1. KAPITEL
Der Pine View Inn lag im nördlichen Teil des Staates Nord-Virginia, in einem einsamen Tal der Blue-Ridge-Berge versteckt. Wenn man die Hauptstraße verlassen hatte, fuhr man auf einem gewundenen Schotterweg, der schließlich auf einer Furt durch einen Fluss führte. Die Furt war gerade breit genug für einen Wagen. Kurz hinter ihr befand sich der Gasthof.
Es war ein verwinkeltes, behagliches Gebäude, drei Stockwerke hoch, aus hellroten Backsteinen gebaut. Die Vorderfront war von schmalen Fenstern durchbrochen, neben denen sich weiße Fensterläden öffneten. Das geschwungene Dach hatte schon seit langer Zeit eine sattgrüne Farbe angenommen. Drei Schornsteine ragten auf. Eine breite, weiß gestrichene Holzveranda umgab das ganze Haus. Auf allen vier Seiten öffneten sich Türen zu ihr.
Die Rasenflächen ringsum waren gepflegt, aber nicht sehr ausgedehnt. Sie stießen bald an die Bäume und die Felsen der freien Landschaft. Es sah so aus, als habe die Natur selbst beschlossen, bis hierher und nicht weiter dürfe sich der Gasthof mit seinen Anlagen erstrecken.
Das Haus und die Berge ringsum boten einen bezaubernden Anblick, ein Bild vollendeter Harmonie.
Während Andrea ihren Wagen auf die Parkfläche neben dem Haus lenkte, zählte sie fünf Autos, die dort standen, einschließlich des betagten Chevys ihrer Tante. Obwohl die Saison erst in einigen Wochen begann, gab es bereits Gäste.
Die Aprilluft war frisch und kühl. Die Narzissen hatten sich noch nicht geöffnet, die Krokusblüte hingegen hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten. Einige wenige Azaleenknospen zeigten einen ersten Hauch von Farbe. Alles schien auf den Beginn des Frühlings zu warten.
Die Berge hatten ihr braunes Winterkleid noch nicht abgelegt, doch auch an ihren Hängen zeigten sich hier und dort erste grüne Flecken. Bald würden das düstere Grau und Braun verschwunden sein.
Andrea hängte die Kameratasche über die eine Schulter und die Handtasche über die andere. Die Kamera war am wichtigsten. Außerdem musste sie zwei große Koffer aus dem Wagen ziehen und ins Haus bringen. Nach kurzem Kampf mit ihrem Gepäck gelang es Andrea, alles auf einmal zu tragen. Langsam ging sie die Stufen hinauf. Die Haustür war, wie immer, unverschlossen.
Kein Mensch war zu sehen. Das geräumige Wohnzimmer, das als Aufenthaltsraum diente, war leer. Allerdings brannte im Kamin ein Feuer, das behagliche Wärme ausstrahlte.
Andrea stellte die Koffer ab und sah sich um. Nichts hatte sich verändert. Auf dem Fußboden lagen Flickenteppiche. Handgeknüpfte Garnteppiche waren über den beiden Sofas ausgebreitet. Vor den Fenstern hingen Chintzgardinen. Auf dem Kaminsitz stand immer noch die Sammlung von Hummelfiguren.
Bezeichnend für Andreas Tante war es, dass das Zimmer zwar sauber war, aber keineswegs aufgeräumt wirkte. Hier und dort lag eine Illustrierte, der Nähkorb schien überzufließen. Die Kissen auf der Fensterbank waren in einer Ecke gehäuft und dienten offensichtlich mehr der Bequemlichkeit als der Zierde.
Alles wirkte freundlich und gemütlich und hatte einen versponnenen Charme. Lächelnd sagte sich Andrea, dass das Zimmer in vollkommener Weise zu ihrer Tante passte.
Andrea war rundum zufrieden. Es war ein beruhigendes Gefühl, dass sich nichts verändert hatte.
Mit einer raschen Bewegung strich sich Andrea durch das Haar, das ihr bis zur Taille reichte. Es war von der langen Fahrt bei geöffnetem Fenster zerzaust. Einen Moment überlegte sie, ob sie es bürsten sollte. Doch das vergaß sie sofort, als sie draußen auf dem Flur Schritte hörte.
»Oh, Andrea, da bist du ja.« Es war typisch: Ihre Tante begrüßte sie so, als sei sie lediglich für eine Stunde im Supermarkt gewesen und nicht ein Jahr lang in New York. »Fein, dass du vor dem Abendessen gekommen bist. Es gibt Schmorbraten, dein Lieblingsgericht.«
Andrea brachte es nicht übers Herz, ihre Tante daran zu erinnern, dass Schmorbraten das Lieblingsgericht ihres Bruders Paul war. Rasch trat sie auf die alte Dame zu, umarmte sie und küsste sie auf die Wange. »Tante Tabby, wie schön, dich wiederzusehen.« Der vertraute Duft von Lavendel ging von Tante Tabby aus.
Tabby war in dieser Gegend ein beliebter Name für Katzen. Doch Andreas Tante erinnerte in keiner Weise an diese eleganten Tiere. Katzen gelten als Snobs, die den Rest der Welt nur mit Herablassung dulden. Sie sind flink, beweglich und geschickt. Tante Tabby hingegen war für ihre gewundenen, manchmal geradezu verworrenen Gedankengänge bekannt. In Gesprächen war sie sprunghaft. Sie war ein durch und durch lieber und vertrauensvoller Mensch. Und gerade wegen dieser Charakterzüge liebte Andrea sie.
Sie schob ihre Tante ein wenig von sich fort und betrachtete sie genau. »Du siehst wunderbar aus.«
Das war keineswegs übertrieben. Tante Tabbys Haar hatte dieselbe kastanienrote Farbe wie das ihrer Nichte, war aber an einigen Stellen bereits grau. Das stand ihr sehr gut. Sie trug das Haar kurz, Locken umrahmten das zierliche runde Gesicht. Zierlich – das war das richtige Wort, um Tante Tabby zu beschreiben. Alles an ihr war zierlich, Mund, Nase und Ohren, sogar Hände und Füße.
Tante Tabbys Augenfarbe war ein verwaschenes Blau. Obwohl Tante Tabby bereits Ende fünfzig war, hatte sie noch keine Falten, und ihre Haut war glatt wie die eines jungen Mädchens. Ihre Figur war angenehm rund und weich. Andrea überragte sie um Kopfeslänge und kam sich neben ihr geradezu dünn vor.
Andrea umarmte ihre Tante noch einmal und küsste sie auf die andere Wange. »Einfach wunderbar siehst du aus.«
Tante Tabby lächelte. »Was für ein hübsches Mädchen du bist. Ich wusste immer, dass du es werden würdest. Aber du bist schrecklich mager.« Sie tätschelte Andreas Wange und überlegte dabei, wie viele Kalorien wohl in dem Schmorbraten seien.
Andrea dachte flüchtig an die zehn Pfund, die sie zugenommen hatte, nachdem sie das Rauchen aufgegeben hatte. Inzwischen hatte sie sie zum größten Teil wieder verloren.
»Nelson war immer mager.« Tante Tabby meinte ihren Bruder, Andreas Vater.
»Das ist er immer noch.« Andrea stellte ihre Kameratasche auf einen Tisch. Mit einem Augenzwinkern fuhr sie fort: »Mama droht ihm dauernd mit einer Scheidungsklage.«
Tante Tabby schüttelte missbilligend den Kopf. »Nach so vielen Ehejahren wäre das keine gute Idee.«
Andrea merkte, dass ihr Scherz nicht verstanden worden war, und nickte nur.
»Meine Liebe, du bekommst wieder das Zimmer, das du besonders magst. Vom Fenster aus kannst du immer noch den See sehen. Allerdings, wenn sich erst die Blätter entfaltet haben … erinnerst du dich noch, wie du als kleines Mädchen hineingefallen bist? Nelson musste dich herausfischen.«
»Das war Will, nicht ich«, verbesserte Andrea ihre Tante. Sie konnte sich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem ihr jüngerer Bruder in den See gestürzt war.
»So?« Tante Tabby schien für einen Moment etwas verwirrt, dann lächelte sie entwaffnend. »Er hat schnell schwimmen gelernt, nicht wahr? Jetzt ist er ein so großer junger Mann. Das hat mich immer erstaunt. Zurzeit sind hier keine Kinder.« Tante Tabby sprang von Satz zu Satz und folgte dabei ihrer eigenen Logik.
»Draußen habe ich mehrere Autos gesehen. Hast du viele Gäste?« Andrea reckte sich und begann, in dem Zimmer umherzugehen. Es roch nach Sandelholz und Zitronenöl.
»Ein Paar und fünf Einzelgäste«, berichtete Tante Tabby. »Einer ist ein Franzose und mag meine Apfeltorte ganz besonders. Ich muss jetzt gehen und nach meinem Blaubeerauflauf sehen«, verkündete sie plötzlich. »Nancy versteht es toll, einen Schmorbraten zuzubereiten, aber backen kann sie nicht. George liegt mit einer Grippe danieder.«
Tante Tabby war bereits auf dem Weg zur Tür, als Andrea auf die letzte Information einging. »Das tut mir leid«, erklärte sie mit aufrichtigem Bedauern.
»Ich bin mit Hilfen im Moment ziemlich knapp, Liebe. Vielleicht kommst du mit deinen Koffern allein zurecht. Oder du wartest, bis einer der Herren hereinkommt.«
George – Andrea erinnerte sich an ihn. Er war Gärtner, Page und bediente an der Bar.
»Mach dir keine Sorgen, Tante Tabby. Ich komme zurecht.«
»Ach, übrigens, Andrea.« Tante Tabby drehte sich noch einmal um. Andrea wusste jedoch, dass ihre Gedanken jetzt schon bei dem Auflauf waren. »Ich habe eine kleine Überraschung für dich – oh, da sehe ich gerade Miss Bond hereinkommen.« Es war typisch, wie Tante Tabby sich selbst unterbrach. »Sie wird dir Gesellschaft leisten. Abendessen gibt es zur gewohnten Zeit. Komm nicht zu spät.«
Tante Tabby war offensichtlich erleichtert, dass ihre Nichte versorgt war und sie sich nun um ihren Auflauf kümmern konnte. Sie eilte davon. Das fröhliche Klappern ihrer Absätze auf dem Holzfußboden war noch kurze Zeit zu hören.
Andrea drehte sich zu der ihr angekündigten Gesellschaft um und war völlig verblüfft.
Es war Julia Bond. Andrea erkannte sie sofort. Keine andere Frau war von solch strahlender blonder Schönheit. Wie oft hatte Andrea schon in einem ausverkauften Kino gesessen und Julias Charme und Talent auf der Leinwand bewundert. Jetzt, als sie wirklich und leibhaftig auf sie zukam, war sie nicht weniger schön, sondern wirkte umso lebendiger.
Julia Bond war klein, wohlgeformt bis gerade zur Grenze des Üppigen und das großartige Beispiel einer Frau in voller Blüte. Sie trug eine cremefarbene Leinenhose und einen Kaschmirpullover in lebhaftem Blau, der...