, die ihn zunächst hatte zögern lassen, war es dann auch gewesen, die ihn schließlich hatte zustimmen lassen. Das war der Wendepunkt gewesen. Er hatte Ruths Leben für immer verändert.
Oder vielleicht, überlegte sie jetzt, war es auch der Tag gewesen, an dem sie zum ersten Mal Lindsays Ballettschule betreten hatte. An jenem Tag hatte sie Davidov vorgetanzt.
Wie schrecklich aufgeregt sie damals gewesen war! Sie stand vor einem Mann, der als der beste Tänzer der letzten zehn Jahre gefeiert wurde. Ein unerreichter Meister, eine lebende Legende! Nikolai Davidov. Er tanzte nur mit den besten Ballerinas, einschließlich Lindsay Dunne. Eigentlich war er nach Connecticut gekommen, um Lindsay zu überzeugen, wieder nach New York zurückzukehren. Sie sollte die Hauptrolle in dem Ballett tanzen, das er geschrieben hatte. Ruth war allein von seiner Anwesenheit völlig eingeschüchtert gewesen; die Ehrfurcht hatte sie fast erstarren lassen. Und dann hatte er sie auch noch aufgefordert, für ihn zu tanzen. Aber er war charmant gewesen. Und wer könnte charmanter sein als Nick, wenn er es darauf anlegte, dachte sie und legte lächelnd den Kopf zurück. Also hatte sie angefangen zu tanzen und sich in der Musik und der Bewegung verloren. Und dann hatte er diese simplen und doch weltbewegenden Worte ausgesprochen.
Wenn du nach New York kommst, dann komm zu mir.
Ruth war damals sehr jung gewesen. Der Name Nikolai Davidov kam nur als ehrerbietiges Flüstern über ihre Lippen. Hätte er von ihr verlangt, barfuß den Broadway hinunterzutanzen, sie hätte es anstandslos getan.
Sie arbeitete hart an sich, um seinen Ansprüchen zu genügen. Ihr grauste vor seinem aufbrausenden Temperament; unter der eisigen Distanz, die seine Missbilligung nach sich zog, krümmte sie sich jedes Mal. Doch Nick trieb sie an, unablässig, erbarmungslos. In mancher Nacht lag sie zusammengerollt im Bett und war noch zu müde für Tränen. Aber dann lächelte er sie an oder warf ihr ein lässiges Lob hin, und der Schmerz verschwand.
Ruth hatte mit ihm getanzt, mit ihm gestritten, mit ihm gelacht. Und noch immer war da etwas an ihm, an seinem Wesen, aus dem sie nicht klug wurde.
Vielleicht ist es das, was Frauen so fasziniert, dachte sie. Diese geheimnisvolle Aura. Sein fremdländischer Akzent. Seine Verschlossenheit, sobald es um seine Vergangenheit ging. Die Schwärmerei für ihn hatte sie schon vor Jahren überwunden. Wenn sie heute daran dachte, wie verliebt sie in ihn gewesen war, musste sie lächeln. Er schien es nicht einmal bemerkt zu haben. Sie war gerade achtzehn gewesen, er fast dreißig. Ständig waren schöne Frauen um ihn herumgeschwirrt. Das tun sie heute noch, berichtigte sie sich in Gedanken.
Mit einem leicht schiefen Lächeln stand sie auf und reckte sich. Der Kater, verjagt von ihrem Schoß, stolzierte eingeschnappt davon.
Mein Herz ist ungebrochen und sicher,...