1. KAPITEL
Suzanna freute sich nicht darauf. Es musste getan werden, natürlich. Suzanna schleppte einen Fünfzig-Pfund-Sack Torf zu ihrem Pick-up und stemmte ihn auf die Ladefläche. Die kleine körperliche Anstrengung war nicht das Problem. Sie freute sich sogar darauf, diese Lieferung bei ihrem zweiten Stopp auf dem Heimweg machen zu können.
Es war der erste Stopp, den sie gern vermeiden würde, doch sie war Suzanna Calhoun Dumont, die keiner Pflicht ausweichen konnte.
Sie hatte ihrer Familie versprochen, mit Holt Bradford zu sprechen, und Suzanna hielt ihre Versprechen. Ich versuche es zumindest, dachte sie und wischte sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn.
Aber sie war verdammt müde. Sie hatte einen vollen Tag in Southwest Harbor an dem Garten eines neuen Hauses gearbeitet, und sie hatte auch für den nächsten Tag einen vollen Terminkalender. Dazu kam noch, dass ihre Schwester Amanda in etwas mehr als einer Woche heiratete und The Towers sich in totalem Aufruhr befand wegen der Hochzeitsvorbereitungen und der Renovierung des Westflügels. Dazu kam auch noch, dass sie zu Hause zwei energiegeladene Kinder hatte, die an diesem Abend die Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Mutter verlangten und verdienten. Und dass sich der Papierkram auf ihrem Schreibtisch stapelte und einer ihrer Teilzeitangestellten ausgerechnet an diesem Vormittag gekündigt hatte.
Nun, erinnerte Suzanna sich, ich wollte ja ein Geschäft eröffnen. Was sie auch getan hatte. Sie warf einen Blick zurück zu ihrem Laden, verschlossen für die Nacht und mit Sommerblumen im Schaufenster, und zu dem Glashaus hinter dem Hauptgebäude. Das gehört mir - und der Bank, dachte sie mit einem kleinen Lächeln, jedes Stiefmütterchen, jede Petunie, jede Päonie. Sie hatte bewiesen, dass sie nicht die unfähige Versagerin war, als die ihr Exmann sie bezeichnet hatte, immer und immer wieder.
Suzanna hatte zwei wunderschöne Kinder, eine Familie, die sie liebte, und ihre Gärtnerei, die sich selbst trug. Sie nahm nicht einmal im Entferntesten an, dass Baxters Behauptung, sie wäre langweilig, jetzt zutraf. Nicht, wenn sie mitten in einem Abenteuer steckte, das vor achtzig Jahren begonnen hatte.
Ganz sicher war nichts Gewöhnliches an der Suche nach einer unschätzbar wertvollen Smaragdhalskette oder daran, dass internationale Juwelendiebe hinter ihnen allen her waren, Diebe, die vor nichts zurückschreckten, um das Erbe von Suzannas Urgroßmutter Bianca in ihre Finger zu bekommen.
Allerdings bin ich bisher nicht viel mehr als eine abseits stehende Mitspielerin gewesen, fand Suzanna, als sie in den Lastwagen kletterte. Ihre Schwester C. C. hatte alles ins Rollen gebracht, als sie sich in Trenton St. James III verliebte, den Besitzer der St. James-Hotels. Es war seine Idee gewesen, einen Teil des finanziell arg geplagten Familienbesitzes in einen luxuriösen Gästelandsitz zu verwandeln. Im Zuge dieses Unternehmens war die Legende von den Calhoun-Smaragden an die stets begierige Presse durchgesickert und hatte eine Kettenreaktion ausgelöst, die sich von absurd zu gefährlich gewandelt hatte.
Amanda wäre beinahe getötet worden, als der verzweifelte und besessene Dieb, der sich als William Livingston ausgab, einen Teil der Familienpapiere in der Hoffnung stahl, sie würden ihn zu den verschwundenen Smaragden führen. Und ihre Schwester Lilah war bei dem letzten versuchten Raub in Lebensgefahr geraten.
In der Woche, die seit jener Nacht vergangen war, hatte die Polizei keine Spur von Livingston gefunden, dessen letzter bekannter falscher Name Ellis Caufield war.
Seltsam, dachte Suzanna, während sie sich in den Verkehrsstrom einordnete, wie The Towers und die verschwundenen Smaragde sich auf die gesamte Familie ausgewirkt hatten. The Towers hatte C. C. und Trent zusammengebracht. Dann war Sloan O'Riley aufgetaucht, um den Gästelandsitz zu entwerfen, und hatte sich in Amanda verliebt. Der schüchterne Geschichtsprofessor Max Quartermain hatte sein Herz an Suzannas freigeistige Schwester Lilah verloren, und die beiden wären beinahe umgebracht worden. Wiederum wegen der Smaragde.
Es gab Zeiten, in denen Suzanna sich wünschte, jene Halskette vergessen zu können, die ihrer Urgroßmutter gehört hatte. Doch sie wusste genau wie die anderen, dass es vorherbestimmt war, dass die Halskette, die Bianca vor ihrem Tod versteckt hatte, gefunden würde.
Also machten sie weiter, verfolgten jede Spur, erforschten jeden möglichen staubigen Pfad. Nun war Suzanna an der Reihe. Während seiner Forschungstätigkeit hatte Max den Namen des Künstlers aufgespürt, den Bianca geliebt hatte.
Es war eine Geschichte, die Suzanna stets ein wenig wehmütig stimmte, doch es war ihr persönliches Pech, dass die Verbindung mit dem Künstler zu seinem Enkel führte.
Holt Bradford. Sie seufzte ein wenig, als sie durch die verstopften Straßen des Dorfes fuhr. Sie konnte nicht behaupten, ihn gut zu kennen, war auch nicht sicher, ob das irgendjemand vermochte. Sie erinnerte sich an ihn als Jugendlichen - finster, übellaunig und arrogant. Natürlich, die Mädchen waren von seiner Scher-dich-zum-Teufel-Haltung angezogen gewesen. Zweifellos hatte sein düsteres, grüblerisches Aussehen zusammen mit den funkelnden grauen Augen diese Anziehung verstärkt.
Seltsam, dass ich mich an die Farbe seiner Augen erinnere, überlegte Suzanna. Andererseits, das einzige Mal, als diese Augen aus nächster Nähe auf sie gerichtet gewesen waren, hätte Holt sie beinahe mit seinem Blick bei lebendigem Leib verbrannt.
Wahrscheinlich hat er den Zusammenstoß vergessen, versicherte sie sich. Suzanna hoffte es wenigstens. Streitigkeiten brachten sie zum Zittern und Schwitzen, und sie hatte davon in ihrer Ehe genug erlebt, dass es für ein ganzes Leben reichte. Sicher grollte Holt ihr nicht mehr. Es war zwölf Jahre her. Immerhin war er nicht stark verletzt worden, als er kopfüber von seinem Motorrad geflogen war. Und es war seine Schuld gewesen. Suzanna reckte ihr Kinn hoch. Sie hatte die Vorfahrt gehabt.
Jedenfalls hatte sie Lilah versprochen, mit ihm zu reden. Sie mussten jeder Verbindung zu Biancas verschwundenen Smaragden nachgehen. Als Christian Bradfords Enkel mochte Holt irgendwelche Geschichten gehört haben.
Als er vor ein paar Monaten nach Bar Harbor zurückgekehrt war, hatte er sich in demselben Cottage einquartiert, in dem sein Großvater während dessen Romanze mit Bianca gelebt hatte. Suzanna war irisch genug, um an Schicksal zu glauben. Es gab einen Bradford in dem Cottage, und es gab Calhouns in The Towers. Sicher konnten sie gemeinsam die Antworten auf das Geheimnis finden, das beide Familien seit Generationen verfolgte.
Das Cottage stand am Wasser, beschattet von zwei schönen alten Weidenbäumen. Das schlichte Holzgebäude ließ Suzanna an ein Puppenhaus denken, und sie hielt es für eine Schande, dass sich niemand die Mühe gemacht hatte, Blumen zu pflanzen. Das Gras war frisch gemäht, doch ihr professionelles Auge stellte fest, dass an manchen Stellen nachgesät werden musste, und der gesamte Rasen konnte eine ordentliche Dosis Dünger vertragen.
Suzanna ging auf die Tür zu, als das Bellen eines Hundes und die Stimme eines Mannes sie um die Hausecke herumführte.
Ein baufälliger Bootssteg ragte in das ruhige, dunkle Wasser hinaus. Daran festgebunden war ein hübscher kleiner Kabinenkreuzer in schimmerndem Weiß. Der Mann saß im Heck und polierte geduldig das Messing. Er trug kein Hemd. Seine gebräunte Haut spannte sich straff über Knochen und Muskeln und schimmerte vom Schweiß. Seine schwarzen Haare wären lockig über seinen Kragen gefallen, hätte er einen gehabt. Offenbar hielt er es nicht für nötig, mehr als zerrissene, ausgebleichte Shorts zu tragen. Sie schaute auf seine Hände, schlank mit langen Fingern, und fragte sich, ob er sie von seinem Großvater, dem Künstler, geerbt hatte.
Wasser schlug sanft gegen das Boot. Dahinter sah Suzanna einen Fischadler hochsteigen und dann niederstoßen. Er gab einen Triumphschrei von sich, als er sich wieder erhob und ein silbriger Fisch sich in seinen Klauen wand. Der Mann im Boot arbeitete weiter, offensichtlich ungerührt von dem Drama von Leben und Tod in seiner Nähe.
Suzanna zwang ein - wie sie hoffte - höfliches Lächeln um ihren Mund und ging auf den Bootssteg zu. »Entschuldigen Sie!«
Als er seinen Kopf hochreckte, erstarrte Suzanna. Wenn er eine Waffe hätte, würde er auf mich zielen, dachte sie unwillkürlich. Innerhalb eines Sekundenbruchteils hatte er sich von entspannt zu voll angespannt gewandelt, zusätzlich mit einer Bereitschaft zur Gewalttätigkeit in der Haltung seines Körpers. Suzannas Mund wurde trocken.
Während sie darum kämpfte, ihren Herzschlag zu beruhigen, stellte sie fest, dass Holt sich verändert hatte. Der finstere Junge war ein gefährlicher Mann geworden. Ihr fiel kein anderes Wort ein. Sein Gesicht war gereift und scharf gezeichnet. Ein Drei-Tage-Bart unterstrich das raue Aussehen.
Doch es waren erneut seine Augen, die sie auf unheimliche Weise beeindruckten. Ein Mann mit solchen scharfen Augen brauchte keine Waffe.
Holt starrte sie an, stand jedoch nicht auf und sagte auch nichts. Er brauchte einen Moment, um sich zu fangen. Hätte er seine Waffe getragen, hätte er sie schon im Anschlag gehalten. Das war einer der Gründe, weshalb er hier war, wieder ein Zivilist.
Er hätte sich zum Entspannen zwingen können. Er wusste, wie er das machen konnte. Aber er erinnerte sich an ihr Gesicht. Ein Mann vergaß dieses Gesicht nicht. Der Himmel wusste, dass er es nicht...