1. KAPITEL
Die drei Männer standen dicht nebeneinander. Groß, dunkel, schweigend.
Alle trugen schwarze Lederkleidung und hielten ihren Motorradhelm in der Hand. In der anderen Hand hatten sie eine geöffnete Flasche Bier.
Gemeinsam hoben sie die Flaschen, um anzustoßen. Das gedämpfte Klirren wirkte ernst.
Feierlich sagten die Männer: "Auf Matt."
Dann nahmen sie einen tiefen Schluck. Lange genug, um an das Mitglied ihrer Gruppe zu denken, das nicht mehr unter ihnen weilte. Jedes Jahr begangen sie dieses Ritual und hielten so die Erinnerung in Ehren. Doch diesmal war es noch schmerzlicher als sonst, denn ein ganzes Jahrzehnt war seitdem vergangen.
Vor zwanzig Jahren waren sie vier begabte, aber unterforderte Internatsschüler auf der Greystones Grammar School gewesen, die sogenannten "Bad Boys", also die "bösen Jungs".
Der Beiname war sogar dann noch geblieben, als die vier in kürzester Zeit als Beste ihres Jahrgangs ihr Medizinstudium abgeschlossen hatten.
Jetzt gab es nur noch drei "Bad Boys", die Verbundenheit zwischen ihnen war jedoch so stark wie eh und je.
Sie setzten die Flaschen ab und zollten dem verstorbenen Freund schweigend ihren Tribut.
Da klopfte es plötzlich laut an der Wohnungstür, eine unverzeihliche Störung dieses feierlichen Moments. Zwei der Männer fluchten leise. Sie ignorierten die Unterbrechung, doch es klopfte wieder. Diesmal drängender, und außerdem hörte man noch eine Stimme.
Eine verängstigte Frauenstimme. "Sarah? Bist du da? Oh, Gott! Du musst zu Hause sein. Mach die Tür auf. Bitte!"
Die Männer sahen einander an. Einer schüttelte ungläubig den Kopf, einer nickte resigniert. Der Dritte, Max, ging zur Tür, um zu öffnen.
Bitte, bitte, bitte!
Ellie presste die Augen zusammen, um ihre Tränen zurückzuhalten, während sie im Stillen betete. Sie hob den Arm, um noch einmal zu klopfen. Was sollte sie nur tun, wenn Sarah nicht zu Hause war?
Aus Verzweiflung wollte sie mit beiden Fäusten an die Wohnungstür hämmern. Da war jedoch nur Leere. Zu spät merkte Ellie, dass die Tür aufging. Da sie in letzter Zeit recht schnell das Gleichgewicht verlor, stolperte sie vorwärts.
Sie starrte auf ein schwarzes T-Shirt unter einer offenen schwarzen Motorrad-Lederjacke. Da fiel ihr ein, dass sie unten vorm Haus an einer Reihe großer, schwerer Motorräder vorbeigekommen war.
O nein, sie hatte die falsche Tür erwischt und war im Begriff, direkt in eine Bikerhöhle zu fallen. Vielleicht eine Art Gang-Hauptquartier. Von zwei starken Männerhänden wurde Ellie an den Oberarmen gepackt, aufgerichtet und tiefer in den Flur hineingezogen. Ihr Herz setzte einen Augenblick lang aus, ehe es mit einem schmerzhaften, dumpfen Schlag weiterpochte.
"Lassen Sie mich los", fuhr sie den Unbekannten an. "Sofort!"
"Kein Problem." Die sexy Stimme irgendwo über ihrem Kopf klang belustigt. "Mir wäre es nur lieb, wenn Sie nicht hinfallen und auf meinem Fußboden landen."
Erstaunlich höflich für ein Gang-Mitglied.
"Ich habe mich geirrt." Mit einem Schritt vorwärts erlangte Ellie ihr Gleichgewicht zurück. Dabei ließ sie ihre Tasche fallen und stemmte sich mit beiden Händen gegen die breite Brust genau vor ihr. Diese fühlte sich so hart an wie eine Mauer.
Ellie wagte einen kurzen Blick nach oben und sah, dass der Mann auf sie herunterschaute. Dunkle Haare. Dunkle Augen, in denen ein leicht überraschter Ausdruck lag. Aber weder irgendwelche Tattoos noch Piercings. Und irgendwie wirkte er ein bisschen zu sauber für ein Bandenmitglied.
Sie wandte den Kopf zur Seite und stieß einen bestürzten Ausruf aus. Da waren noch zwei von der gleichen Sorte und blickten sie finster an. Von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet. Schwere Stiefel. Die glänzenden Reißverschlüsse und Nieten hätten genauso gut Ketten und Schlagringe sein können. Die Männer hielten Bierflaschen in den Händen. Offenbar hatte Ellie sie bei irgendwas unterbrochen, worüber die Kerle gar nicht glücklich waren.
Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, die leider nur eins siebenundfünfzig betrug. "Es tut mir furchtbar leid. Ich habe mich anscheinend in der Tür geirrt. Ich suche Sarah Prescott. Dann gehe ich jetzt mal besser."
Ellie drehte sich um, aber da stand der erste Mann und versperrte ihr den Fluchtweg. Sie schluckte mühsam. "Hören Sie, es tut mir wirklich leid, dass ich Sie gestört habe." Vorsichtig bewegte sie sich seitwärts. Vielleicht konnte sie sich an ihm vorbeidrücken.
Der Mann schien keine Bewegung zu machen, dennoch schloss sich die Tür hinter ihm.
"Ich muss gehen", sagte Ellie zu ihm. Es ärgerte sie, dass ihre leicht schwankende Stimme Angst verriet.
"Weil Sie Sarah finden wollen?"
"Ja."
"Ist es dringend?"
"Ja, sehr." Ellie nickte entschieden.
"Warum?"
Ihr blieb der Mund offen stehen. Als ob sie das einem vollkommen Fremden erzählen würde. Außerdem hatte sie keine Zeit. Stumm starrte sie den Mann an.
"Schon gut", sagte er ruhig. "Hier sind Sie in Sicherheit."
Woher wusste er, wie sehr sie sich danach sehnte, genau diese Worte zu hören? Und wieso wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass sie ihm vertrauen konnte?
Noch eine Sekunde lang schaute Ellie ihn an und brach dann in Tränen aus.
Durch den dichten rotbraunen Pony sah ihr Gesicht schmal und zerbrechlich aus. Als Max auf sie hinunterblickte, bemerkte er ihre Angst und auch die Wirkung seiner Worte.
Obwohl Ellie ihn gar nicht kannte, vertraute sie darauf, dass sie hier sicher war. Erst jetzt wurde ihm die Verantwortung bewusst, die auf ihm lastete. Was hatte er sich bloß dabei gedacht?
Dann füllten sich ihre großen haselnussbraunen Augen mit Tränen, und er stöhnte innerlich. Unwillkürlich legte er die Arme um seine kleine Besucherin. Als er dabei ihren deutlich gerundeten Bauch spürte, der von ihrem viel zu weiten Pullover verdeckt war, wurde ihm noch mulmiger zumute. Diese Frau war hochschwanger.
"Max", sagte einer seiner Freunde warnend. "Was tust du da, Mann? Sie hat sich bloß in der Tür geirrt, das ist alles."
"Nein." Er hielt die weinende Frau fest und führte sie behutsam zum Sofa. "Sarah Prescott ist die Hauptmieterin. Sie ist letzte Woche in die USA geflogen."
"Was?", stieß Ellie erschrocken hervor. "Nein!" Sie rieb sich die Tränen vom Gesicht und schniefte. "Sie fliegt am Freitag. Also morgen. Deshalb bin ich hier. Weil ich mitfliegen will."
"Sie ist schon letzten Freitag geflogen." Max seufzte und warf einen Blick auf ihren überdimensionalen Pullover. "Glauben Sie wirklich, dass man Sie so auf einen internationalen Flug gelassen hätte? Wann ist der Geburtstermin?"
Ihre blassen Wangen wurden rot vor Verlegenheit, doch sie schwieg.
"Bitte setzen Sie sich", meinte Max. "Wie heißen Sie?"
"Ellie." Aber sie machte keine Anstalten, sich auf das Sofa zu setzen. "Ellie Peters."
"Ich bin Max. Der da drüben gerade seinen Helm auf den Tisch legt, ist Rick, und das hier ist Jet. Sein richtiger Name ist James, aber wir nennen ihn 'Jet', weil er immer schon eine Schwäche fürs Fliegen hatte. Und schneller ist als jeder Düsenjet."
Vorsichtig blickte Ellie zu den beiden anderen Männern hinüber. Über ihr Gesicht huschte ein kleines Lächeln.
Gut dachte Max. Sie entspannt sich ein bisschen. "Möchten Sie etwas trinken?", fragte er. "Vielleicht ein Glas Wasser?"
"Ich will ja kein Spielverderber sein", meinte Rick gedehnt. "Aber da unten auf der Straße steht ein Typ, der offensichtlich sehr an dieser Wohnung interessiert ist."
Ellie schnappte erschrocken nach Luft und drückte sich an die Seite, um nicht gesehen zu werden. Dann schob sie sich an der Wand entlang, bis sie einen Blick aus dem Fenster erhaschen konnte.
"O nein", stöhnte sie. "Das ist Marcus. Ich dachte, ich hätte ihn am Flughafen abgeschüttelt."
"Wer ist dieser Marcus?" Max trat ans Fenster, doch als er hinunterschaute, war auf der Straße nur noch ein Taxi mit Fahrer zu sehen.
"Er ist . ähm . Er war mein ." Ellie suchte nach dem richtigen Wort. "Ich hatte eine flüchtige Beziehung mit ihm. Und es war ziemlich schwer, von ihm wegzukommen."
Max musste seinen Zorn beherrschen. "Er ist ein Stalker?"
"Na ja, schon irgendwie."
"Von wo sind Sie gekommen?"
"Heute? Aus Wellington", erwiderte sie. "Ich vermute, er hat einen Privatdetektiv engagiert, der irgendwie meinen Ticketkauf mitgekriegt hat. Marcus muss aus Auckland hergeflogen sein, um mich am Flughafen abzupassen."
"Auckland . natürlich." Rick schnippte mit den Fingern. "Dachte ich's mir doch gleich, dass mir der kleine Mistkerl bekannt vorkam."
Verblüfft schauten alle ihn an.
"Du kennst ihn?"
"Marcus Jones. Orthopädischer Chirurg, richtig?"
"J. ja", stotterte Ellie verwirrt.
Rick wandte sich an seine Freunde. "Ich hatte vor ein paar Jahren mal...