1. KAPITEL
Die Ankunft auf dem Honolulu International Airport entsprach ganz den Beschreibungen aus einem Reisekatalog. Laine wäre es lieber gewesen, mit der Menge zu verschmelzen, aber es schien, dass jeder, der in der Touristenklasse reiste, auch als solcher abgestempelt wurde. Hübsche Mädchen in farbenfrohen Sarongs, mit bronzener Haut und strahlend weißem Lächeln verteilten leis als Willkommensgruß an die Reisenden.
Laine ließ sich den bunten Blütenkranz um den Hals legen und nahm den Begrüßungskuss auf die Wange geduldig hin, bevor sie sich weiter einen Weg durch die Menschenmenge bahnte und nach einem Informationsschalter Ausschau hielt. In dem Gedränge blieb sie am Koffergurt eines Mitreisenden hängen. Das grelle Hemd mit dem üppigen Blumenmuster und die beiden Kameras, die zusammen mit dem lei um seinen Hals hingen, ließen keine Zweifel aufkommen, dass dieser Mann fest entschlossen war, seinen Urlaub hier zu genießen. Unter anderen Umständen hätte sein Aufzug Laine ein Lächeln entlockt, aber die Anspannung, unter der sie stand, verhinderte jeden Anflug von Humor. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren betrat sie amerikanischen Boden. Doch das schwelgerisch grüne Land mit den imposanten Klippen und Stränden, die sie beim Landeanflug erblickt hatte, hatte keineswegs das Gefühl einer Heimkehr in ihr ausgelöst.
Das Amerika, an das Laine sich erinnerte, bestand nur aus einzelnen Bildern, Szenen aus der Perspektive eines siebenjährigen Kindes. Amerika, das war eine knorrige alte Ulme vor dem Fenster ihres Kinderzimmers. Eine endlose grüne Wiese, gesprenkelt mit den goldenen Tupfen der Butterblumen, ein Briefkasten am Ende einer gewundenen Auffahrt. Aber vor allem verkörperte der Mann Amerika, der sie mit seinen Erzählungen mitgenommen hatte zu Dschungeln und Wüsten und einsamen Inseln.
Hier dagegen wuchsen Orchideen statt Margeriten. Und die anmutigen Palmen und ausladenden Farne waren Laine ebenso fremd wie der Vater, den zu finden sie um die halbe Welt gereist war. Es schien ein ganzes Menschenleben her zu sein, seit die Scheidung ihrer Eltern sie ihrer Wurzeln beraubt hatte.
Das ungute Gefühl, dass die Adresse, die sie in den Papieren ihrer Mutter gefunden hatte, ins Nichts führen würde, nagte an ihr. An dem verknitterten kleinen Zettel ließ sich nicht ausmachen, von wann diese Adresse stammte. Sie wusste nicht, ob Captain James Simmons überhaupt noch auf Kauai lebte. Außer der Anschrift hatte es keine weiteren Hinweise gegeben, keine Briefe, keine Postkarten, nichts, das darauf schließen lassen würde, dass diese Adresse überhaupt noch Gültigkeit hatte. Das Praktischste wäre gewesen, ihrem Vater zu schreiben, und Laine hatte eine ganze Woche lang mit sich gekämpft. Letztendlich war ihre Entscheidung für ein persönliches Treffen gefallen. Ihr gesamtes Erspartes würde gerade mal für eine Woche Kost und Logis ausreichen, und auch wenn sie wusste, dass diese Reise unvernünftig war – wider besseres Wissen war sie losgeflogen. Noch etwas anderes mischte sich in ihre Bedenken: die Angst vor der Zurückweisung, die am Ende dieser Reise stehen mochte.
Was anderes erwartest du denn? fragte sie sich. Warum sollte der Mann, der sie als Kind zurückgelassen hatte, sich dafür interessieren, was für eine Frau sie geworden war?
Sie lockerte die Finger, die sich um den Henkel ihrer Handtasche verkrampft hatten, und schwor sich zu akzeptieren, was immer sie erwarten mochte. Laine hatte schon vor langer Zeit gelernt, das hinzunehmen, was das Leben ihr bot. Und sie hatte gelernt, ihre Gefühle eisern unter Kontrolle zu halten.
Abrupt setzte sie den weißen Sonnenhut auf die flachsblonden Locken und hob das Kinn. Mit einer Anmut, die ihr nicht bewusst war, ging sie durch die Menge. Niemand hätte hinter dieser würdevollen Haltung ihre Unsicherheit ahnen können. Sie wirkte elegant und souverän im eisblauen Reisekostüm, das sie geerbt hatte und das ihrer schlanken Figur so viel mehr schmeichelte als den üppigen Kurven ihrer Mutter.
Die junge Frau am Informationsschalter war in ein angeregtes Gespräch mit einem Mann vertieft. Laine stand etwas abseits und betrachtete abwesend die kleine Szene. Der Mann war geradezu einschüchternd groß. Ihre Schülerinnen hätten ihn sofort séduisant genannt, hinreißend. Schwarze Locken bildeten den reizvoll unordentlichen Rahmen für ein markantes Gesicht, und die tief gebräunte Haut wies ihn als jemanden aus, der die hawaiische Sonne gewöhnt war. Sein Profil strahlte etwas Verwegenes aus, eine elementare Sinnlichkeit, die Laine zwar erkannte, aber nicht genauer bestimmen konnte. Vielleicht lag es daran, dass seine Nase offensichtlich einmal gebrochen worden war, doch anstatt das anziehende Profil zu zerstören, bereicherte diese Asymmetrie die Ausstrahlung nur. Er war leger gekleidet, in ausgewaschenen Jeans und mit einem Jeanshemd, das die breite Brust und sehnigen Arme noch betonte.
Leicht irritiert bemerkte Laine, wie leicht es ihm fiel, charmant zu wirken, die Lässigkeit, mit der er am Schalter lehnte, das selbstsichere Lächeln, das um seine Lippen spielte. Ich kenne diese Art von Männern, schoss es ihr missbilligend durch den Kopf. Das sind die gleichen, die auch um Vanessa herumschwirrten, wie die Geier um Aas. Und als nur noch ein Schatten an die einstige Schönheit ihrer Mutter erinnerte, war der gierige Schwarm davongestoben, um sich nach jüngerer Beute umzusehen. In diesem Augenblick verspürte Laine tiefe Dankbarkeit, dass ihr Kontakt zum männlichen Geschlecht bisher sehr eingeschränkt gewesen war.
Er drehte sich um und bemerkte Laine. Mit einer hochgezogenen Augenbraue erwiderte er ihren Blick fragend. Unsinnigerweise war sie wütend auf ihn, deshalb wandte sie die Augen nicht ab.
Die schlichte Eleganz des Kostüms betonte die Anmut ihrer jugendlichen Figur. Der Hut beschattete ein feines, fast aristokratisch geschnittenes Gesicht mit ernstem Mund und Augen, die an das Blau des Morgenhimmels denken ließen. Die Wimpern waren so dicht und lang, dass er an deren Echtheit zweifelte. Er ließ sich von der äußeren Erscheinung blenden und schätzte sie als kühle, distanzierte Person ein.
Träge und bewusst unverschämt lächelte er. Laine hielt dem Blick immer noch stand und schaffte es tatsächlich, nicht zu erröten. Die Frau hinter dem Schalter, die bemerkt hatte, dass die Aufmerksamkeit ihres Gesprächspartners nicht mehr ihr galt, unterdrückte den Ärger und wandte sich dienstbeflissen an den nächsten Kunden.
»Kann ich Ihnen helfen?«
Den großen Mann ignorierend, trat Laine an den Schalter. »Ja, bitte. Ich muss nach Kauai. Können Sie eine Transportmöglichkeit arrangieren?« Die Andeutung eines französischen Akzents schwang mit, als sie sprach.
»Natürlich, gern. Ein Charterflug nach Kauai geht in …«, sie sah auf die Uhr und wandte sich wieder lächelnd an Laine, »… zwei Stunden.«
»Ich fliege jetzt gleich ab.«
Laine warf einen überraschten Blick auf den Mann neben sich. Sie stellte fest, dass seine Augen grün waren, grün wie chinesische Jade.
»Sie sollten nicht länger als nötig auf dem Flughafen herumhängen.« Sein träges Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. »Außerdem ist meine kleine Sportmaschine weder so überfüllt noch so teuer wie die Chartermaschine.«
Laines arrogant hochgezogene Augenbraue und der abschätzige Blick hatten vorher ihre Wirkung erzielt, jetzt nicht mehr. »Sie verfügen über ein Flugzeug?«, fragte sie kühl.
»Stimmt genau, ich habe ein Flugzeug.« Er hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, und selbst in dieser lässigen Haltung überragte er Laine immer noch um Haupteslänge. »Außerdem kann ich mal eine Abwechslung gebrauchen, anstatt immer nur diese Touristen zu transportieren, die von Insel zu Insel hüpfen.«
»Dillon …«, begann die junge Frau hinter dem Schalter, doch er unterbrach sie mit einem charmanten Lächeln.
»Rose hier kann das bestätigen. Ich fliege für die ›Canyon Airlines‹ auf Kauai.« Er lächelte Rose gewinnend an.
»Dillon, ich meine, Mr O’Brian ist ein sehr guter Pilot.« Rose räusperte sich und warf ihm einen viel sagenden Blick zu. »Wenn Sie nicht warten möchten, so kann ich Ihnen versichern, dass Sie einen angenehmen Flug mit ihm haben werden.«
Der Meinung war Laine nun ganz und gar nicht. Sein breites Lächeln und seine amüsiert funkelnden Augen ließen sie viel eher annehmen, dass der Flug alles andere als angenehm sein würde. Aber ihr Budget war nicht groß, und sie musste zusehen, dass sie das Wenige, was sie hatte, zusammenhielt.
»Nun gut, Mr O’Brian, ich werde Ihre Dienste in Anspruch nehmen.« Er hielt ihr die flach ausgestreckte Hand entgegen, und Laine sah kurz darauf hinunter, bevor sie, erbost über seine Unverschämtheit, den Blick wieder zu seinem Gesicht hob. »Sobald Sie mir Ihren üblichen Preis genannt haben, Mr O’Brian, werde ich nach der Landung für den Flug bezahlen.«
»Ich wollte eigentlich nur Ihren Gepäckschein«, erwiderte er lächelnd. »Das gehört zum Service, Lady.«
Bemüht, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, kramte Laine in ihrer Handtasche nach dem Ticket.
»Dann lassen Sie uns gehen.« Er nahm ihr den Schein aus der Hand und fasste sie am Ellbogen, während er über die Schulter zurückrief: »Bis zum nächsten Mal, Rose.«
»Willkommen auf Hawaii«, antwortete Rose aus purer Gewohnheit, dann seufzte sie und zog einen Schmollmund, während sie Dillon nachsah.
Laine bemühte sich um Haltung, während sie neben ihm hertrottete. »Mr...