1. KAPITEL
Er kannte die Risiken. Und er war ein Mann, der gewillt war, Risiken einzugehen. Ein falscher Handgriff, eine winzige Abweichung, und alles wäre vorbei, noch bevor es richtig begonnen hatte. Aber für ihn war das Leben schon immer ein Spiel gewesen. Oft - wahrscheinlich zu oft - hatte er sich von spontanen Impulsen leiten lassen und sich in potenziell gefährliche Situationen begeben. Doch in diesem speziellen Fall hatte er die Risiken genauestens kalkuliert.
Zwei Jahre seines Lebens hatte er darauf verwandt, minutiös zu berechnen, zu simulieren, zu konstruieren. Jedes noch so kleine Detail war bearbeitet, aufgelistet, analysiert worden. Er war ein sehr geduldiger Mann - zumindest was seine Arbeit betraf. Er wusste, dass sein Vorhaben möglich war. Jetzt musste er es nur noch in die Tat umsetzen.
Mehr als nur einige seiner Mitstreiter waren der Überzeugung, er hätte die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn überschritten. Selbst jene, die von seinen Theorien begeistert waren, glaubten, dass er dieses Mal zu weit ging. Allerdings hatte er sich noch nie viel um die Meinung anderer geschert. Nur das Endergebnis interessierte ihn. Und das hier würde die größte Erfahrung seines Lebens werden. Eine sehr persönliche Erfahrung zudem.
Auf dem Sitz hinter der weiten Frontscheibe glich er eher einem Piratenkapitän auf der Kommandobrücke denn einem Wissenschaftler kurz vor einer sensationellen Entdeckung. Aber er hatte sein gesamtes Leben der Wissenschaft geweiht. Was ihn zu einem wahren Entdecker machte und ihn in eine Reihe stellte mit den Weltumseglern der Neuzeit, Kolumbus, Magellan .
Er glaubte an Chancen, im ursprünglichen Sinne des Wortes - an die unvorhergesehenen Möglichkeiten des Daseins.
Und jetzt war er hier, um es zu beweisen. Zusätzlich zu all den Kalkulationen, der Technologie und seinen Berechnungen fehlte ihm nur noch eines, ein unerlässlicher Faktor für jeden Entdecker.
Glück.
Er war jetzt allein im endlosen All, weit abseits der Flugrouten, jenseits des letzten auf Karten verzeichneten Quadranten. Hier draußen herrschte absolute Stille. Und eine Übereinstimmung zwischen einem Mann und seinen Träumen, wie sie in einem Labor nie möglich wäre. Zum ersten Mal, seitdem er seine Reise begonnen hatte, lächelte er.
Er hatte viel zu viel Zeit in seinem Labor verbracht.
Die Einsamkeit war beruhigend, ja verführerisch. Er hatte ganz vergessen, wie es war, wirklich allein zu sein, nur mit den eigenen Gedanken als Gesellschaft. Er war versucht, die Geschwindigkeit zu drosseln, sich treiben zu lassen, diese Einsamkeit zu genießen, solange es ihm gefiel.
Hier oben, am Rande des von Menschen erforschten Gebiets, wo er seinen Planeten als leuchtenden Ball schrumpfen sehen konnte, hatte er alle Zeit der Welt.
Zeit war der Schlüssel.
Er widerstand jedoch der Versuchung und gab die Koordinaten ein. Geschwindigkeit, Flugbahn, Entfernung. Seine langen, schlanken Finger bewegten sich sicher und flink über Schalter und Knöpfe. Die Kontrollanzeigen strahlten alle grün, warfen ein nahezu gespenstisches Licht auf die scharf gezeichneten Konturen seines Gesichts.
Angestrengte Konzentration, nicht Angst ließ ihn die Augen zusammenkneifen und die Lippen zusammenpressen, während er auf die Sonne zuhielt. Er war sich klar darüber, was passieren würde, wenn sich auch nur die kleinste unvorhergesehene Fehlermarge in seine Kalkulationen einschlich. Die Gravitation des hellen Sterns würde ihn unweigerlich anziehen. Es würde nicht länger als Sekunden dauern, bevor das Schiff mitsamt seinem Piloten verpuffte.
Die ultimative Niederlage, dachte er, während er durch die Frontscheibe auf den leuchtenden Himmelskörper starrte. Oder der ultimative Triumph. Eine faszinierende Ansicht, dieser glühende Ball dort. Gleißendes Licht füllte die Kabine, blendete ihn. Selbst in dieser Entfernung hatte die Sonne Macht über Leben und Tod. Wie eine leidenschaftliche, feurige Frau berauschte sie alles in ihrer Umgebung.
Er aktivierte den Schutzschild und ließ ihn die Frontscheibe hinuntergleiten. Beschleunigte auf die höchste Geschwindigkeit, die das Schiff aushalten würde. Ein Blick auf die Kontrollanzeiger sagte ihm, dass die Außentemperatur gefährlich anstieg. Er wartete, wissend, dass die Helligkeit hinter dem Schutzschild seine Augen verbrannt hätte. Ein Mann, der auf die Sonne zuraste, riskierte Blindheit und Zerstörung. Riskierte es, sein Ziel niemals zu erreichen.
Er wartete so lange, bis die erste Alarmsirene ertönte. Wartete immer noch, während sein Schiff unter den zwingenden Kräften von Gravitation und Geschwindigkeit bockte und rotierte. Die gedämpfte Stimme des Bordcomputers ertönte, nannte Geschwindigkeit, Position und - das Wichtigste - Zeit.
Obwohl ihm das Blut in den Ohren rauschte, drückte er den Hebel mit ruhiger Hand noch weiter nach vorn, beschleunigte noch mehr, verlangte dem ohnehin überlasteten Antrieb das Äußerste ab.
Er flog auf die Sonne zu, schneller, als je ein anderer Mann geflogen war. Mit zusammengebissenen Zähnen legte er den Hebel bis zum Anschlag um. Ein Rütteln ging durch das Schiff, es begann zu trudeln, drehte sich um die eigene Achse, während es sich gleichzeitig überschlug - ein Mal, zwei Mal, drei Mal, bevor es dem Piloten gelang, die Maschine wieder auf Kurs zu bringen. Die Zentrifugalkraft drückte ihn in den Sitz, und in der Kabine explodierten Licht und Schall, während er darum kämpfte, den Kurs zu halten. Es musste ihm gelingen, sonst wäre alles vorbei.
Einen Augenblick lang glaubte er mit ergebenem Fatalismus, er würde von der Gravitation der Sonne zerdrückt, anstatt von ihrer Hitze pulverisiert zu werden. Und dann war sein Schiff auf einmal frei, wurde zurückkatapultiert wie der Pfeil von einer gespannten Bogensehne. Während er noch darum kämpfte, wieder zu Atem zu kommen, korrigierte er die Kontrolleinstellungen und reiste seinem Schicksal entgegen.
Am meisten beeindruckte Jacob die Weite der Landschaft. So weit er blicken konnte, nichts als Gebirge und Wälder und blauer Himmel. Es war friedlich, nicht still, aber friedlich. Das Rascheln von kleinen Tieren im Gebüsch war zu hören und das Gezwitscher von Vögeln. Spuren in der unberührten Schneedecke zeugten davon, dass auch größere Tiere hier lebten. Allerdings sagte der Schnee ihm auch, dass er sich bei seinen Kalkulationen um mindestens einige Monate verrechnet haben musste.
Nun, für den Moment würde er sich damit zufrieden geben müssen, dass er ungefähr da war, wo er sein wollte. Und dass er überlebt hatte.
Von Natur aus gründlich, ging er zu seinem Schiff zurück, um Fakten und Eindrücke zu speichern. Er hatte Fotos und Filme über diesen Ort und diese Zeit gesehen. Das ganze letzte Jahr über hatte er jeden Schnipsel an Information über das zwanzigste Jahrhundert studiert, alles, was er in die Finger bekommen konnte. Kleidung, Sprache, sozialpolitische Lage. Als Wissenschaftler war er fasziniert gewesen. Als Mann abwechselnd entsetzt und amüsiert. Und völlig fassungslos, dass sein Bruder sich freiwillig dazu entschieden hatte, in dieser primitiven Zeit zu leben. Wegen einer Frau.
Jacob öffnete ein kleines Fach und holte ein Foto hervor. Ein gutes Beispiel für die rückständige Technologie des zwanzigsten Jahrhunderts, dachte er und betrachtete das Polaroid-Foto in seiner Hand. Calebs Grinsen war wie immer. Er sah zufrieden aus, wie er da auf den Stufen dieser kleinen Holzkonstruktion saß, gekleidet in Jeans und einen weiten Pullover. Neben ihm saß eine Frau, der er den Arm um die Schultern gelegt hatte. Die Frau hieß Libby. Sie war zweifelsohne attraktiv, das musste man ihr lassen. Vielleicht nicht ganz so auffällig wie der Typ, den Caleb sonst bevorzugte, aber zumindest nicht beleidigend fürs Auge.
Was war an dieser Frau, das Caleb dazu gebracht hatte, sein Heim, seine Familie, seine Freiheit aufzugeben?
Da er fest entschlossen war, diese Frau nicht zu mögen, warf Jacob das Bild achtlos zurück in das Fach. Er würde sich diese Libby selbst ansehen. Sich ein eigenes Urteil bilden. Und dann würde er Cal einen anständigen Tritt verpassen und ihn nach Hause holen.
Zuerst allerdings gab es einige Vorsichtsmaßnahmen zu treffen.
Jacob verließ die Brücke und ging zu seinem Privatquartier, um den Fluganzug gegen Jeans und Pullover zu tauschen. Diese Kleidungsstücke aus Baumwolle hatten ihn ein kleines Vermögen gekostet. Wirklich exzellente Reproduktionen, dachte er, als er die Jeans über seine langen Beine streifte. Und zugegebenermaßen extrem bequem.
Fertig umgezogen, betrachtete er sein Spiegelbild. Sollte er während seines Aufenthalts - von dem er hoffte, dass es ein sehr kurzer werden würde - auf Einwohner treffen, wollte er nicht auffallen. Weder hatte er Zeit noch Lust, sich Menschen zu erklären, die auf einer so zurückgebliebenen Entwicklungsstufe standen und sicherlich nicht die Hellsten waren. Auch verspürte er nicht die geringste Neigung, Objekt eines Medienrummels zu werden, der eine in dieser Zeit scheinbar unumgängliche Erscheinung zu sein schien.
Obwohl es ihn ärgerte, gestand Jacob sich ein, dass die Jeans und der graue Pullover ihm standen. Beides passte wie angegossen, und das Material war wirklich angenehm auf der Haut. Am wichtigsten jedoch war, dass er aussah wie ein Mann aus dem zwanzigsten Jahrhundert.
Sein dunkles Haar war dicht und wie immer zerzaust. Die Arbeit war Jacob eben wichtiger als ein ordentlicher Haarschnitt. Zudem bildete die wilde Mähne einen vorteilhaften Gegensatz zu seinem kantigen Gesicht. Um seine grünen Augen lag oft ein angespannter Zug, wenn Jacob über einem wissenschaftlichen Problem brütete. Wenn er dagegen entspannt war, konnte er seine Umgebung mit einem...