Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Donnerstagnacht 5. April
-
21:00 -- Nun ist es Nacht. Nicht mehr Abend, sondern richtig Nacht wie in «so schwarz wie», wenn auch nicht ganz «mitten in». Dem Abend hängt ja gewöhnlich der Nachmittag an den Jackenschößen, ihm haften noch ein paar richtige Spritzer Tageslicht wie Flusen am Revers, die Nacht jedoch ist einsam, wahrt Distanz, ist kompromisslos, radikal. Die sicheren Grenzen des Tages, zur Abendzeit noch schwach erkennbar, sind ausgelöscht vom harten Radiergummi der Nacht, getrübt von ihrem Schleier aus Tintenfischspritzern, Pyjamasoße und dem blauen Honig, den die Motten absondern. Ist die Nacht eine Maske, oder ist der Tag nur eine spröde Verkleidung der Nacht? Die meisten von uns sind in der Nacht geboren, und bei Nacht werden die meisten sterben. Nachts, wenn im Radio der Krankenschwester Tangomusik spielt und das Rattengift sein heißes Lied hinter der Kellertür singt. Nachts, wenn die lange Schlange auf Nahrungssuche geht, wenn die schwarze Limousine durch die Vergnügungsviertel rollt, das flackernde Neon sein «Endlich frei» in einem Dutzend vergessener Sprachen buchstabiert und die übrig gebliebenen Figuren aus deiner Kindheit verstohlen hinter den mondtrunkenen Ästen der Fichte umhergeistern.
Es ist die Nacht des angeblich schlimmsten Tages in deinem Leben. Hat sich irgendwas gebessert? Nicht wirklich. Während der amerikanische Adler wie ein geköpftes Huhn durch die Börsenmärkte des Orients flattert und die Händler mit einem Schauer von Blutperlen in Panik versetzt, hältst du kleinmädchenhaft die Luft an, drückst ihm die Daumen - und schaust zu, wie Q-Jo Huffington Schweinekoteletts in sich hineinschlingt, als wären die bald ebenso rar wie die Dollars.
Du sitzt in einer gepolsterten Plastiknische im Dog House, einem weniger feinen Restaurant mit dem Slogan «Wir schließen nie», eine Aussage, deren Wahrheitsgehalt sich in der müden Pantomime der Serviererinnen spiegelt, von denen manche hier schon seit der Eröffnung des Restaurants anno 1934 rund um die Uhr zu bedienen scheinen. Die Gäste des Dog House sind größtenteils ältere Malocher, obwohl es in den schrägen Stunden nach Mitternacht von radikaleren Elementen der Jugendkultur infiltriert wird, von Punks und Grungetten, Metalheads, Trashern und Ninjaboys, und von den Highschool-Kids aus Hunts Point, Mercer Island und ähnlich feudalen Vororten, die es auf der Suche nach Nervenkitzel in diese Slumgegend zieht. Die schlachterprobten Serviererinnen wissen, wie man die aufmüpfigen Kids in Schach hält; trotzdem bist du erleichtert, dass es noch relativ früh am Abend ist und dass es sich bei den Gästen zwar um Angehörige der Unterschicht handelt, aber wenigstens nicht um Randalierer. Was keineswegs heißt, dass du es deswegen weniger nervend findest, hier zu sitzen.
Als dir Q-Jo das Dog House als Restaurant ihrer Wahl nannte, hieltest du es erst für einen Witz, ein albernes Wortspiel, angeregt von dem Umstand, dass so viele Leute im Virginia Inn bellten. Jawohl, bellten! Da waren sie nun, die Dichter, Maler, Musiker und Filmemacher von Seattle, alles Leute, die man wohl als kultiviert und anspruchsvoll eingeschätzt hätte; aber debattierten sie über Gödel, Escher, Bach, warfen sie ein sonderlich erhellendes Licht auf den Börsenkrach, brachten ihn mit McLuhans Technologie-Theorie oder dem «Fall des Hauses Usher» in Zusammenhang? Vielleicht taten sie es. Es ließ sich schwerlich jede einzelne Nuance der vielen Gespräche in der Kneipe verfolgen, nicht zuletzt deswegen, weil die Aufnahmen afroamerikanischer Bluessänger mit solcher Lautstärke liefen, dass die alten Neger ihre selbstgebaute Gitarre hätten fallen lassen und, sich die Ohren zuhaltend, in den Wald geflüchtet wären. Der Gerechtigkeit halber muss gesagt werden, dass möglicherweise an jedem x-beliebigen Tisch ein intellektueller Disput von erfrischender Qualität im Gange war. Du weißt nur eins: dass du nie die Worte «Dow Jones», «Deutsche Mark» oder «Michel Foucault» über jemandes Lippen kommen hörtest - dafür aber eine Unmenge Gebell.
Sobald eine bebrillte, durch seine scharlachrote Baskenmütze als hip ausgewiesene Galerieschwuchtel einen kleinen Beller losließ, fielen sogleich etliche reihum ein. Dann, und das war das Merkwürdigste an der ganzen Sache, strahlten sie allesamt gedankenverloren vor sich hin, als seien sie entzückt, ohne freilich im Entferntesten zu begreifen, was sie denn nun so entzückte. Meine Güte! War das irgendeine neue Mode? Als du dich bei Q-Jo danach erkundigtest, zuckte sie die Achseln, meinte: «Oh, Dr. Yamaguchi», und schlug das Dog House vor.
Natürlich hast du ständig darauf gewartet, dass sich dir die verborgenen Zusammenhänge erschließen. Mit der Zeit würden sie das auch, ganz synchronistisch. Aber im Augenblick waren erst mal Schweinekoteletts angesagt.
«Gwendolyn, du gedankenlose bürgerliche Schlampe hast einfach ohne mich gegessen. Und jetzt wirst du gefälligst warten und zusehen, wie der große Hund sein Fressen vertilgt.»
Fürwahr ein Anblick. Q-Jo taucht in den Teller Schweinekoteletts ein wie ein Killerwal, der in einen Lachsschwarm vorstößt; geschmeidig, aber tödlich beißt sie erst aus einem Kotelett ein Stück heraus, dann aus dem nächsten, knöpft sie sich nacheinander vor und lässt sie halb zerfleischt liegen, unfähig, ihr zu entkommen; umkreist sie dann von neuem und gibt ihnen den Rest, vertilgt eins nach dem andern, inklusive der speckigen Schwarten, und lutscht am Ende auch noch den allerletzten Tropfen Bratensaft von den Knochen, bis die Reste so sauber und weiß glänzen wie die Spielmarken eines chinesischen Brettspiels.
Und als du den Tisch verlässt und telefonieren gehst, bestellt sie sich eine zweite Portion.
Eine Badezimmerwaage, deren Mechanik in der Lage wäre, es mit Q-Jo Huffingtons Körpergewicht aufzunehmen, gibt es nicht. Bei ihr schwenkt die Nadel sofort ans äußerste Ende der Skala; sie müsste auf eine Industriewaage umsteigen, um festzustellen, wie weit ihr Gewicht die von den Schranken der Mechanik und öffentlichen Anstandsregeln gesetzte 300-Pfund-Grenze tatsächlich überschreitet. Was ihren Cholesterinspiegel angeht, so hat er noch keinen vierstelligen Wert erreicht, ist jedoch auf dem besten Weg dahin. Überdies raucht sie in ruinösem Ausmaß Zigaretten, die sie sich selber aus schwarzem, kratzigem, finster aussehendem indonesischem Grobschnitt dreht; sie pafft sie nacheinander weg, dass dir schwindlig wird und du dich fragst, inwiefern ihre Lungen - abgesehen von der Größe - sich eigentlich noch von den Teerseen des Mesozoikums unterscheiden.
Man würde annehmen, dass eine sensible und hellwache Frau wie Q-Jo, eine Frau, deren präkognitive Fähigkeiten so überzeugend wirken, dass sie aus einer so skeptischen Skeptikerin wie dir eine Gläubige machten; man würde annehmen, dass so eine Frau - eine professionelle Tarotleserin, verdammt noch mal - ein besonderes Interesse in puncto Ernährung und Gesundheit an den Tag legt. Das tut sie auch, solange es um die Gesundheit anderer geht. Sie leugnet jedoch, dass hier Altruismus oder Heuchelei im Spiel ist. Es stimmt, sie ist ein Mensch, der viel gibt, und Essen ist eine Methode, sich einiges davon zurückzuholen, das Verlorene wieder einzuspeisen; doch es steckt mehr dahinter. «Ich rauche und esse, damit ich nicht wegfliege», erklärt sie, womit sie ein mentales Wegfliegen meint, obwohl du dabei ihren massigen Leib wie einen Goodyear-Zeppelin über der Stadt schweben siehst. «Wenn du dich so viel auf der Astralebene bewegst wie ich, dann brauchst du entsprechend Nahrung und Tabak, damit du wieder in deinen Körper zurückkommst. Für mich sind das Mittel zum Andocken.» Außerdem sind sie ein Schutz. Anscheinend ist Q-Jo ein emotionaler Schwamm, eine wandelnde telepathische Antenne, die, auch wenn sie ein Kotelett nach dem andern verdrückt, alle Mühe hat, die unterschwelligen Botschaften anderer Gäste im Dog House von ihrem Empfangsschirm abzublocken. Die Fettleibigkeit verleiht ihr eine gewisse Isolierung, eine Art Schutzmantel, mit dem sie ihre Feinnervigkeit reduziert. Eingemummelt in ein Sanktuarium aus Fett, fühlt sich ihre Psyche nicht ganz so nackt.
Rein privat hast du Q-Jos körperliche Dimensionen immer anziehend gefunden. Vom Tag an, als ihr euch kennenlerntet, hast du den starken Drang gespürt - und rigoros unterdrückt -, ihr auf den breiten, parfümierten Schoß zu hüpfen, dich an die Buddhas ihrer Brüste zu schmiegen und in ihren Affenbrotarmen zu wiegen. Doch während auch andere Leute von ihr fasziniert sind, von ihren violetten Turbanen, ihren bunten Kaftanen, ihren funkensprühenden Augen und tiefen Grübchen, ihrem Nikolausgelächter, der Patschuli-Ausdünstung, der Zigarettenspitze aus Ebenholz und den Ringen, deren Steine den Umfang eines Kropfes haben, ist es dir dennoch peinlich, dich mit ihr in der Öffentlichkeit zu zeigen. Gott behüte, dass deine Arbeitgeber oder Kunden je spitzkriegen, dass diese aus allen Nähten platzende Irre sich als deine Gefährtin betrachtet. Es demütigt dich ohne Unterlass, dass es die Parzen für angebracht hielten, dich mit so einer Freundin auszustatten. Sobald du in deine neue Eigentumswohnung umgezogen bist - sofern durch ein Wunder der Absturz der Aktienkurse diese Pläne nicht zunichtemacht -, hast du vor, dich nicht mehr so oft mit ihr zu treffen, obwohl weniger bei Q-Jo immer noch eine ganze Menge...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.