Schweitzer Fachinformationen
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"Damals war ich jung und schön", begann Großmutter ihre Geschichte, und das glaubte man ihr sofort, denn selbst in ihrem hohen Alter sah sie großartig aus. Ihr hüftlanges Haar war zwar längst schneeweiß, aber immer noch voll und glänzend. Sie flocht es zu einem dicken Zopf, wie die meisten tibetischen Frauen, aber dann band sie sich den Zopf mit Bändern aus bengalischer Seide auf den Kopf, so dass es immer aussah, als würde sie eine Krone tragen.
Auch ihre Blusen waren aus Seide, mit langen Ärmeln, die ihr bis über die Finger reichten. Dies war eine alte Adelssitte, die anzeigte, dass ihr Träger nie niedere Arbeiten verrichtete, und die sich prima dazu eignete, an kalten Tagen die Hände warm einzupacken. Sie nähte ihre Blusen immer mit hohem chinesischem Kragen, passend zu ihrem langen Hals und aristokratischen Kinn. Diese königliche Haltung war ihr ohne jeglichen Anflug von Eitelkeit in Fleisch und Blut übergegangen. Von ihr hatte mein Bruder Tenzing seine gemeißelten Wangen und seine elegante Adlernase.
"Mein Vater war ein hoher Häuptling in unserem Land und ein bekannter Händler. Er führte große Karawanen nach Süden und Westen zur Seidenstraße, beladen mit Moschus, Pelzen und Edelmetallen aus unseren Wäldern. Lange hatte ich gebettelt, er möge mich doch bitte mitnehmen, nur ein einziges Mal, und endlich stimmte er zu. Ich glaube, er hatte gezögert, weil er Angst hatte, mich an die Räuberbanden der Ostmongolen zu verlieren, die schon damals immer stärker wurden.
In der Nähe der alten Stadt Khotan trafen wir auf der Seidenstraße auf eine andere Karawane, die mit Wollwaren und Schafherden nach China unterwegs war. Sie wurde von deinem lieben Großvater angeführt ...", an dieser Stelle hielt sie stets inne, um sich eine Träne aus dem Auge zu wischen, denn mein Großvater war vor meiner Geburt gestorben, "... der, wie du weißt, einer der berühmtesten Händler war, die Tibet je gekannt hat. Damals war er noch nicht so reich, das wurde er erst, nachdem er mich getroffen hatte. Und natürlich weißt du, dass er es war, der deinem Vater alles beigebracht hat, was er heute weiß, damals, als er noch ein junger Bursche mit nur ein paar Säcken Salz und ein paar Yaks war." Sie lächelte nachsichtig. (Ich glaube, ich hatte dir bereits erzählt, dass sie zum mütterlichen Zweig der Familie gehörte.)
"Um es kurz zu machen: Dein Großvater verliebte sich auf den ersten Blick so sehr in mich, dass er die Karawane anhalten ließ und anschließend drei Wochen lang mehr oder minder auf Händen und Knien verbrachte, meinen Vater um meine Hand anflehend, während die Kamel- und Yak-Treiber beider Lager sich gegenseitig Chang-Bier und Arak-Wein ausschenkten, tranken und stritten, bis fast alle Waren verprasst waren. Am Ende ließ Großvater die Hälfte seines gesamten Reichtums - 300 Schafe - zurück und ritt mit mir davon", erzählte sie stolz, und ich sah vor meinem inneren Auge ein Meer flauschiger Schafe nach Westen ziehen, während Großvater mit seiner Beute auf zwei Pferden nach Osten ritt. Später erkannte ich, dass mein Großvater so klug gewesen war, ein Bündnis mit den Mongolen zu schließen, die eines der größten Reiche Asiens errichten sollten, das es je gegeben hatte. Diese Ehe sollte meine Familie und ihre Karawanen viele Jahre lang schützen.
Aber für mich war Großmutter Tara einfach ein kleines Mädchen, und wir saßen stundenlang zusammen und kicherten, sehr zum Verdruss meiner Mutter Amala, die Garn für ihre Teppiche brauchte. Großmutter lehrte mich, den Tengeri, den Himmelsgöttern der Mongolen, das morgendliche Sang-Opfer zu bringen: getrocknetes Pulver aus Wacholderzweigen von den Höhen der heiligen Berge. Wenn sie über dem Rauch kniete, der von der Feuerstelle aufstieg, sah sie aus wie eine königliche Priesterin, und ich empfand Ehrfurcht vor ihrer Kraft und Anmut. In meiner Welt war sie das Firmament, unerschütterliche Autorität und Stärke.
Vater, ganz der echte Geschäftsmann, ließ sich diesen ganzen Hokuspokus gutmütig gefallen. Natürlich war er ein gläubiger Anhänger des Buddhas, aber er unternahm extra Reisen, damit seine Schwiegermutter immer ihr heiliges Wacholderpulver bekam, "denn man muss immer sichergehen, nicht wahr? Wer weiß, welche Religion sich am Ende als die richtige herausstellt!"
Diese Toleranz war die Grundlage seiner Lebensphilosophie, und obwohl er oft mit den Karawanen unterwegs war, liebte und respektierte ich ihn sehr. Er war ein brillanter Händler und so überzeugend, dass mein Bruder Tenzing und ich ihm morgens, wenn die täglichen Aufgaben verteilt wurden, lieber aus dem Weg gingen, weil er es innerhalb weniger Minuten schaffte, uns noch ein paar zusätzliche Aufgaben aufzuschwatzen und uns trotzdem das Gefühl zu vermitteln, wir hätten die Familie irgendwie im Stich gelassen. In geschäftlichen Angelegenheiten war er ebenso herausragend wie sein Bruder, Onkel Jampa, in spirituellen. Die Haltung meines Vaters in geschäftlichen Dingen bestand im Kern aus einer einzigen Regel, die er stets beherzigte: Von einem Geschäftsabschluss müssen immer beide Seiten profitieren. Damit lebte er uns einen wichtigen Kodex vor, der die Grundlage unserer Erziehung bildete: für andere ebenso gut zu sorgen wie für uns selbst.
Vater handelte hauptsächlich mit Salz und den feinen Wollteppichen, die Amala und die anderen Frauen in ihren Jurten woben. Er und die Männer der anderen Familien führten viele Yaks und andere Lasttiere in den Nordosten zu den großen Salzebenen und dann nach Süden zu den Pässen nach Nepal. Dann ritten sie hinab in das große Tal und tauschten in der geschäftigen Hauptstadt Kathmandu vor allem wertvolle Waren aus Indien ein, das noch weiter im Süden lag. Beladen mit Zucker und Reis, Safran, Sandelholz und tausend weiteren Gewürzen und Düften, mit kostbaren Seidenstoffen aus Varanasi vom Ufer des großen Ganges kehrte er dann wieder nach Hause zurück.
Vaters Familie hatte indisches Blut, sein fröhliches, pausbäckiges Gesicht zierten runde Augen und eine ausländische Nase, was ihm half, auch im Ausland Handel zu treiben. Früher waren er, sein Bruder und seine Schwester sogar gemeinsam mit meinem anderen Großvater bis nach Zentralindien gereist.
Vater war der jüngste der drei, Onkel Jampa, der bei uns wohnte, der mittlere. Die Schwester war viel älter, aber sie war verschwunden, und niemand sprach je über sie.
Meine Mutter, Amala, war eine schweigsame, schüchterne Frau. Ihr Gesicht musste nach Großvater kommen, denn es hatte nichts von Großmutter, sondern war schmal und spitz, mit weit offenen Eulenaugen und tiefschwarzem Haar. Ihr Leben war hart, weil mein Vater so oft unterwegs war, und sie die ganze Verantwortung trug. Abgesehen von einer Milchmagd namens Bukla und einigen Feldarbeitern bei der Aussaat und der Ernte lehnte Amala jede Hilfe ab, die ihr von den Familien der Karawanenpartner meines Vaters angeboten wurde, deren Frauen und Kinder östlich von uns lagerten, wenn die Männer unterwegs waren. Deswegen hatten wir nur selten Besuch.
Amala verbrachte den ganzen Tag an ihren Teppichen, die sie auf einem Webstuhl auf der anderen Seite der Feuerstelle gegenüber von Großmutters kleinem Thron wob. Der Webstuhl stand dicht an der Jurtenwand und bestand aus einem mannshohen Holzgitter, das bis hinauf an die Dachstangen reichte. Wenn Vater mit einem Teppichauftrag mit besonders großen Maßen für ein nepalesisches Adelshaus oder einen Tempel nach Hause kam, errichtete Amala einen breiteren Webstuhl mit einem Balken, der vom oberen Ende der Wand bis zu einem der beiden dicken Wacholderstämme reichte, die auf beiden Seiten der Feuergrube als Stützen für Dachfenster und Dach dienten.
Amalas Teppiche waren berühmt für ihre erlesenen Muster. Sie waren detailreicher als die aller anderen Knüpfer in unserem Landesteil. Sie beherrschte nicht nur tibetische Schneelöwen und Bergszenen, sondern auch die komplexen Symbole aus China, die Wachssiegelkunst der Mongolenfürsten und die Gestalten der furchterregenden Dschungeltiere Indiens. Während ich meine Großmutter stundenlang auf der einen Seite des Familienfeuers ablenkte, arbeitete Amala auf der anderen Seite ergeben am Webstuhl und verband diese verschiedenen Welten in der neuen Welt, die auf ihrem Holzrahmen entstand. Jeden neuen Schussfaden schlug sie mit der schweren Weblade fest, in einem Rhythmus, der sich in mir festsetzte, ebenso wie die Geheimnisse der Muster, denn ich war ein neugieriges Mädchen: Ich sah aufmerksam zu und lernte sie alle.
Das Einzige, was Amala aus ihrer tagelangen Trance am Webstuhl herausreißen konnte, war mein Bruder Tenzing, wenn er alle ein bis zwei Stunden kam, um frischen tibetischen Tee für Onkel zu holen, der in seiner Jurte auf der anderen Seite der Lichtung unterrichtete. Dieser Tee, ein Grundnahrungsmittel in unserem Land, war eigentlich eher eine Suppe. Wir tranken 15 bis 20 Tassen davon am Tag, um genügend Energie in der großen Höhe und Schutz gegen die Kälte zu haben. Jeden Morgen und Nachmittag kochte Amala eine neue Ladung, indem sie die riesige Teekanne mit kochendem Wasser, gepressten Japak-Teeblättern aus China, Milch, Butter, Salz und etwas Natron oder Muskatnuss füllte. Dann legte sie den Deckel auf die Kanne, ein langes, schlankes Fass, wie ein nach oben gerichtetes Kanonenrohr aus schönem, blank geriebenen Hartholz, gefasst von verzierten Messingringen. Und schon hörte man den vertrauten Schub des Stampfers, stetig auf und ab durch den Tee, bis er zu der dicken, goldenen Brühe wurde, die für uns Heimat war.
Tenzing brachte Onkels kleine Kanne und füllte sie, während Amala ein...
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